Sinnverwandlung und Text
Haimo L. Handl
Vor Kurzem wurde in den
Medien der Fall des Schriftstellers Christian Kracht be- oder verhandelt, der
anlässlich seiner Poetikvorlesung verlautete, dass er sich nun erinnere, vor
ca. 40 Jahren Opfer eines sexuellen Missbrauchs geworden zu sein, bis jetzt
allerdings unsicher war, ob ihn seine Erinnerung trüge oder nicht. Diese
Sensationsmeldung brachte viele Schriftgelehrte, Exegeten, Feuilletonisten,
germanistische Chefdeuter und andere Experten bzw. Kulturvermittler ihrerseits
zu schnellen Befunden oder Mutmaßungen über das vorliegende Werk des Schweizer
Autors, das jetzt wohl anders gelesen werden müsse.
In der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG
hieß es kurz und klar: „Christian Krachts Enthüllungen lassen seine Bücher in
neuem Licht erscheinen“. Ein neues Licht also erzwinge eine neue Lesart. Die
Entdeckung, die Kracht machte, war durch das neue Umfeld von „metoo“ instigiert
und befördert worden. Kracht, das Opfer, packte aus, und zwar in einer
Poetikvorlesung, weil dies der rechte Ort für so einen Befund ist.
Paul Jandl notiert in seinem
oben erwähnten Artikel in der NZZ vom 25.5.18 unter anderem:
„Mit Krachts Erkenntnissen
müsse man seine Bücher neu lesen, hiess es dieser Tage aus den Feuilletons. Der
Schriftsteller selbst erteilt solchen Unternehmungen durchaus die Absolution.
Auch er lese seine Bücher jetzt anders. Für die «ausschweifende
Unbarmherzigkeit» seiner Romanfiguren sehe er jetzt den Grund, für den
«männlichen Körperpanzer», den er ihnen anlegt, und für ihre soziale
Dysfunktionalität.“
Dies alles passt in die
gegenwärtig vorherrschende Fokussierung auf Person und Biographie, bei
gleichzeitiger Vernachlässigung bzw. Ausblendung des Texte, der Literatur. Was
hat sich an den Sätzen in Krachts Texten verändert, dass man sie jetzt anders
lesen müsste? Waren sie bis anhin unverständlich, weil biografisch
unvollständig dokumentiert und abgesichert? Was, wenn es in Kürze neue
Entdeckungen und Bloßstellungen gibt, wenn weitere Persönlichkeitsfacetten
offengelegt werden oder schnöde bar „bloßgestellt“ werden? Wie vorläufig müssen
denn die Textfabrikationen des doch erfolgreichen Schriftstellers gelesen
werden? Wenn nicht mal er sich trauen konnte hinsichtlich seiner Erinnerungen,
wie sollen die Leser ihm trauen bezüglich seiner schriftlichen, literarischen
Entäußerungen?
Die Hauptfrage aber drängt
sich auf: Was hat das mit Literatur zu tun? Gilt primär die Biographie, der
Personalakt, gelten die Geheimdienstaufzeichnungen (dann waren die observierten
und rapportierten Schriftsteller in der DDR in einer privilegierten Situation,
weil der Staat ihre Daten systematisch sammelte, aufbereitete und für die
korrekte, authentische Beurteilung ihrer Literatur die besten Grundlagen schuf)
mehr, als die eigentliche Produktion? Sicher. Was interessiert das Geschreibe,
wenn der Röntgenblick auf die Person so aufregend stories liefert?
Hier tut sich ein neues
Arbeitsfeld für den investigativen Journalismus auf: Suchen und Finden von
Krankengeschichten, Nachbarschaftsdenunziationen, Schulkollegenbeobachtungen,
Befunde psychischer und physischer Abweichungen, Suchtreporte, frühe
Filmaufnahmen aus Privatarchiven, Fotos und Videos, Zeugenaussagen, Gerüchte
und dergleichen mehr, werden, bei komplexer Datenanalyse ganz neue Erkenntnisse
der Größe oder Niedrigkeit irgendwelcher Personen liefern, beantworten Fragen
nach dem Wie und Warum. Warum war Thomas Bernhard so ein Hasser? Wär das nicht
eine Sensation, wenn man endlich bislang unbekannte Daten fände, die
Abnormitäten, Einseitigkeiten, Störungen usw. einerseits belegten, andererseits
erklärten, warum er Täter oder Opfer oder beides war (je nach Standpunkt und
Perspektive)? Was, wenn neue Aufzeichnungen zu Kafkas asozialem Verhalten seine
Beziehungsunfähigeit besser erklärten, seine Autoritätsangst auffächerten und
sein Opferdasein noch tiefer und breiter dokumentierten? Was, wenn, entgegen
allen Erwartungen, aber herauskäme, dass er in der Praxis Folterspielen nachging,
wovon einige abgeschwächt Eingang in sein berühmtes Werk gefunden haben? Was,
wenn er ein verklemmter Lüstling und Triebtäter war? Dann hätten ganze
Heerscharen von Germanisten neue Arbeit, könnten ihre Berufskarrieren besser
abgesichert ausrichten und das Publikum mit neuen, authentischen
Horrorgeschichten versorgen, zumal der eigentlichen Textrevision, trotz
anerkanntem Regietheaterkult, doch Grenzen gesetzt sind.
Das, was jeder Bürgerin heute
geschieht, die völlige Durchleuchtung der elenden privaten Existenz, könnte
endlich an die verstorbenen Größen angelegt werden. „Licht im Dunkeln“ bzw.
„Licht ins Dunkel“ hätte eine neue Dimension.
Die primäre Beschäftigung mit
der Person ist nicht nur ein Fokus aufs Private, sondern ein systematischer
Beitrag zur Entwertung von Literatur, ja generell der Kunst. Es gilt nicht der
Artefakt, der Text, es gilt die Person. Die Richtigkeit und Wichtigkeit zeigt
sich bei sogenannt „belasteten Autoren“, z.B. Bourgeois in sozialistischen
Gesellschaften, Faschisten, Nazis oder Kommunisten in westlichen. Was, wenn
irgendwer, der heute einen Heidegger als Nazi abtut und sich damit das Denken
und Nachlesen erspart, sich hinter dessen Werk, das er abwertet, klemmen
müsste, um Argumente zu formulieren? Wo käme man da hin? Es reicht, Marx als
Gefahr für die freie Welt festzumachen, und nicht sein Werk zu studieren und zu
analysieren. Würde das Werk eine Art „Eigenwert‘“ oder einen „Werkwert“
aufweisen, (fast) unabhängig von der Person bzw. ihrer Biographie, wir kämen in
die Verlegenheit, Gedichte von Monstren und Massenmördern gutheißen zu müssen
(man denke nur an den alten Vorsitzenden Mao, der neben seiner
Mordpolitik auch schöne Gedichte schrieb, man vergesse nicht Radovan Karadžić, den zeitgenössischen
Mörder und Psychologen, der auch als Verfasser einfühlsamer Lyrik auftrat), die
wir schon oder besonders aus ideologischen Gründen verwerfen, weil ihre Urheber
böse Menschen, Mörder sind. Dass die personalen Eigenschaften so stark das
Urteil, die Annahme oder Ablehnung zu lenken vermögen, hängt mit der
Betroffenheit, die unter anderem aus der zeitlichen Nähe oder Distanz
resultiert, zusammen. Biographien aus der Barockzeit, Horrorgeschichten aus dem
Dreißigjährigen Krieg „berühren“ uns anders als solche vom 1. oder gar 2. Weltkrieg.
Texte, auch solche die
werkgetreu publiziert werden und nicht „modernisiert“ nach gender criteria oder
leichter Lesbarkeit für unbedarfte Ungebildete (Shakespeare light, Goethe in
zugerichteter Leichtversion), bleiben nie, was sie sind. Immer werden sie
interpretiert, müssen interpretiert werden. So verändern sich auch Urteile über
den Text. Die Frage ist nur: was leitet die Interpretation? Ideologie (=
falsches Bewusstsein), persönliche Gefühle oder Hass oder was der Mob in den
social media plärrt? Interpretationen können variieren. Aber sie werden, wenn
sie denn bedacht sind und nicht willkürliches Gekotze, im Kern sich decken. Dort, wo
sie sich nicht decken, wird es interessant die Gründe dafür zu prüfen
(historische Distanz, Fülle oder Mangel an Kontextwissen etc.).
Man kann dieses
Phänomen der „Einseitigkeit“, der „Schlagseite“ in der Fokussierung auf die
Person selbst schnell überprüfen. Wenn Sie alte Werke, insbesondere des
früheren abendländischen Kanons, konsultieren, werden Sie merken, dass die
Fragen der Personenzeichnung und –deutung sekundär sind gegenüber den
philologischen Rekonstruktionen oder Textexegesen. Die Editionsgeschichten um
die eine oder andere Schreibweise aufgrund vorliegender Unterlagen und Belege
wiegen mehr, als Anmerkungen zur Biographie. Diese ist zwar nicht uninteressant
oder unbedeutend, aber nicht vorrangig. In der Gegenwartskultur, die zu einer
Unkultur gewachsen ist, wenn man frühere Beurteilungskriterien hernimmt, gilt
allerdings das Umgekehrte.
Hans Baumann
(1914-1988) war ein NS-Funktionär, Volksschullehrer, Komponist und Lyriker. Er
war produktiv und von einigen gepriesen. Er reichte im Nachkriegsdeutschland
einen Text für den Gerhjart-Hauptmann-Preis ein, den er auch erhielt. Das war
1959, zur Zeit der Kahlschlagliteratur und des Wiederaufbaus (!). Als aber
bekannt wurde, wer der eigentliche Autor war, nämlich Hans Baumann, wurde ihm
1962 der Preis wieder aberkannt. Das war (damals) doch zu viel. Wieder einmal
hatte die Biographie über die Literatur gesiegt.
Die Aberkennung hätte
ja alleine schon aus formalen Gründen erfolgen können, weil unter Pseudonym
eingereicht worden war. Aber es war die negative Vita, der Schmutzfleck, den
man für den Preis nicht wollte, obwohl Gerhart Hauptmann, der naturalistische
Nobelpreisträger (1912), ideologisch gesehen sein Verhalten sich nicht
wesentlich von dem Baumanns unterscheidet(aber das wäre ein anderes Kapitel):
1933 Unterzeichnung der Loyalitätserklärung sowie Ansuchen um Aufnahme in die
NSDAP, das allerdings abgelehnt wurde. In Wikipedia heißt es: „In seinem
Selbstverständnis war Hauptmann allerdings immer ein überparteilicher Dichter
gewesen, die nationalsozialistische Ideologie floss auch nicht in sein Werk
ein. Die Distanz zwischen Hauptmann und dem Nationalsozialismus geht auch aus
einer Stellungnahme des Amts Rosenberg aus dem Jahr 1942 hervor: „Bei aller
Anerkennung der künstlerischen Gestaltungskraft Hauptmanns ist die
weltanschauliche Haltung der meisten seiner Werke vom nationalsozialistischen
Standpunkt aus kritisch zu betrachten.“
Wie prüft man ein
„Selbstverständnis“, wie aussagereich ist es? Wie war z.B. das Selbstverständnis
von Herrn Kracht VOR seiner Erinnerungsfeststellung und danach? Hat ein keines
gehabt, war es erkennbar vorläufig oder beschädigt? Wie gültig sind
Amtsbekundungen und –urteile? Gelten sie nicht oder besonders für
DDR-Autorinnen? Gelten sie nur für Berühmte, nicht aber für Versager,
Zukurzgekommene, „Opfer“?
Die Fokussierung auf die
Person und ihre Biographie erfolgt nach bestimmten Kriterien. Manchmal gilt
beides: Person UND Werk, manchmal, wenn für das Expertenurteil oder die
öffentliche Verurteilung günstig, das eine oder das andere.
Als Günter Grass (1927-2015)
spät bekannte, dass er als Jugendlicher mit 15 Jahren zur Wehrmacht sich
meldete und dann in der Waffen-SS diente, haben etliche Leser, die von seinen
Romanen begeistert waren, vor allem von „Die Blechtrommel“ oder „Der Butt“,
entrüstet diese Werke abgewertet. Für sie hat sich Grassens Literatur
verwandelt, war „unglaubwürdig“, weil sie eine persönliche Verhaltensweise auf
die Literatur übertrugen mit allen Konsequenzen der Beurteilung. Jetzt war
Grass „befleckt“, aber nicht nur er, auch seine Literatur. Es wird lange
dauern, bis der Blick aufs Werk sich wieder herstellen lassen wird.
Heute ist es vielen möglich,
das lyrische Werk des österreichischen Expressionisten Georg Trakl zu schätzen,
obwohl er ein inzestuöser Junkie war. Wenn für Trakl immer noch gälte, was
Kracht neuerdings beansprucht, wäre sein Werk im Orkus.
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