Montag, 25. Juni 2018

Grillparzer und die ideale Welt


Ausgrabung aus den Tagebüchern von Louis Christian Wolff (2004): 

Grillparzer

Beim Durchschauen einiger älterer Zeitschriftenjahrgänge klaube ich eine Ausgabe von „Literatur und Kritik“ aus dem Jahre 1991 hervor und lese wieder den Beitrag „Grillparzer und der Krieg“. [1]
Ganz anders als Hans Weigel, noch viel positiver als Ernst Fischer [2] wird hier Grillparzers Leistung hervorgehoben:

Die Bedeutung von Grillparzers Werk liegt in einer bis dahin nicht erreichten ästhetischen Differenzierung der dramatisch-theatralischen Sprache, in der Schaffung eines vielstimmigen Mediums, das die vielen widersprüchlichen Aspekte einer verworrenen Kriegskultur in Szene setzen sollte. Es gibt vor Grillparzer keine vergleichbare literarische Erkundung des kriegerischen Ausnahmezustandes und keine vergleichbar illusionslose Sicht des dauernd herrschenden Kriegs. [3]

Starke Worte. Mir fallen etliche Werke literarischer Erkundung des Krieges ein. Der Autor rettet seine Behauptung durch seine Wertung „vergleichbar“. Nach seiner subjektiven Ansicht mag es nichts Vergleichbares gegeben haben. Doch da bin ich anderer Ansicht. Wie sahen das Fischer und Weigel?

Höller sieht in der Dichtung Grillparzers nicht nur eine Antwort, sondern eine Behandlung der brennenden politischen Probleme des „neuen Fortschritts“. Das dramatische Werk als Austragungsort aufgeklärter Aktivität.

Doch Grillparzer sah, das hat nicht nur Ernst Fischer gut herausgeschält, ähnlich wie Kleist, sich einer Dichtung verschrieben, die eben nicht den Alltag widerspiegelt, die nicht an die „Realität“ gebunden war; Dichtung musste mehr sein: eine Überhöhung der Realität (fast möchte ich sagen: Surrealität). Darin blieb er Romantiker, obwohl nicht der romantischen Schule zugehörig. Dazu Ernst Fischer:

Der romantische Protest gegen die kapitalistische Entwicklung war für Grillparzer zugleich Abwehr gegen die Bedrohung des österreichischen Staatsgefüges durch eben diese Entwicklung. Grillparzer war keineswegs der „Reaktionär“, als den man ihn mitunter angeklagt hat.
Er sah die Fäulnis des Systems, er machte sich über Franz I., über Metternich und all ihre Kreaturen nicht die geringsten Illusionen, aber er suchte vergeblich nach ihren Gegenspielern, die fähig wären, Österreich zu erneuern“.[4]

Grillparzer war erschrocken, besorgt, gequält. Aber er schreckte vor aller Tat zurück, er hatte Angst vor Konsequenzen, fürchtete Veränderung. Das Proletariat war ihm nicht nur fremd, sondern widerlich. Trotz aller von Höller so hervorgehobener Kriegskritik fand sich Grillparzer in Wahrheit für den Habsburgerstaat, damit für dessen Kriege. Sein glühender Patriotismus erleichterte ihm mit seiner tiefen Angst vor Veränderung oder Revolution die Parteinahme für den Monarchen und seine Feldherrn. Und das spiegelt sich als unvergleichbare literarische Erkundung des Kriegs im Werk? Was für eine Lesart hat Höller angewandt, um die anderen, negativen Aspekte auszublenden?

Grillparzer klagt an, geißelt, verurteilt, zeichnet eindringlich das grausige, schlimme Bild des Gewaltmenschen, des Herrschers, Kriegers, Potentaten. Der Held wird angegriffen von ihm. Das ist neu. Das ist gewagt. Aber was weiter? Wohin führt ihn sein Schrecken, seine Abneigung, seine Klarsicht? Er hat nicht den Mut und nicht die Kraft, seine persönlichen Sehnsüchte mit seinen Visionen zukunftsorientiert zu verbinden. Daran hindert ihn seine Angst. Also schaut er zurück, pflegt das traute Bild der Vergangenheit, des „Naturmenschen“, den er dem entfremdeten Produkt des Fortschritts, dem vernünftigen Zivilisationsmenschen, der zugleich der Gewaltmensch ist, entgegenstellt. Doch mit der Vergangenheit alleine lässt sich keine Gegenwart und erst recht keine Zukunft meistern.

Grillparzer zieht sich in seine Dichtung zurück. Sie wird sein Haus, in welchem er die Läden schließt, die Tür verriegelt und träumt, soweit er das vermag, und langsam verstummt („Der Traum, ein Leben“ ist sein Anti-Faust). Bitternis.

Nochmals Ernst Fischer, der zusammenfasst:

Grillparzer stand im Zwielicht zwischen Gestern und Morgen. Er träumte zurück, ahnte voraus, empfand die Problematik der Gegenwart, den inneren Widerspruch des kapitalistischen Zeitalters. In seinem Fühlen human, in seiner Gesinnung konservativ, war er ein einsamer Dichter des Übergangs von Klassizismus und Romantik zu neuen Bereichen der Kunst, zu neuen Methoden dramatischer Gestaltung. Welch ein Zwiespalt! Die demokratische Revolution des Jahres 1848, die er ablehnte, steigerte seine Kraft zur Vollendung von Meisterwerken. Als Habsburg siegte, begann der Dichter Habsburg zu verstummen.[5]

Die positive Einschätzung von Höller wird in vielem vom Marxisten Fischer geteilt. Doch Akzente sind verschieden gesetzt bzw. Einschränkungen und Relativierungen angebracht, die man bei Höller vermisst. Höllers Betonung des positiv Einmaligen wirkt übertrieben und konstruiert.

Hans Weigel [6] bemerkt zur Arbeit Grillparzers:

Aus Grillparzers Dramen spricht nicht Franz Grillparzer, sondern eine von ihm zwischen sich und den Stoff geschobene Gestalt, im Drama ist seine natur nicht unmittelbar ausgedrückt, sondern widerruflich, distanziert, gedämpft, mit allen Vorbehalten; sein Drama, das ihm notorische Ausdrucksform war, kann keinen derart echten, erlebten Ausdruck verwirklichen wie das Gedicht des Nichtlyrikers „Incubus“(.)

Weigels sarkastischer Seitenhieb auf Grillparzer mag die Lobpreisungen von Höller etwas konterkarieren:

Im Zentrum des Ottokar-Dramas steht das fatale, arios eingelegte Preislied auf Österreich, bei dem traditionell das österreichische Publikum sich in eine Schulklasse rückbildet und folgsam Beifall klatscht. Und der Satz, der den Applaus stets auslöst, ist auch aus der großen Grillparzerschen Zurücknahme gewachsen und nicht einmal grammatikalisch zu Ende gedacht:

`s ist möglich, dass in Sachsen und beim Rhein
Es Leute gibt, die mehr in Büchern lesen:
Allein was nottut und was Gott gefallt,
Der klare Blick, der offne, richt’ge Sinn ...

Nun, was ist’s mit dem?

Da tritt der Österreicher hin vor jeden ...

Und handelt? Sagt wenigstens seine Meinung, zieht aus klarem Blick und offenem richtigem Sinn die Konsequenzen? Nein, die Aktion besteht nur darin, dass der Österreicher hintritt vor jeden ...

Denkt sich seinen Teil und lässt die andern reden!

Der Österreicher Grillparzer zieht grammatikalisch, persönlich und künstlerisch nicht die Konsequenz aus der Prämisse „Allein was nottut und was Gott gefällt, der klare Blick, der offne, richt’ge Sinn ¾“, er lässt es offen, ob er ihn hat oder nicht, den Blick, den Sinn, das, was nottut, das, was Gott gefällt, er sagt auch nicht, was er mit Blick und Sinn anfängt ¾ der große, tiefe, selbstmörderische grillparzersche Bruch klafft hier, gerade hier, zwischen „Sinn“ und „da!“ ¾ der Österreicher Grillparzer tritt hin vor jeden Menschen, jeden Stoff, jeden Anspruch, jeden Konflikt, jeden Reiz von außen, erhandelt nicht, er redet nicht einmal, er lässt die andern reden, er denkt sich sein Teil. Er resigniert. [7]

Weigel hat noch viel anzumerken zu Grillparzers Schreibweise, zu seiner Person, seinem Werk. Doch im vorigen Absatz zeigt sich eine Einschätzung, die der, die sich aus Höllers Loblied ergibt, widerspricht. Die historische profunde Sicht Ernst Fischers wird von der zynisch-sarkastischen Weigels eher und plausibler ergänzt, als durch Höllers modern anmutender Argumentation.



[1] Hans Höller: Grillparzer und der Krieg. In: Literatur und Kritik 251/252, März 1991:47-53
[2] Siehe Eintrag 11.02.04
[3] Höller, a.a.O., S.49
[4] Ernst Fischer, a.a.O. S. 14 (siehe Fußnote 87)
[5] Ernst Fischer, a.a.O. S. 56
[6] Siehe Eintrag vom 11.03.04
[7] Hans Weigel, a.a.O. S. 112 (siehe Fussnote 86)

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