Das Juli-Heft der Zeitschrift MERKUR ist erschienen und liegt in unserer Bibliothek auf.
Freitag, 29. Juni 2018
220. Geburtstag von Giacomo Leopardi
Giacomo Leopardi (* 29. Juni 1798 in Recanati; † 14. Juni 1837 in Neapel) war ein italienischer Dichter, Essayist und Philologe, dem neben Alessandro Manzoni eine entscheidende Rolle bei der Erneuerung der italienischen Literatursprache im 19. Jahrhundert zukam.
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Thema des jour fixe in der Bibliothek Gleichgewicht am Freitag, 29.6.2018
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Donnerstag, 28. Juni 2018
Italien im erstarkenden Faschismus
In der 3sat-Sendung Kulturzeit extra zum Thema Italien vom 27.6.2018 ist auch ein Interview des Philosophen Paolo Flores d'Arcais zu hören, das empfehlenswert ist:
Paolo Flores d’Arcais (* 11. Juli 1944 in Cervignano del Friuli) ist ein italienischer Philosoph und Journalist, Herausgeber des Magazins MicroMega. Er schreibt unter anderem in Zeitungen wie El País, La Repubblica, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Gazeta Wyborcza und gilt als „einer der bedeutendsten Theoretiker der gegenwärtigen italienischen Linken“.
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Paolo Flores d’Arcais (* 11. Juli 1944 in Cervignano del Friuli) ist ein italienischer Philosoph und Journalist, Herausgeber des Magazins MicroMega. Er schreibt unter anderem in Zeitungen wie El País, La Repubblica, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Gazeta Wyborcza und gilt als „einer der bedeutendsten Theoretiker der gegenwärtigen italienischen Linken“.
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Mittwoch, 27. Juni 2018
Lähmende Dekadenz
Warum nur berauscht sich halb Europa an Michel Houellebecqs «Unterwerfung»?
Der
Kontinent hat der Dekadenz nichts mehr entgegenzusetzen. Zu diesem
Schluss muss kommen, wer sieht, mit welcher Begeisterung das Publikum
auf die verschiedenen Houellebecq-Adaptionen reagiert. Gedanken zur
europäischen Selbstdemontage auf offener Bühne.
Ein bedenkenswerter Artikel des emeritierten Professors der Universität Tübingen, der sich auch nicht scheut Nietzsche zu zitieren, obwohl er annehmen muss, dass fast niemand dessen Werk kennt, was die Freude über die Kontextherstellung, die der Literaturprofessor damit leistet, erhöht.
Hier der ganze Brief Nietzsches, aus dem Wertheimer zitierte:
Genug! Genug! Man wird, fürchte ich, zu deutlich nur unter meinen heitern Strichen die sinistre Wirklichkeit wiedererkannt haben — das Bild eines Verfalls der Kunst, eines Verfalls auch der Künstler. Der letztere, ein Charakter-Verfall, käme vielleicht mit dieser Formel zu einem vorläufigen Ausdruck: der Musiker wird jetzt zum Schauspieler, seine Kunst entwickelt sich immer mehr als ein Talent zu lügen. Ich werde eine Gelegenheit haben (in einem Capitel meines Hauptwerks, das den Titel führt „Zur Physiologie der Kunst“), des Näheren zu zeigen, wie diese Gesammtverwandlung der Kunst in’s Schauspielerische eben so bestimmt ein Ausdruck physiologischer Degenerescenz (genauer, eine Form des Hysterismus) ist, wie jede einzelne Verderbniss und Gebrechlichkeit der durch Wagner inaugurirten Kunst: zum Beispiel die Unruhe ihrer Optik, die dazu nöthigt, in jedem Augenblick die Stellung vor ihr zu wechseln. Man versteht Nichts von Wagner, so lange man in ihm nur ein Naturspiel, eine Willkür und Laune, eine Zufälligkeit sieht. Er war kein „lückenhaftes“, kein „verunglücktes“, kein „contradiktorisches“ Genie, wie man wohl gesagt hat. Wagner war etwas Vollkommnes, ein typischer décadent, bei dem jeder „freie Wille“ fehlt, jeder Zug Nothwendigkeit hat. Wenn irgend Etwas interessant ist an Wagner, so ist es die Logik, mit der ein physiologischer Missstand als Praktik und Prozedur, als Neuerung in den Principien, als Krisis des Geschmacks Schluss für Schluss, Schritt für Schritt macht.
Ich halte mich dies Mal nur bei der Frage des Stils auf. — Womit kennzeichnet sich jede litterarische décadence? Damit, dass das Leben nicht mehr im Ganzen wohnt. Das Wort wird souverain und springt aus dem Satz hinaus, der Satz greift über und verdunkelt den Sinn der Seite, die Seite gewinnt Leben auf Unkosten des Ganzen — das Ganze ist kein Ganzes mehr. Aber das ist das Gleichniss für jeden Stil der décadence: jedes Mal Anarchie der Atome, Disgregation des Willens, „Freiheit des Individuums“, moralisch geredet, — zu einer politischen Theorie erweitert „gleiche Rechte für Alle“. Das Leben, die gleiche Lebendigkeit, die Vibration und Exuberanz des Lebens in die kleinsten Gebilde zurückgedrängt, der Rest arm an Leben. Überall Lähmung, Mühsal, Erstarrung oder Feindschaft und Chaos: beides immer mehr in die Augen springend, in je höhere Formen der Organisation man aufsteigt. Das Ganze lebt überhaupt nicht mehr: es ist zusammengesetzt, gerechnet, künstlich, ein Artefakt. —
Bei Wagner steht im Anfang die Hallucination: nicht von Tönen, sondern von Gebärden. Zu ihnen sucht er erst die Ton-Semiotik. Will man ihn bewundern, so sehe man ihn hier an der Arbeit: wie er hier trennt, wie er kleine Einheiten gewinnt, wie er diese belebt, heraustreibt, sichtbar macht. Aber daran erschöpft sich seine Kraft: der Rest taugt Nichts. Wie armselig, wie verlegen, wie laienhaft ist seine Art zu „entwickeln“, sein Versuch, Das, was nicht auseinander gewachsen ist, wenigstens durcheinander zu stecken! Seine Manieren dabei erinnern an die auch sonst für Wagner’s Stil heranziehbaren frères de Goncourt: man hat eine Art Erbarmen mit soviel Nothstand. Dass Wagner seine Unfähigkeit zum organischen Gestalten in ein Princip verkleidet hat, dass er einen „dramatischen Stil“ statuirt, wo wir bloss sein Unvermögen zum Stil überhaupt statuiren, entspricht einer kühnen Gewohnheit, die Wagnern durch’s ganze Leben begleitet hat: er setzt ein Princip an, wo ihm ein Vermögen fehlt (— sehr verschieden hierin, anbei gesagt, vom alten Kant, der eine andre Kühnheit liebte: nämlich überall, wo ihm ein Princip fehlte, ein „Vermögen“ dafür im Menschen anzusetzen…). Nochmals gesagt: bewunderungswürdig, liebenswürdig ist Wagner nur in der Erfindung des Kleinsten, in der Ausdichtung des Détails, — man hat alles Recht auf seiner Seite, ihn hier als einen Meister ersten Ranges zu proklamiren, als unsern grössten Miniaturisten der Musik, der in den kleinsten Raum eine Unendlichkeit von Sinn und Süsse drängt. Sein Reichthum an Farben, an Halbschatten, an Heimlichkeiten absterbenden Lichts verwöhnt dergestalt, dass Einem hinterdrein fast alle andern Musiker zu robust vorkommen. — Will man mir glauben, so hat man den höchsten Begriff Wagner nicht aus dem zu entnehmen, was heute von ihm gefällt. Das ist zur Überredung von Massen erfunden, davor springt Unsereins wie vor einem allzufrechen Affresco zurück. Was geht uns die agaçante Brutalität der Tannhäuser-Ouvertüre an? Oder der Circus Walküre? Alles, was von Wagner’s Musik auch abseits vom Theater populär geworden ist, ist zweifelhaften Geschmacks und verdirbt den Geschmack. Der Tannhäuser-Marsch scheint mir der Biedermännerei verdächtig; die Ouvertüre zum fliegenden Holländer ist ein Lärm um Nichts; das Lohengrin-Vorspiel gab das erste, nur zu verfängliche, nur zu gut gerathene Beispiel dafür, wie man auch mit Musik hypnotisirt (— ich mag alle Musik nicht, deren Ehrgeiz nicht weiter geht als die Nerven zu überreden). Aber vom Magnétiseur und Affresco-Maler Wagner abgesehn giebt es noch einen Wagner, der kleine Kostbarkeiten bei Seite legt: unsern grössten Melancholiker der Musik, voll von Blicken, Zärtlichkeiten und Trostworten, die ihm Keiner vorweggenommen hat, den Meister in Tönen eines schwermüthigen und schläfrigen Glücks… Ein Lexikon der intimsten Worte Wagner’s, lauter kurze Sachen von fünf bis fünfzehn Takten, lauter Musik, die Niemand kennt… Wagner hatte die Tugend der décadents, das Mitleiden — — —
(eKGWB/WA-7 — Der Fall Wagner: Turiner Brief vom Mai 1888, §
7. Erste Veröff. 22/09/1888. -
Übrigens, wer in Nietzsche Source [nietzschesource.org] nach "literarischer Dekadenz" sucht, wird nichts finden, weil die Texte der alten Schreibweise folgen. Beachtet man die, wird man fündig, falls man die Stelle nicht schon kennt.)
Dienstag, 26. Juni 2018
100. Geburtstag von Peter Rosegger
Peter Rosegger (eigentlich Roßegger; * 31. Juli 1843 in Alpl, Steiermark, Kaisertum Österreich; † 26. Juni 1918 in Krieglach, Österreich-Ungarn) war ein österreichischer Schriftsteller und Poet. Die Schreibweise seines Namens Roßegger änderte er in Rosegger, als seine ersten Veröffentlichungen erschienen, da es in seiner Heimatgegend fünf Peter Roßegger gab, von denen einige nicht mit ihm verwandt waren und mit denen er nicht verwechselt werden wollte. Bis etwa 1893 veröffentlichte er unter dem Namen P. K. Rosegger, erst seither scheint er den Rufnamen Peter vorgezogen zu haben. Einmal verwendete er auch das Pseudonym Hans Malser
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Montag, 25. Juni 2018
Grillparzer und die ideale Welt
Ausgrabung aus den Tagebüchern
von Louis Christian Wolff (2004):
Grillparzer
Beim
Durchschauen einiger älterer Zeitschriftenjahrgänge klaube ich eine Ausgabe von
„Literatur und Kritik“ aus dem Jahre 1991 hervor und lese wieder den Beitrag
„Grillparzer und der Krieg“. [1]
Ganz
anders als Hans Weigel, noch viel positiver als Ernst Fischer [2]
wird hier Grillparzers Leistung hervorgehoben:
Die Bedeutung von Grillparzers Werk liegt
in einer bis dahin nicht erreichten ästhetischen Differenzierung der
dramatisch-theatralischen Sprache, in der Schaffung eines vielstimmigen
Mediums, das die vielen widersprüchlichen Aspekte einer verworrenen
Kriegskultur in Szene setzen sollte. Es gibt vor Grillparzer keine
vergleichbare literarische Erkundung des kriegerischen Ausnahmezustandes und
keine vergleichbar illusionslose Sicht des dauernd herrschenden Kriegs. [3]
Starke
Worte. Mir fallen etliche Werke literarischer Erkundung des Krieges ein. Der
Autor rettet seine Behauptung durch seine Wertung „vergleichbar“. Nach seiner
subjektiven Ansicht mag es nichts Vergleichbares gegeben haben. Doch da bin ich
anderer Ansicht. Wie sahen das Fischer und Weigel?
Höller
sieht in der Dichtung Grillparzers nicht nur eine Antwort, sondern eine
Behandlung der brennenden politischen Probleme des „neuen Fortschritts“. Das
dramatische Werk als Austragungsort aufgeklärter Aktivität.
Doch
Grillparzer sah, das hat nicht nur Ernst Fischer gut herausgeschält, ähnlich
wie Kleist, sich einer Dichtung verschrieben, die eben nicht den Alltag
widerspiegelt, die nicht an die „Realität“ gebunden war; Dichtung musste mehr
sein: eine Überhöhung der Realität (fast möchte ich sagen: Surrealität). Darin
blieb er Romantiker, obwohl nicht der romantischen Schule zugehörig. Dazu Ernst
Fischer:
Der romantische Protest gegen die
kapitalistische Entwicklung war für Grillparzer zugleich Abwehr gegen die
Bedrohung des österreichischen Staatsgefüges durch eben diese Entwicklung.
Grillparzer war keineswegs der „Reaktionär“, als den man ihn mitunter angeklagt
hat.
Er sah die Fäulnis des Systems, er machte
sich über Franz I., über Metternich und all ihre Kreaturen nicht die geringsten
Illusionen, aber er suchte vergeblich nach ihren Gegenspielern, die fähig
wären, Österreich zu erneuern“.[4]
Grillparzer
war erschrocken, besorgt, gequält. Aber er schreckte vor aller Tat zurück, er
hatte Angst vor Konsequenzen, fürchtete Veränderung. Das Proletariat war ihm
nicht nur fremd, sondern widerlich. Trotz aller von Höller so hervorgehobener
Kriegskritik fand sich Grillparzer in Wahrheit für den Habsburgerstaat, damit
für dessen Kriege. Sein glühender Patriotismus erleichterte ihm mit seiner
tiefen Angst vor Veränderung oder Revolution die Parteinahme für den Monarchen
und seine Feldherrn. Und das spiegelt sich als unvergleichbare literarische
Erkundung des Kriegs im Werk? Was für eine Lesart hat Höller angewandt, um die
anderen, negativen Aspekte auszublenden?
Grillparzer
klagt an, geißelt, verurteilt, zeichnet eindringlich das grausige, schlimme
Bild des Gewaltmenschen, des Herrschers, Kriegers, Potentaten. Der Held wird
angegriffen von ihm. Das ist neu. Das ist gewagt. Aber was weiter? Wohin führt
ihn sein Schrecken, seine Abneigung, seine Klarsicht? Er hat nicht den Mut und
nicht die Kraft, seine persönlichen Sehnsüchte mit seinen Visionen
zukunftsorientiert zu verbinden. Daran hindert ihn seine Angst. Also schaut er
zurück, pflegt das traute Bild der Vergangenheit, des „Naturmenschen“, den er
dem entfremdeten Produkt des Fortschritts, dem vernünftigen
Zivilisationsmenschen, der zugleich der Gewaltmensch ist, entgegenstellt. Doch
mit der Vergangenheit alleine lässt sich keine Gegenwart und erst recht keine
Zukunft meistern.
Grillparzer
zieht sich in seine Dichtung zurück. Sie wird sein Haus, in welchem er die
Läden schließt, die Tür verriegelt und träumt, soweit er das vermag, und
langsam verstummt („Der Traum, ein Leben“ ist sein Anti-Faust). Bitternis.
Nochmals
Ernst Fischer, der zusammenfasst:
Grillparzer stand im Zwielicht zwischen
Gestern und Morgen. Er träumte zurück, ahnte voraus, empfand die Problematik
der Gegenwart, den inneren Widerspruch des kapitalistischen Zeitalters. In
seinem Fühlen human, in seiner Gesinnung konservativ, war er ein einsamer
Dichter des Übergangs von Klassizismus und Romantik zu neuen Bereichen der
Kunst, zu neuen Methoden dramatischer Gestaltung. Welch ein Zwiespalt! Die
demokratische Revolution des Jahres 1848, die er ablehnte, steigerte seine Kraft
zur Vollendung von Meisterwerken. Als Habsburg siegte, begann der Dichter
Habsburg zu verstummen.[5]
Die
positive Einschätzung von Höller wird in vielem vom Marxisten Fischer geteilt.
Doch Akzente sind verschieden gesetzt bzw. Einschränkungen und Relativierungen
angebracht, die man bei Höller vermisst. Höllers Betonung des positiv
Einmaligen wirkt übertrieben und konstruiert.
Hans
Weigel [6]
bemerkt zur Arbeit Grillparzers:
Aus Grillparzers Dramen spricht nicht
Franz Grillparzer, sondern eine von ihm zwischen sich und den Stoff geschobene
Gestalt, im Drama ist seine natur nicht unmittelbar ausgedrückt, sondern
widerruflich, distanziert, gedämpft, mit allen Vorbehalten; sein Drama, das ihm
notorische Ausdrucksform war, kann keinen derart echten, erlebten Ausdruck
verwirklichen wie das Gedicht des Nichtlyrikers „Incubus“(.)
Weigels
sarkastischer Seitenhieb auf Grillparzer mag die Lobpreisungen von Höller etwas
konterkarieren:
Im Zentrum des Ottokar-Dramas steht das
fatale, arios eingelegte Preislied auf Österreich, bei dem traditionell das
österreichische Publikum sich in eine Schulklasse rückbildet und folgsam
Beifall klatscht. Und der Satz, der den Applaus stets auslöst, ist auch aus der
großen Grillparzerschen Zurücknahme gewachsen und nicht einmal grammatikalisch
zu Ende gedacht:
`s ist möglich, dass in Sachsen und beim Rhein
Es Leute gibt, die mehr in Büchern lesen:
Allein was nottut und was Gott gefallt,
Der klare Blick, der offne, richt’ge Sinn ...
Nun, was ist’s mit dem?
Da tritt der Österreicher hin vor jeden ...
Und handelt? Sagt wenigstens seine
Meinung, zieht aus klarem Blick und offenem richtigem Sinn die Konsequenzen?
Nein, die Aktion besteht nur darin, dass der Österreicher hintritt vor jeden
...
Denkt sich seinen Teil und lässt die andern reden!
Der Österreicher Grillparzer zieht
grammatikalisch, persönlich und künstlerisch nicht die Konsequenz aus der
Prämisse „Allein was nottut und was Gott gefällt, der klare Blick, der offne,
richt’ge Sinn ¾“, er lässt es offen, ob er ihn hat oder
nicht, den Blick, den Sinn, das, was nottut, das, was Gott gefällt, er sagt
auch nicht, was er mit Blick und Sinn anfängt ¾ der große, tiefe, selbstmörderische grillparzersche
Bruch klafft hier, gerade hier, zwischen „Sinn“ und „da!“ ¾ der Österreicher Grillparzer tritt hin vor jeden
Menschen, jeden Stoff, jeden Anspruch, jeden Konflikt, jeden Reiz von außen,
erhandelt nicht, er redet nicht einmal, er lässt die andern reden, er denkt
sich sein Teil. Er resigniert. [7]
Weigel hat
noch viel anzumerken zu Grillparzers Schreibweise, zu seiner Person, seinem
Werk. Doch im vorigen Absatz zeigt sich eine Einschätzung, die der, die sich
aus Höllers Loblied ergibt, widerspricht. Die historische profunde Sicht Ernst
Fischers wird von der zynisch-sarkastischen Weigels eher und plausibler
ergänzt, als durch Höllers modern anmutender Argumentation.
[1] Hans Höller: Grillparzer
und der Krieg. In: Literatur und Kritik 251/252, März 1991:47-53
[2] Siehe Eintrag 11.02.04
[3] Höller, a.a.O., S.49
[4] Ernst Fischer, a.a.O. S.
14 (siehe Fußnote 87)
[5] Ernst Fischer, a.a.O. S.
56
[6] Siehe Eintrag vom 11.03.04
[7] Hans Weigel, a.a.O. S. 112
(siehe Fussnote 86)
Sonntag, 24. Juni 2018
Trash Literature
Abfallliteratur
Haimo L. Handl
In meiner Jugend sprach man nicht von Trash-Literatur,
sondern von Schund. Und, naturgemäß, was die Schulbehörden, die Lehrer, die
Pfaffen und anderen Vorgesetzten verurteilten, verteufelten, verfolgten, weckte
um so größeres Interesse. Irgendwie wurde die Schundliteratur dadurch
unverdient aufgewertet. Ich nahm mir also auch so billige Krimis und
Liebesromane vor und war nach kurzem Lesen erstaunt, dass es sich wirklich um
Dreck, billigste Pseudoliteratur handelte: die überaus stereotypen
Handlungsmuster, armselig, ohne Tiefgang und Überraschungsmomente, platt
gezeichnet, damit sogar die Dümmsten noch dran bleiben, die einfache Sprache,
ohne jede Autoreneigenheit, simpel und austauschbar wie nur was, waren mir damals
schon aufgefallen und haben mich gelangweilt. Da waren die Sprechblaseninhalte
von Micky Mouse oder Dagobert Duck und Daniel Düsentrieb sogar besser; ich
konnte mich für beide nicht erwärmen. Obwohl viele Märchen, die ich schon früh
verschlang, auch in einfacher Sprache erzählt und aufgeschrieben waren,
verströmten sie einen Zauber, den die Heftchengeschichten nie und nimmer
erreichten. Die Märchen waren tiefgründig, die Heftchen oberflächlich (später
wusste ich sie als simpelste ungeistige Wichsvorlagen zu kennzeichnen).
Ich hatte früh zu lesen gelernt und fand interessanten Stoff
im heimischen Bücherregal. Was dort nicht war, bot die Bücherei. Zu Hause gab
es kein explizites Verbot der Schundliteratur, aber jedem Jugendlichen waren
die Ohren voll mit den dauernden Ermahnungen der Lehrer und Pfarrer. So kurz
nach dem Krieg half wahrscheinlich vielen von ihnen die Insistenz auf
anerkannte, approbierte Sauberkeit zur Werteverteidigung und zur Neuetablierung
von so etwas wie Kultur, die durch die Barbarei der Nazis und ihrer Mitläufer
bzw. der braven Bevölkerung zu dramatisch fast alles zerstört und vernichtet
hatte. Die Tragweite der Untaten und ihr kulturelles Nachwirken erfasst ich
erst später. Trotzdem, damals übertrug ich das Urteil „Schundliteratur“ auf die
billigen Massenprodukte, die mich anödeten. Vielleicht waren sie für die
vielen Ungebildeten geschrieben, so, wie die massenhaften Fotoromane die
„Comics“ für die schieren Analphabeten waren. Dass die Werthintergründe für die
Kampagnen gegen den Schund andere waren als mein einfaches Reagieren auf
Sprachdürftigkeit, beschäftigte mich damals nicht.
Nach und nach las ich neben den typischen Jugendliteraturen,
also Werken, von denen allgemein angenommen wurde, dass sie die Jungen
interessieren und ihnen positive Werte vermitteln, wie die Geschichten und
Romane von Mark Twain, Daniel Defoe, die Bildergeschichten von Wilhelm Busch
und Heinrich Hoffmann, die damals noch keine Trigger Warnings
hinsichtlich politischer Unkorrektheit aufwiesen, sogar ein typisches
Mädchenbuch wie „Trotzkopf“ von Emmy von Rhoden war dabei, Bücher von Astrid
Lindgren oder Selma Lagerlöf, deren Geschichte „Die wunderbare Reise des
kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen“ mich ungemein beeindruckte und
später zum dänischen Dichter Jens Peter Jacobsen führte, von dem ich heute noch
einige Gedichte auswendig kenne und mich sogar an Textpassagen einiger seiner
Novellen erinnere. Zu Hause waren auch Bücher von Knut Hamsun im Regal, die ich
aber nach kurzem Anlesen nicht weiter beachtete. Ich probierte Peter Rosegger,
den ich aber sofort zurücklegte, weil mir die Waldheimatkultur zu fremd und
wohl auch zu verlogen erschien. Etwas besser erging es Ludwig Ganghofer, dessen
Schwulst im christlichen Heimatgedusel mich dann aber von seinen ach so schönen
Geschichten (damals wusste ich noch nichts von seiner kriegsbegeisterten
Haltung) entfremdete. Fast alle ländlichen Autoren meiner Heimat lagen mir
fern, konnten weder meine Neugierde noch mein Hunger nach Literatur stillen
(von Franz Michael Felder las ich damals leider nichts; er wäre vielleicht eine
Ausnahme geworden).
Aufgewachsen in einer Kleinstadt war mir „das Land“ düster,
zurückgeblieben, feindselig. Die Schulfreunde und deren Familien, die ich
besuchte, pflegten eine Kultur, die meist nicht meiner entsprach. Ich erinnere mich,
wie der Vater der Frau, die ich leider sehr früh mit 20 Jahren heiratete, sich
heftig dagegen wandte, dass ich Nietzsches Werke, das Teufelszeug des
Antichristen, daheim hatte. Nach und nach färbte die dumpfe, engstirnige,
bornierte Landkultur mit ihrem Gemisch von Weihrauch, Prozessionen und
schwätzenden Kirchgängern in mir das Schreckbild einer Unkultur, die sie ja in
vielen Aspekten auch war.
Über das Theater kam ich zur dramatischen Literatur und über
diese zur Literatur der Nachkriegszeit, insbesondere aus England und
Frankreich. Nur langsam öffnete sich die deutsche Literatur für
Modernisierungen und Reinigungen nach dem Blutbad der Nazibarbarei. Es war ein
Glücksfall, da die Bücher aus Frankreich und England bzw. den USA übersetzt
bekommen zu können (damals konnte ich noch kein Englisch). Das war neuer Wind,
das war neue Sprache, das schien mir qualitativ hochwertig. Kein brauner Sumpf,
kein Nachwehen aus dunklen Wäldern, sondern Urbanität, wenn auch mit Problemen.
Aber Paradiese suchte ich nicht, diese Zeit war mit den Märchen vorüber.
Da waren also D. H. Lawrence, Virginia Woolf, Elizabeth
Bowen oder, als Olympier, James Joyce, dessen Portrait mich an meine kurze
Internatszeit in Tirol bei den Serviten erinnerte, die ich noch schrecklicher
in Erinnerung hatte, als er erzählte. Da waren auch Graham Greene oder Aldous
Huxley und George Orwell oder Somerset Maugham und Katherine Mansfield. Das
Theater hatte mich ganz gefangen genommen und Autoren wie Samuel Beckett, John
Osborne, Harold Pinter, Tom Stoppard einerseits oder Eugène Ionesco, Arthur
Adamov, Alfred Jarry, Jean Cocteau, Antonin Artaud (damals von mir extrem
überschätzt, wie ich heute meine), Jean Tardieu oder Jean Genet. Das mischte
sich mit den Existenzialisten, vor allem Jean Paul Sartre und seiner Partnerin
Simone de Beauvoir, Albert Camus, Boris Vian, und dann auch anderen Autoren aus
Spanien, Italien und sogar Deutschland oder Polen, wie z.B. Fernando Arrabal,
Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt, Wolfgang Hildesheimer, Franz Xaver Kroetz.
Als theoretische Begleitung half Martin Esslin. Über die deutsche Zeitschrift
„Theater heute“ hatte ich auch Sławomir Mrożek oder Jerzy Grotowski kennengelernt. Der Romanist Hugo Friedrich erklärte in seinem
Taschenbuch von Rowohlts deutscher Enzyklopädie die neue Lyrik und vermittelt
mir die Welt französischer und italienischer Poetik; sein umfangreiche Buch „Epochen
der italienischen Lyrik“ steht heute noch, neben anderen Büchern von ihm, in
meiner Bibliothek.
Wenn ich zurückschaue bemerke ich, dass ich kein Fan von
Karl May war, wenig von Edgar Allen Poe las, weniges von Gertrude Stein, mehr
von Mary McCarthy, Henry Miller, einiges von Philip Roth, John Updike, Kurt
Vonnegut, Thomas Pynchon, Sylvia Plath, William S. Burroughs, Hubert Selby,
Norman Mailer, die Autoren der Beat Generation, klar doch (Kerouac,
Ferlinghetti, Ginsberg, Orlando u.a.). Die meisten konnten schreiben und
beherrschten ihre literarische Sprache. Ab den Siebzigerjahren las ich die
Amerikaner und Engländer im Original; endlich konnte ich die mitreißende
Schönheit der Gesänge von Ezra Pound auf mich wirken lassen, T. S. Eliots
Sprachmelodie wertschätzen oder den Witz in den kargen aber kunstvollen
Dialogen von Becketts Figuren genießen.
Über die Zeit entwickelten sich meine Ansprüche und
Forderungen an Sprachvermögen, Sprachempfindsamkeit und –sensibilität, die ich
durch keine pseudoegalitären Einwürfe mindern wollte, die mir auch unter dem
Vorwurf des Elitarismus erstrebenswert
waren und blieben. So konnte ich einerseits das hochentwickelte Deutsch eines
Schopenhauer oder Nietzsche schätzen, andererseits die Literarität von Freud
anerkennen, wogegen die fachlich vielleicht geschulten, sprachlich aber
holprigen Autoren einfach abfielen. Kultivierte und sprachkundige Autoren wie
George Steiner oder Theodor Adorno bzw. Paul Valéry oder Karl Kraus und,
später, weil in meiner Jugend ich zu unkritisch den vermeintlich kritischen
Vorgaben der 68er folgte und daher Joseph Roth, Hugo von Hofmannsthal oder auch
Ernst Jünger und Rudolf Borchardt links liegen ließ, eben besagter Rudolf
Borchardt, begeisterten mich und vermittelten tiefe Eindrücke, machten
Denkprozesse klarer, schälten verborgene Schönheiten heraus, die mich wiederum
befähigten, einige Klassiker „neu“ oder „frisch“ zu lesen, mich ihrer
Sprachwelt anzunähern, seien es die Welten der Weimarer Klassik von Goethe oder
die von Hölderlin. Ich lernte zu unterscheiden zwischen Werk und Person,
zwischen Biographie, Lebenswelt und Sprache. Da öffneten sich Werke wie die
Göttliche Komödie von Dante, obwohl mir die Figur des Autors nicht sympathisch
war, was auch auf Hölderlin zutrifft. Aber ob einer oder eine ein Ekel war, ein
arroganter Schnösel, wiegt weniger als das Produkt seiner oder ihrer Sprachmeisterschaft.
Borchardt muss furchtbar anstrengend gewesen sein, Benn ein erzkonservativer
Typ mit Nazischlagseiten und völkischem Gedankengut; aber viele seiner Gedichte
gehören zum Besten deutscher Lyrik, die ich nicht missen möchte. Hölderlin hat
nationalistisch als „deutscher Jakobiner“ sich geäußert. Aber das unterminiert
nicht seine einsame Höhe, die er als Dichter erklomm. Und ob Goethe ein
systemaffirmierender Geist war, wiegt nicht im Vergleich zu seinem Werk, seiner
Weltäußerung.
Je höher die Qualität, desto mehr Toleranz gegenüber der
Person des Autors, desto breiter und tiefer die Freude, die Wertschätzung, weil
er in seinem Werk hinsichtlich der Qualität intolerant, unbeugsam war. Es sind
die Bequemen, Bornierten, Dummen, oberflächlich Geschäftigen, die mich nerven
und enttäuschen und ärgern. Das Hohle, Stereotype, aus Unvermögen Beschränkte
stört und widert mich an. Ich kann an den Schreien, dem Geblöke, den
Sklavensprachen keinen Gefallen finden. Das ist und bleibt Schund und Trash und
Abfall.
„Ist das Literatur – oder kann das weg?“ fragt in typischem
Kanakendeutsch die aus Leipzig (Jahrgang 1966) stammende Autorin Susann Klossek
in einem Artikel, der kürzlich im Literarischen Monat (Schweiz) Ausgabe 32,
erschien. Gleich nach dem einladenden Titel lautet der erste Satz ganz
programmatisch und symptomatisch für die herrschende Unbildung:
„Wer den Trash nicht zu schätzen
weiss, ist die anspruchsvolle Literatur nicht wert. Wer hat das gesagt? Ich.
Trash hat ebenso eine Daseinsberechtigung wie jede andere Art von Literatur, ob
sie sich nun Erotica oder Pulp nennt, Pop oder Beat – oder ihr hochkulturelle
Weihen zuteilwerden, woraufhin sie dann unter «Kunst» firmiert – eben weil es
jemand als solche bezeichnet hat.“
Zuerst einmal, Trash nicht zu mögen heißt nicht, ihm die
Daseinsberechtigung abzusprechen. Der lieben Leipzigerin geht es ja darum, dass
man den Trash schätzen müsse, damit man die anspruchsvolle Literatur hochwerten
könne. Das ist so unlogisch oder blöd wie jene Vulgärküchenpsychologie die
meint, man müsse Gewalttäter sein, foltern und morden, um das Gegenteil, den „Gesunden“
oder „Normalen“ richtig schätzen zu
können. Was aber, wenn es beim Groben, Blöden, Ungestümen bleibt? Frau Klossek
tut so, als ob die Elite das Wort führe und die armen, einfachen Menschen ihres
Rechtes beraubt werden, das Dumme, falsch Einfache, Abfällige, Abfallartige,
eben den Schund und den Trash, zu konsumieren. Das Gegenteil ist der Fall. Und
es ist nicht neu. Vor 201 Jahren schrieb der italienische Dichter Giacomo
Leopardi aus seiner Geburtsstadt
Recanati an Pietro Giordani (30.4.1817):
„Hier, mein liebenswürdigster
Herr, ist alles Tod, Mangel an gesundem Menschenvertand, Dummheit (…) Die
Vokabel ‚Literatur‘ hat man nie gehört. Die Namen Parini, Alfieri, Monti, Tasso
und Ariost muß man kommentieren. Es gibt keinen Menschen, der sich bemühte,
etwas zu werden, keinen, dem die Bezeichnung ‚Ignorant‘ merkwürdig schiene.“
Seit dem 2. Weltkrieg hat sich die Kultur- und
Bewusstseinsindustrie besonders auf die Massenkonsumenten und ihre niederen
Geschmäcker ausgerichtet; das Ungebildete, schier Ungeformte breitet sich wie
eine Pandemie aus und erlaubt es den davon nicht Infizierten kaum noch Nahrung
zu finden. Denn, so Frau Klossek, das ehemalige DDR-Kind:
„Aber was gibt es Schöneres, als
Geist und Verstand abzuschalten und nach ein, zwei Gin Tonics in einen
Groschenroman einzutauchen? Schlecht geschrieben von einem Arzt, dem irgendwann
die Patienten abhandengekommen sind.“
Ja, die einfachen Gemüter. So simpel sind sie
zufriedenzustellen. Die Sehnsucht nach Abschalten, nach Zerstreuung war und ist
nicht nur im ausbeuterischen Westen gegeben, sie grassierte auch im
Realsozialismus. O Jammer, o Schreck. Es herrscht das Programm GEIST UND
VERSTAND abschalten. Trash culture! Die passt in unsere Wellness- und
Spaßkultur. Trash-Pornos, Trash-Filme, Trash- oder Reality-TV (wie
eindrucksvoll hier reality mit trash gekoppelt wird!) Trash-Music, Trash-Art,
Trash-Lit.
Nur, der essentielle Unterschied zum wirklichen Trash, zum
Abfall, ist, dass der inszenierte Trash Wert hat und teures Geld kostet. Die
zerschliessenen Designerjeans sind nicht armselig abgetragen, sie sind
kunstvolle Designprodukte der Als-Ob-Welt. Trash-Art von anerkannten Künstlern ist am Markt zu
Hochpreisen gehandelt und in X Auktionen und Museumsausstellungen als Trash
besonderer Art geadelt. Trash ist nicht gleich Abfall sondern mehr genialer
Einfall für Profite. Der artige Trash erscheint wie der auf den ersten Blick
als kultiviert Erscheinende, der erst bei näherem Blick die Täuschung, den
Betrug offenbart. Vordieser Folie ist der gewöhnliche Trash der Fernseh-Serien
und Schundliteratur zu kontrastieren. Die Unterschichtler nehmen den Trash wie
ihn Frau Klossek als Glücksbefriedigung beschrieben hat im Akt der Abschaltung.
Trash ist die billige Droge der Dummen.
Es gibt zudem Zwischenstufen. Auch sonst gebildete Kritiker
und Vermittler entblöden sich nicht, hie und da nicht nur mit Stilblüten
peinlich aufzufallen, sondern richtig dummes Zeug zu schwätzen, vielleicht,
weil sie zu sehr die Maximen des Aufmerksamkeitsmanagement beachten. So las ich
vom deutschen Kritiker und Kulturvermittler Denis Scheck in der WELT vom
20.6.2018 die bemerkenswerte Aussage „Diese Autorin nicht zu lesen, ist reiner
Masochismus“. Bumm! Ätsch, Aua! Früher, als die Trash-Lit noch Schundliteratur
genannt wurde, meinte man unter Anderem: „Was man nicht weiß, macht einen nicht
heiß.“ Nix da. Scheck kommt und sagt das Gegenteil. Masochismus nicht als
transitive Aktivität. Nein, schon das Nichtwissen, die Abstinenz, ganz zu
schweigen von der intendierten Ablehnung, wird als Masochismus gebrandmarkt.
Herr Scheck weiß, er und wir leben als Perverse in einer widernatürlichen
Gesellschaft, wovon uns sein Rat, wie der des früheren Oberlehrers, zu retten
vermag: folge mir, lies, und komme über den Masochismus hinaus. Vielleicht
sollte das auch Frau Klossek bedenken, wenn sie so unvorsichtig den niederen
Freuden frönt, einfach Geist und Verstand bei Alkohol abzuschalten? Herr Scheck
wird noch deutlicher:
„Dorothy L. Sayers zu vergessen,
grenzt nicht bloß an kulturelle Barbarei. Dorothy L. Sayers zu vergessen, ist
literarischer Masochismus, denn man betrügt sich um eine der vergnüglichsten
Lektüreerfahrungen überhaupt.“
Nach der Nazibarbarei und der darauffolgenden der hinkenden
Vergangenheitsbewältigung jetzt die fortauernde des literarischen Masochismus,
allein, weil die Ignoranz einen ums Vergnügen bringt. Klingt wie von einem obsessiven Sektenprediger, der die anderen,
die Ungeweihten, Fernen, Ungläubigen unbedingt missionieren, überzeugen will.
Allerdings verstehe ich die Logik seiner Aussage nicht ganz. Er redet von
„vergessen“. Aber vergessen kann man nur, was man einmal wusste. Auf die
Autorin und ihre Krimis übertragen hieße das, dass sie ehedem gelesen worden
waren, dann aber vergessen wurden, was einen Skandal darstellt, einen Akt des
Masochismus in der Verweigerung möglicher Vergnügungserfahrungen.
Mir drängt sich ein Gedanke von Paul Valéry auf:
"Welche Schande, zu
schreiben, wenn man nicht weiß, was Sprache, Wort, Metapher sind, Gedankenübergänge
und Wechsel im Ton; wenn man die Struktur der zeitlichen Folge eines Werks und
die Voraussetzungen für seinen Schluß nicht begreift, kaum das Warum kennt und
schon gar nicht das Wie! Die Scham darüber, eine Pythia zu sein..."
Das kennt der Literaturkenner sicherlich. Aber er scheint es
in seinem Masochismusgefummel vergessen zu haben. Kennt Frau Klossek diesen
Satz, diesen Autor? Sie hat zwar nicht Romanistik studiert, aber Germanistik
und Slawistik. Andererseits: Literatur auch gehobener Schriftsteller ist doch
nicht nur Professionellen vorbehalten! Valéry hat auch geschrieben, was wie ein
Programm klingt:
"Mit Sorgfalt zu schreiben
und zu denken ist eine Anstrengung gegen die Durchschnittssprache."
Was, wenn aber der Durchschnitt oder das Untere das Ziel
ist, wenn Abschalten von Geist und Verstand die angenehmste Kulturübung bilden?
Dann haben Autoren wie Valéry eben nichts mehr zu sagen. Auch andere, die als
ELITÄR verschrien sind, haben zu schweigen. Für das Schweigen im Walde und in den
Städten bedarf es der Trashigen. Alle anderen stören nur. Wie Susann Klossek im
Schlusssatz klar befindet:
„So oder so: die zwei
elementarsten Fragen zur Schundliteratur lassen sich immerhin recht eindeutig
beantworten: Wer druckt das Zeug? Und wer wird es lesen? Millionen, liebe
Literaturfreunde, Millionen!!!“
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