Donnerstag, 7. Juni 2018

Lettre International Nr. 121



+++ Lettre aktuell, Sommer 2018+++
Lettre International Nr. 121 / Jubiläumsausgabe


Geburtstagsfeuerwerk im Jubiläumsheft
30 Jahre Lettre International (26. Mai 1988 – 7. Juni 2018)
Heute, am 7. Juni 2018, erscheint das Jubiläumsheft von Lettre International aus Anlaß des 30jährigen Bestehens der deutschen Ausgabe der Zeitschrift. Freuen Sie sich auf ein Geburtstagsfeuerwerk!
100 Autoren und Künstler aus aller Welt haben zu dem 188 Seiten umfassenden Heft beigetragen. Tobias Rehberger, Träger des „Goldenen Löwen“ der Biennale Venedig 2010, bringt das Heft mit einem spektakulären Titelbild in Schwung: Eine grenz- und kulturüberschreitende Aktualisierung des sozialistischen „Bruderkusses“ zwischen Leonid Breschnew und Erich Honecker von 1979. Fünfzig weitere Künstler, darunter Robert Longo und Lawrence Weiner, Miquel Barceló, Ai Weiwei, Shang Yang, Dieter Appelt, Barbara Breitenfellner, Martin Assig, Gunter Rambow, Hans Hansen, Mark Lammert, Valérie Favre, Daniel Schwartz, Max Grüter, Jan Fabre, Juan Manuel Castro Prieto, Cristina García Rodero, Konstantin Skotnikov, Gueorgui Pinkhassov, Quentin Bertoux, Denis Dailleux, François Fontaine, Dodi Reifenberg, Ayumi Tanaka, Minoo Emami, Ewa Einhorn und viele andere sind mit Zeichnungen, Malereien, Collagen, Photographien dabei.
Es erwarten Sie: Hintergrundanalysen, Essays, Plädoyers, Bekenntnisse, Meditationen, Tiefengespräche zu hochaktuellen Themen: Eine Geschichte der Neugier. Tierische Intelligenz. Glanz und Elend des Zeitungsjournalismus. Nachrichtenbusiness in digitalen Zeiten. Eine kurze Geschichte von ARTE. Geschlechterturbulenzen. Fragile Territorien des Begehrens. Tropischer Surrealismus. Die Pornographie in unserem Leben. Zivilisationsdiagnosen. Die Suche nach dem Ereignis. Zeiterfahrungen. Kunst und Menschlichkeit. Kunst und Käuflichkeit. Kunst und Mode. Einsamer Ruhm. Japanische Holzschnitte. Der Bruch zwischen Stalin und Tito. Geschichten aus Chinas Gefängnissen. Gefechte der Gegenwart. Die Größe Nelson Mandelas. Großprojekte ohne Plan. 1984 und Neurologie. Zwei Geometrien des Gehens. Gangsterpolitik. Österreichische Metaphysik. Ein düsteres Tagebuch von Jean Moulin, dem späteren Leiter der französischen Résistance, aus dem Jahre 1940: Erster Kampf
EIN HISTORISCHES DOKUMENT DES WIDERSTANDS
Erstmalig in deutscher Sprache erscheint das Tagebuch des späteren Leiters der französischen Résistance, Jean Moulin, verfaßt im Juni 1940. Lettre publiziert sein düsteres Protokoll über die erste Konfrontation als Präfekt von Chartres mit den Befehlshabern der Wehrmacht. Ein Dokument der nazistischen Arroganz, der Erniedrigungs- und Gewaltpraktiken der deutschen Besatzer. Moulin wurde nach seiner Ergreifung durch die Gestapo 1943 vom „Schlächter von Lyon“, Klaus Barbie, entsetzlich gefoltert, ohne seine Geheimnisse preiszugeben. Er verendete kurz darauf in einem Zug, der ihn in ein deutsches KZ transportieren sollte. Es wurde von seiner Schwester Laure versteckt und nach Kriegsende ausgegraben. Erstaunlicherweise wurde dieses Zeugnis der Schlüsselfigur der französischen „Armee der Schatten“ bislang nie auf Deutsch veröffentlicht. Lettre bringt die deutschsprachige Premiere: Erster Kampf
Das Poem der libanesischen Dichterin und Künstlerin Etel Adnan Während Wale nach Norden schwimmen entwirft das Szenario einer in Brand geratenen Kultur, Haß liegt in der Luft und der Gestank verbrannter Pferde greift um sich. Eine apokalyptische Vision der Rache für jene Gewalt, die der Westen anderen angetan hat.
DIE MENSCHLICHE NEUGIER
Der französische Philosoph Marcel Hénaff sieht den Wissensdrang heutzutage auf einem Intensitätsniveau, welches sogar die Größenordnung der Revolution des Buchdrucks übersteigt. In seiner „kurzen Geschichte der Neugier“ stellt er fest, daß heute ein potentiell unabhängiges System kognitiver Innovation entstanden ist. Es ist, als ob das Verlangen nach Wissen in die Maschine selbst, in einen Algorithmus übersetzt worden sei; wir haben es von nun an mit einer sich verselbständigenden Neugier-Maschine zu tun.
Einem unterschätzten Alien in bizarrer Form nähert sich die britische Philosophin Amia Srinivasan in ihrer hinreißenden Würdigung des Oktopus Der Sauger, der Sauger! Oktopoden sind hochentwickelte Problemlöser; sie lernen und sie können Werkzeuge benutzen; sie sind der Mimikry, der Tarnung fähig und zeigen, wie manche glauben, einen gewissen Humor. (...) Oktopoden erkennen Menschen wieder und reagieren verschieden auf unterschiedliche Menschen, begrüßen manche mit ausgestrecktem Arm und besprühen andere mit ihrem Sipho. (...) Der Oktopus findet sich in einem Labyrinth zurecht, zeigt ein gutes Gedächtnis beim Puzzeln. (...) Jean Boal, eine Cephalopoden-Forscherin, berichtete, daß sie Oktopoden in nebeneinanderstehenden Becken mit aufgetautem Tintenfisch fütterte, nicht gerade ihre Lieblingsmahlzeit. Als sie zum ersten Aquarium zurückkam, sah sie, daß der Oktopus das Stück Tintenfisch nicht gefressen hatte, sondern es ihr an einem ausgestreckten Arm entgegenhielt; ohne den Blick von Boal zu lassen, ruderte er quer durch sein Becken und stopfte es in den Abfluß. Vielleicht ist das Leben eines Oktopus nur allzu tragisch: Geselligkeit ohne Gesellschaft, reden, ohne Gehör zu finden, eine Lebenswelt ohne Langlebigkeit. Ein Alien.“
KUNST UND MENSCHLICHKEIT
Das Gespräch Kunst und Mensch zwischen dem Künstler Ai Weiwei und dem Dichter Yang Lian dürfte ein Meilenstein zum Verständnis des kunstphilosophischen Konzepts des Künstlers sein. Die Quellen seiner artistischen Inspiration, sein Verständnis von Kreation und die Verwurzelung seiner Schöpfung in tiefer Humanität kommen zur Sprache. Der kommerziellen Kunstwelt des Westens sowie dessen Monopolanspruch auf die Definition von Kunstrichtungen und ästhetischen Diskursen hält er eine strikte Orientierung der Kunst an menschlichen und sozialen Anliegen entgegen. „Wenn wir dem Leid keinen eleganten, graziösen Ausdruck verleihen, bestätigen wir nur die heutige Wertordnung. Wenn wir sagen, daß die Menschheit Ehre besitzt, dann muß man auch deren Kraft zum Ertragen von Leid und Kümmernis anerkennen. Freiheit kommt aus dem Kampf, und der Kampf ist per se voller Schönheit.“
ZUKUNFTSVERFALL
Eine Welt nach dem Ende des Fortschrittsglaubens beschreibt der französische Philosoph Edgar Morin im Dialog mit dem Anthropologen Constantin von Barloewen. Er erkennt eine fatale Herrschaft von Technik und Industrie, in der Tiere als pure Objekte behandelt werden. Das System der industriellen Viehwirtschaft erinnert ihn an Konzentrationslager. Die industrialisierte Landwirtschaft zerstört die Böden und ganze Tierwelten, ihre Pestizide vergiften die Nahrungskette. Unkontrollierte Wissenschaft, unkontrollierte Technik und unkontrollierte Wirtschaft haben sich auf fatale Weise verbündet. Die Folge ist eine weltumspannende Krisensituation, die ohne Gegenreaktion zu Katastrophen führen wird. Nötig ist eine neue Form des Humanismus, eine Reformation des Lebens. „Wir leben in einer Zeit, in der man unsicher ist, ob die Kräfte des Lebens stärker als die Kräfte des Todes sein werden. Wir sollten nicht nur Verstand und komplexes Denken entwickeln, sondern auch stärken, was man in den Evangelien den ‘guten Willen’ nennt. Ohne einen Sinn für die menschliche Gemeinschaft werden wir zugrunde gehen. Man muß alle Menschen achten, und diese müssen versuchen, sich ein gemeinsames Schicksal zu geben.“ Der französische Philosoph fordert eine Revolution des Lebens und einen neuen Weg, um dem Verfall der Zukunft zu entrinnen.
SEHNSUCHT NACH DEM EREIGNIS
Karl Heinz Bohrer im Gespräch mit Frank M. Raddatz. Die Zukunft scheint uns abhandengekommen zu sein und die Gegenwart nimmt immer breiteren Raum ein, doch Zukunft war ein utopisch kraftvoller und historisch wirkungsmächtiger Begriff. Schon Heinrich Heine hielt der Zukunftserwartung die Idee des lebendigen Lebens entgegen und Ludwig Feuerbach setzte auf „Verzeitlichung“ gegen den teleologischen Geistbegriff seines Lehrers Hegel, um am sinnlichen Dasein im Hier und Jetzt festzuhalten. Die 68er setzten auf die Zukunft. Doch die Nachfolgegeneration der 80er Jahre bezeichnete sich als ironiegetränkte „Generation Golf“. Das antizipatorische Pathos war ermattet. Fast unmerklich ist für unsere Wahrnehmung ein Zustand des Immergleichen eingetreten, Unvorhergesehenes ist nicht mehr vorgesehen, historisch und politisch ist Stillstand eingetreten. Doch wie wäre ein neues Ereignis zu denken, ein unerwartetes, ein sprengender Augenblick, eine Epiphanie, die uns aus der Banalität und Profanität der herrschenden Langeweile katapultiert? Kann das Jetzt der zeitliche Ort sein, in, dem das Ereignis Gegenwart wird? Oder ist der Hunger nach dem Fremden, nach dem Abenteuer, nach dem Ereignis nur ein Zeichen der Unreife? Eine sprühende Meditation über die Potentiale der Zeit: Versprechen des Jetzt.
GESCHLECHTERTURBULENZEN
Eine Krise der Männlichkeit analysiert Pankaj Mishra, eine profunde Verunsicherung männlicher Virilität und Überlegenheitsgefühle. Die soziale, politische und kulturelle Dominanz der Männer wird zunehmend in Frage gestellt, und die Reaktion darauf – ob unter Hindus oder Muslimen, ob in Amerika oder Europa – ist Wut, Verzweiflung, Unsicherheit. „Morbide Phantasien von Kastration und Verweiblichung, Zivilisationsniedergang und Verfall verbinden Bin Laden mit Trump und anderen Bannerträgern der Nachhutgefechte des Machismo. (...) Und ob nun hinduistischer Chauvinist, radikaler Islamist oder weißer Nationalist: Ihr Selbstbild hängt von der Verachtung und Ausgrenzung der Frau ab. (...) ‘Man wird nicht als Frau geboren, man wird dazu gemacht’, schrieb Simone de Beauvoir. Dasselbe ließe sich für die Männer sagen. ‘Die gesamte Zivilisation’ bringt dieses Produkt hervor. Und zwingt es dann zu einer ruinösen Hetzjagd nach der Macht. Verglichen mit Frauen sind die Männer fast überall stärker dem Alkoholismus, der Drogensucht, schweren Unfällen und Herzerkrankungen ausgesetzt; sie haben eine deutlich geringere Lebenserwartung. (...) Maskuline Macht stellt ein unerfüllbares Ideal dar, eine Halluzination von Befehlsgewalt und Kontrolle, eine Illusion der Herrschaft in einer Welt, wo doch alles Feste sich in dünne Luft auflöst. (...) Die Männlichkeit ist als Zwangsjacke mühseliger Rollenpflichten und unmöglicher Erwartungen eine Quelle großen Leidens geworden – für Männer wie für Frauen.“
Die französische Schriftstellerin Belinda Cannone erkundet vor dem Hintergrund der MeToo-Bewegung fragile Territorien des Begehrens und plädiert für Zivilisierte Verführung. „Man muß versuchen, die Rollenverteilung im Liebesleben zu verändern, gleichzeitig sollte aber unbedingt darauf geachtet werden, diesen sehr fragilen Territorien, die weder rationalen Entscheidungen noch dem Intellekt oder dem Willen gehorchen, keine vorgefertigten Ideen und Vorschriften aufzuzwingen. Das Begehren ist ein delikates Gebiet: Wir begehren nicht auf Befehl, weder, was unsere sexuelle Orientierung, noch, was die Wahl des Objekts unserer Begierde angeht. Das Verlangen ergreift uns – oder manchmal treibt es eher dahin, zögert, doch auch das entzieht sich unserer Kontrolle. Deshalb bedeutet das Erstellen von ‘Verträgen’ eine Vernachlässigung seiner risikoreichen, verwirrenden, verheißungsvoll ungewissen Dimension.“
Eine Pornographisierung unseres Lebens konstatiert Wolf Reiser, Verheddert im Netz. Zig Millionen Videos kursieren unter dem Schlagwort „Pornographie“ im Netz und können jederzeit von jedermann abgerufen werden. Internet-Pornos machen 25 Prozent aller Suchanfragen und 35 Prozent der Downloads aus und gehören für Millionen Bundesbürger zum täglichen Stimulationsentertainment – was der Quote eines Champions-League-Finales gleichkommt. Während sich die Grenzen des sexuell Dargestellten in kühnste Höhen erweitern, hat sich das Einstiegsalter für die schwerverdaulichen Bilderfluten bei neun Jahren eingependelt. Reiser skizziert die Geschichte der Porno-Industrie, ihre Pervertierung aus der Libertinage der Rebellion der 60er Jahre, ihr Oszillieren zwischen Sadismus, Masochismus und Brutalismus. Wie und wann wurde der Summer of Love zu einem Winter der kommerzialisierten Perversion? Wie haben sich die Machthaber der Rotlichtsubkultur in die höchsten Ränge des Establishments hieven können? Wie hängt die Pornographie mit Gewaltkriminalität zusammen? Und warum schweigen so viele Tugendwächter der Political Correctness dazu? Eine beunruhigende Landschaftsbesichtigung und ein Aufruf zur Wiedereroberung von Eros und Liebe gegen die hypersexualisierte Leere.
Terese Svoboda entführt uns in die Karibik, wo sich in den vierziger Jahren, zur Zeit des Zweiten Weltkrieges in Europa, Begegnungen der Inspiratoren der Avantgardebewegungen Surrealismus und Negritude abspielen. Poesie, Freiheit und Liebe, die Freisetzung des Unbewußten wollte der Surrealismus; Widerstand gegen den europäischen Kolonialismus und ein Bekenntnis zum afrikanischen Erbe postulierte die Negritude. André Breton, Aimé Césaire, Leopold Senghor gelten als die Begründer dieser Strömungen, doch Svoboda erinnert an die bedeutende Rolle ihrer Partnerinnen für ihre Herausbildung. Sie schildert amouröse, poetische, politische Begegnungen und geistige Abenteuer der Literaten aus dem Senegal, aus Martinique und Frankreich im tropischen Exil. Sie machten Zeitschriften, kämpften für Frauenrechte, genossen Liebesbeziehungen, lebten ihre Freiheit und vertraten den Surrealismus als politische Kraft. „Die Bedeutung der surrealistischen Bewegung kann man in einem Wort zusammenfassen: Liberté. Doch leidenschaftliche Hingabe an gelebte Liberté verhindert nicht Konkurrenz und Anerkennungsmißgunst. „Senghor und Césaire haben sich unsere Ideen angeeignet und sie mit sehr viel mehr Brio vermarktet, wir waren ja nur Frauen. Wir haben nur den Weg ausgeschildert.“ Haben die Heroen des Surrealismus das Talent ihrer Frauen unterdrückt und ausgebeutet? Leben und Liebe, Kunst und Konkurrenz: Tropischer Surrealismus.
KUNST, KOMMERZ, KÜNSTLERISCHE KRÄFTE
Die letzten Jahrzehnte der Kunst läßt Heinz Peter Schwerfel Revue passieren. 1985: Zeit des großen Übermuts. Künstler und Galeristen sind bester Laune, haben sich doch sogenannte Yuppies, gestandene Immobilienmakler und Werbefuzzis in einen nie gekannten Kaufrausch gesteigert. Der Grund: Die achtziger Jahre haben nach einem Jahrzehnt formal reduzierter Konzeptkunst dekorative Gegenständlichkeit zurückgebracht. Junge Maler predigen eine verführerische Explosion von Farben und Formaten. Selbst die ältere Generation und die Kopflastigen ziehen mit und verdienen glänzend daran. Alles scheint erlaubt, Innovation wird zur Nebensache. Die Moderne und ihre avantgardistischen Auswüchse werden durch eine geschickt promotete Postmoderne ersetzt. 30 Jahre später: Die Gegenwartskunst ist ein System, in dem persönliche, künstlerische und finanzielle Interessen der Protagonisten unauflöslich verstrickt sind. Ausnahmen gibt es nicht. Ist die Kunst, die wir einst liebten, noch ein Objekt der Begierde? Oder liegt die Kunst immer im Bett des Siegers? „Es darf geramscht werden“, meint der Kunstjournalist in seiner sarkastischen tour d’horizon: Schlußverkauf. Wie die Kunst dem großen Geld zum Opfer fiel.
Die taiwanesische Autorin Chin-tao Wu beschreibt die raffinierte Einverleibung und Instrumentalisierung der Kunst durch Mode- und Luxuslabels wie Prada, Louis Vuitton, Cartier. „Kunst und Mode sind seit langem eng miteinander verflochten. Eine Entpolitisierung der Kunst geht einher mit der Ausrichtung auf den Markt. Kulturelle Kreativität verband sich mit dem Bedürfnis des Kapitalismus nach ständiger Innovation. (...) Die Luxusmodehäuser schienen diesen ‘deterritorialisierten’ Operationsmodus gleichzeitig entdeckt zu haben. Er erlaubte eine neue Art von Flexibilität und Freiheit. Doch wie alle ‘kreativen’ Interventionen kommerzieller Unternehmen bedurfte es des Segens der Kunstwelt, der ihnen Prestige und Seriosität verschaffte. Wie der künstlerische Direktor von Hermès sagte, sei die H Box ‘nur dann legitim, wenn sie von internationalen Institutionen anerkannt’ werde. Die Säulen der Kunstwelt waren gern dazu bereit. (...) Ein scheinbar müheloses ‘Crossover’ zwischen Kunst und Mode verleiht der Haute Couture die Legitimität, die sie braucht, um in die Welt der Kunst einzutreten.“ Mode verführt Kunst
Patricia Görg entführt uns mittels der Holzschnitte des Japaners Hiroshige auf Die Ostmeerstraße. „Es ist Abend, immer wieder Abend im Japan des 19. Jahrhunderts. Das Land ist verschlossen wie eine Schatztruhe, aber auf ihren Innenwänden erscheinen Bilder der fließenden Welt, jeden davontragend, der sie betrachtet – Orte erscheinen, an denen die Elemente für ein Gedicht versammelt sind: Charakterbäume, Witterungen und Gestirne, grundstürzende Schönheit, ein Rasthaus, das mit warmer Suppe wirbt. Und nie ist das Meer weit. (...) Man reist, wo schon viele gereist sind; man reist, wie schon viele gereist sind: eingebunden in die Landschaft, in ihre Assoziationsräume und ketten. Man hat einen Stock, trägt Sandalen und einen Umhang, das Bündel Gepäck auf dem Rücken und einen großen flachen Strohhut. Gasthäuser und Freudenhäuser klammern sich an die Küste, verbarrikadieren mancherorts den Blick, doch dann erscheinen Schwärme rechteckiger Segel auf dem unergründlich blauen Wasser, gesetzt für die Ausfahrt der Seele.“
Das Gefühl des Zufalls ergreift Besitz von Sara Stridsberg. „Ich denke oft an das Schweigen eines Buches. Eingezwängt zwischen tausend anderen Büchern im Regal, wirkt es so harmlos und bedeutungslos, so unauffällig und unschuldig. Doch wenn man es öffnet, stürzt man kopfüber in eine Welt voller Stimmen, in unbekannte Räume, in denen man wandeln und sich umschauen kann, ohne gesehen zu werden, in denen man sich der Stimme eines Fremden hingeben kann. Eine Erzählstimme bittet manchmal fast um Verzeihung dafür, daß sie ihren Leser stört, eine Stimme unter Milliarden anderer Stimmen auf der Erde, die mit einer solchen Selbstverständlichkeit und Autorität auf der Buchseite und im Kopf des Lesers erscheint, daß sie nur aus sich selbst kommen kann.“
Der einsame Ruhm beschäftigt Enrique Vila-Matas. Im Nicht-Erkanntwerden feiert der Dichter seinen Triumph. Die Verweigerung, das Sich-Zurückziehen, der Haß auf Geselligkeit, das Sich-Totstellen sind Kindheitserinnerungen, die nicht wenigen Dichtern und Künstlern bekannt sind. Miles Davis zeigte seinen Jazzfans in Barcelona den Hintern, Glenn Gould floh vor Geselligkeit, Robert Walser versteckte sich als Kind im Schrank, Thomas Bernhard spielte gerne die Leiche. „Die Spur des Autors findet sich lediglich in der Einzigartigkeit seiner Abwesenheit. Dem Schriftsteller obliegt die Rolle des Toten im Spiel des Schreibens.“, so Michel Foucault. Diese Virtuosen der Abschottung, Hasser der Gesellschaft des Spektakels entziehen sich dem Jubel des Publikums und versuchen, ihre Selbstisolierung am Rande einer Welt aus Eis und Meditation zu perfektionieren. Der zurückgezogene Künstler wirkt wie „Schnee, wenn es ihm, verlassen in der Landschaft, mit dem Schimmer seiner rätselhaften Genialität gelingt, in seiner radikalen Einsamkeit zu leuchten.“
GLANZ UND ELEND DES JOURNALISMUS
Aufstieg und Niedergang der Tageszeitung betrachtet der italienische Essayist Marco d’Eramo. Vielleicht wird die Nachwelt die Photographien unserer Zeitungskioske dereinst auf ähnliche Weise betrachten, wie wir heute antike Bibliotheken. Die Zeitung galt als Inbegriff der Moderne, begleitete den Aufstieg des Bürgertums und der unternehmerischen Klasse in Handel, Industrie und Finanzen. Später wurde die Zeitung zum Machtinstrument politischer Auseinandersetzungen. Zur Massenzeitung wurde sie mit der Revolutionierung des Verkehrs, mit dem Telegraphen und dem Rotationsdruck. Journalisten wie Mark Twain, Erzähler wie Honoré de Balzac, Magnaten wie Randolph Hearst verkörperten die „Goldene Ära“. Der Journalist genoß hohes soziales Prestige. Doch je höher die Auflage, desto höher Kosten und Abhängigkeit von Inseraten. Über die Werbung floß Geld aus Unternehmen zu den Massenmedien. Ohne Werbeeinnahmen kein kraftvoller Journalismus. Nun ist eine neue Ära angebrochen. Fernsehen und Rundfunk haben der Zeitung ihr Informationsmonopol schon länger streitig gemacht. Heute aber entwerten das Internet und die Sozialen Medien die gedruckte Information. Die Werbung verlagert sich von alten Werbeträgern zu Plattformen und Online-Medien. Können Zeitungen dieser Entwicklung trotzen? Ist Mäzenatentum die Rettung? Oder wird die öffentliche Meinung ausgelöscht? Kündigt sich eine neue oligarchische Gesellschaft an, in welcher die qualifizierte Information ein den Eliten vorbehaltener Luxus sein wird? Journalismus
Matt Aufderhorst, TV-Chef vom Dienst, kristallisiert einige Erfahrungssequenzen aus dem Inneren des gegenwärtigen Nachrichtenfernsehens heute: Der forensische Fall.
Das TV-Newsgeschäft. Ein Business-as-(un-)usual-Geschäft, das ich seit einem Vierteljahrhundert als Reporter, Redakteur und Chef vom Dienst kenne und dessen rasante Geschwindigkeit ich als intellektuelles Kräftemessen heutzutage weniger als früher schätze, dennoch als Möglichkeit der Einordnung von Ereignissen im Jetzt-Modus anerkenne, respektiere und, falls es gelingt, der Wirklichkeit einen Moment klarsichtiger Vergegenwärtigung abzuluchsen, sogar genieße. +++ Dank der rasanten Entwicklung des Internets seit der Jahrtausendwende und den dadurch verfügbaren ununterbrochenen Kommentarmöglichkeiten wurde die Live-Deutungshoheit des Nachrichtenfernsehens unwiederbringlich geschreddert. +++ Rolling news, also die ununterbrochene Direkt-Berichterstattung sich weiterentwickelnder Geschichten, hat im Zeitalter der bereits per App (Periscope, YouNow, WhatsApp, Facebook) oder als Agenturfeed (Reuters, AP-Direct) bereitgestellten Livestreams, die altmodisch auf ihr Sensationsrecht pochende, am Text hängende breaking news ersetzt. +++ Der cyberwar findet seinen Widerhall in der freien Presse, die sich massiven Desinformationskampagnen ausgesetzt sieht. Der Journalismus, der sich als eine Macht versteht, die der Demokratie verpflichtet ist, hat nur diese eine Chance: gegen die Armada an Online-Betrügern müssen wir eine Armada an Online-Aufklärern in Position bringen.“
Was mit ARTE geschah, schildert Sabine Rollberg in ihrem Porträt des deutsch-französischen Fernsehsenders, der einst als gesamteuropäisches Medium konzipiert war und doch nie so weit springen durfte, wie er einst geträumt hatte. Entstanden aus Pioniergeist, Freude, Spontaneität, Intuition und Kreativität, aus dem Wunsch nach einem Bruch mit der Gewohnheit und nach Qualität und Intensität, nach ungewohnten Einblicken in die Welt von anderen, nach bahnbrechenden Dokumentationen und scheuklappenlosen Annäherungen ist der Sender teilweise wieder regrediert, zerrieben zwischen französischen und deutschen Funktionsträgern. Im Kampf um Zuständigkeiten und Geldverteilung hat man sich aus den riskanten Experimenten verabschiedet und sogar den kleinen Sender ARTE dem Quotenfieber unterworfen. ARTE ist in seiner programmatischen Phantasie geschrumpft worden. Das Ende einer kreativen Phantasie? Tauchen erneut einige Rebellen auf, um Schluß zu machen mit der Anpassung?
Bora Ćosić präsentiert uns ein Geheimrezept seiner Lieblingszeitschriften aus der großen Zeit des Belgrader Surrealismus. „Meine Helden waren: ein Mann, der einen epileptischen Anfall bekam, wenn man ihm einen Gegenstand aus Eisen brachte, der Belgrader, der sich mit Zunge und Gurgel im Koffer zu einer Ausstellung in Philadelphia aufmachte, der Mann, welcher für 15 neue Dinar eine Maus verschluckte, der Tischler, der sich Zähne aus Holz anfertigte, der, welcher seinen Nachbarn anzeigte, weil er Grimassen schnitt, oder der Mann der dem Kassierer des Hauskomitees das Ohr abbiß ...“
MASCHINEN DER MACHT
FAZ-Balkankorrespondent Michael Martens stößt bei der Recherche für eine geplante Biographie über Ivo Andrić auf bisher unbekannte Dokumente über die Auseinandersetzung zwischen Tito und Stalin Ende der 40er Jahre und die Gründe dafür, warum Jugoslawien vom Papst der kommunistischen Welt exkommuniziert wurde. „Stalin war nicht nur der unbestrittene geniale Führer, er war die Verkörperung der Vorstellung und des Traums von der neuen Gesellschaft“, so einer der später berühmtesten Dissidenten der sozialistischen Welt, Milovan Đilas in seinen Erinnerungen. 1947 noch wurde er als Vermittler im sich anbahnenden Streit zwischen Stalin und dem kommunistischen Führer Jugoslawiens nach Moskau entsandt. Stalin beschwerte sich darüber, daß er über Titos Pläne, in Albanien einzumarschieren und das Land zu schlucken, nicht informiert worden sei. Er, der Führer des Weltkommunismus. Zudem kam ihm Titos Entscheidung, die Partisanen im griechischen Bürgerkrieg gegen „griechische Monarchofaschisten“ zu unterstützen, in die Quere. Er fürchtete einen um Griechenland aufkommenden Konflikt mit Großbritannien und den Vereinigten Staaten und befahl den Aufstand in Griechenland so bald wie möglich einzustellen. Tito hatte die Kriegsjahre nicht hinter Moskauer Schreibtischen verbracht sondern in bosnischen Bergen und serbischen Wäldern, und er war nicht im Gefolge der Roten Armee an die Macht gekommen sondern seine Partisanen hatten ihr Land weitgehend selbst befreit: Er hatte ein anderes Selbstbewußtsein. Und so wurde aus jugoslawischen Kommunisten eine „Clique der besoldeten Belgrader Spione und Mörder“ und das kommunistische Schisma nahm seinen Lauf. Es gelang Stalin nicht, Tito von der Macht zu vertreiben. Rare Einblicke in die Bruderkämpfe des Nachkriegskommunismus: Stalins kleiner Finger.
Der slowenische Dichter Aleš Šteger reist zu den Kloster- und einstigen Gulag-Inseln von Solowki im Weißen Meer. Solowki, ein Archipel von sechs größeren und vielen kleineren Inseln im Weißen Meer, unweit der Grenze zu Finnland, hat in den letzten Jahren nicht selten als auserwählter Kieselstein zum Verständnis des gesamten Mosaiks gedient, der komplizierten russischen und sowjetischen Geschichte. Biologisch betrachtet ist Solowki ein Paradiesgarten mit mehr als 1000 Süßwasserseen, dichten Wäldern, guten Lebensbedingungen für viele Arten. Sein monumentales Kloster aus dem 5. Jahrhundert ist eine der bedeutendsten Stätten der russischen Orthodoxie und eine Schnittstelle zwischen weltlicher und kirchlicher Autorität. Im 20. Jahrhundert wurde Solowki zur Mutter aller Gulags, wie Alexander Solschenizyn meinte. Dann waren die Inseln Militärbasis, noch später wurden Umrisse einer Industrialisierung sichtbar: Solowki bekam den Stempel des großen Experiments des Kommunismus aufgedrückt. Heute ist Solowki ein Anziehungspunkt für Intellektuelle, Künstler und Abenteurer. Ein Ort für Menschen mit traumatischer Vergangenheit, unklarer Gegenwart und noch ungewisserer Zukunft. Heiliger Ort, Ort des Terrors: Funktioniert Solowki als Metapher für Rußland? Ein Tag in Solowki
Der chinesische Dissident Zhou Qing läßt Drei Schreie des Riesensalamanders erklingen. Das nur noch selten vorkommende Echsentier ist eine Delikatesse für dekadente chinesische Gourmets und, ähnlich wie Nashornpulver, soll es wohltuende Wirkungen entfalten. Höchste Geschmacksfülle entfaltet der Salamander, wenn man ihn fachmännisch zerlegt, mit drei schnellen Schnitten und zu jedem Schnitt ertönt ein ganz besonderer Schrei. Mit einem dieser Salamanderkenner sitzt der Autor in einer Gefängniszelle und sein Knastbruder, ein zum Tode verurteilter Mörder, faßt Vertrauen zu ihm und erzählt seine Geschichte: Er war Kriminalbeamter, glücklich verheiratet, doch eines Tages entdeckt er, daß seine Frau, eine Professorin, eine erotische Beziehung zu einem ihrer Studenten eingegangen war. In ihm brütet Rachedurst, und er erinnert sich an seine Salamanderklinge. Kaum hat er sein Leben erzählt, öffnet sich im Morgenlicht die Zellentür, und ein barscher Ruf ertönt: „Runter von der Pritsche“. Einblicke ins chinesische Gefängnissystem.
George Orwell beschreibt in seiner Erzählung 1984 eine Gesellschaft, die von einem Gedankensystem beherrscht wird. Die Bürger werden so lange am selbstständigen Denken gehindert, bis sie am Ende nicht mehr selbstständig denken können. Sie werden von einer einzigen Partei kontrolliert. Sie haben Angst, sie könnten wegen Gedankenverbrechen verhaftet werden. Orwell erfindet die Sprache Neusprech, eine Sprache mit eingebautem Vergessen. Der Wortschatz dieses Neusprech weist eine Präzision auf, die für bestimmte neurologische Probleme charakteristisch ist. Bei aller scheinbaren Genauigkeit der Sprache sind die Menschen außerstande, Metaphern oder Verallgemeinerungen zu verstehen. Es ist so, als lebte man in einer mehrdimensionalen Welt, wäre aber nicht in der Lage, sich mehr als eine Dimension vorzustellen. Diese gedankenkontrollierte Gesellschaft weist viele Aspekte neurologischer Störungen auf. Die Störung der Erinnerungen, Momente der Entpersonalisierung, die Trennung von sensorischen und emotionalen Reaktionen, die Störung des Gedächtnisses und der personalen Identität. Israel Rosenfield und Alma Terrasse: 1984 und die Neurologie
An ihre langen Jahre als Fernsehkorrespondentin in Südafrika und ihre vielen Begegnungen und Gespräche mit Nelson Mandela und seiner Lebensgefährtin Winnie erinnert sich die Wiener Dokumentarfilmerin Regina Strassegger: Mandela, bei den grünen Hügeln. Das Begräbnis des großen afrikanischen Führers Madiba ruft die Geschichte des Kampfs gegen die Apartheid zurück und jene einer einzigartigen Persönlichkeit. Sein Wille, seine Disziplin, sein unerschütterlicher Glaube an die Freiheit für alle waren eindrucksvoll. Noch erstaunlicher war seine Kraft, im Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt eine Balance zu finden. Seine gelassene Klarheit. Seine Würde, die den Stolz zügelte. Sein Versöhnungswille, der das Beste im Menschen suchte. Seine Fähigkeit zu verzeihen. „Er haßte den Haß, er liebte die Menschen. Sein Lächeln hat Licht in die Welt gebracht, er war der Strahl der Hoffnung.“
Der Architekturjournalist Falk Jaeger geht am Beispiel des Berliner Flughafendesasters den Ursachen des sich wiederholenden Scheiterns von archetektonischen und infrastrukturellen Großprojekten in Deutschland nach. Über Wunsch und Wirklichkeit, Terminverschiebungen und Kostenexplosionen, schlechte Bauherren, Selbstüberschätzung und Mangel an persönlicher Verantwortung. Über Dilettanten, die sich selbstgewiß als Bauherren und Manager inszenieren, über reparable Dummheiten, die zu ungeheuerlichem Chaos führen. Über das Versagen einer blutleeren investigativen Presse, über Hinterzimmerpolitik, trügerische Lichtblicke, Visionslosigkeit und kommende Desaster. Sind Großprojekte in Deutschland noch planungssicher zu beherrschen? Hoffnung scheint nicht angebracht.
Zwei antagonistische Geometrien des Gehens vergleichen Joachim Krausse und Julia von Mende. Der Mensch läuft in gerader Linie, weil er ein Ziel hat und weiß, wohin er geht. Er hat sich entschieden, einen bestimmten Ort zu erreichen, und geht direkt darauf zu. Der Esel geht im Zickzack, hält inne und döst ein wenig in der Hitze auf seine zerstreute Art, er läuft im Zickzack, um den größeren Steinen auszuweichen oder sich den Anstieg zu erleichtern oder in den Schatten zu kommen; er macht nur das, was unbedingt nötig ist.“, so der französische Architekt Le Corbusier. Die Straßen und Wege, die der Architekt in den alten Städten Europas zu seiner Zeit vorfindet, ähneln denen von Eselspfaden, und Le Corbusier läßt keinen Zweifel daran, daß sie beibehalten zu wollen, eine „Eselei“ sei. Das menschliche Gehen nimmt auch der amerikanische Architekt R. Buckminster Fuller (1895–1983) zum Ausgangspunkt einer Reflexion über das Vorankommen. Im Gehen erkennt er prototypisch die Verkörperung des Prozesses, einen Fehler durch den nächsten zu korrigieren. Beide Architekten waren sich in der Wertschätzung der Geometrie als Mittel des Entwerfens und Methode klaren Denkens vollständig einig, doch schwer wiegt ihr Dissens in der Frage der Gradlinigkeit. Das, was Le Corbusier dem Esel zuschreibt, daß er nämlich im Zickzack gehe, hat für Buckminster Fuller universale Gültigkeit: alles, was sich bewegt, folgt den Linien des geringsten Widerstandes, und die „deliberately nonstraight lines“ werden zu einem Dreh- und Angelpunkt seiner radikal empirischen Geometrie. Fuller versteht die Wege, seien sie begangen, befahren, gezeichnet oder gedacht, in ihrer Realisation grundsätzlich als unvollkommen, als nicht perfekt, während Le Corbusier auf die Realisierung des Perfekten drängt, wo er den Menschen geradewegs auf sein Ziel lossteuern sieht. Eine brillante Darstellung der Kontroverse zwischen Rationalismus und Fortschrittskritik zweier brillanter Denker der Urbanität und Architektur im 20. Jahrhundert.
Dem Rätsel Gorki spürt der französische Slawist Georges Nivat nach, einem Leben, das schwankt zwischen einer Kritik der bolschewistischen Despotie und einer Unterwerfung unter Stalin und dessen Machterhalt über Leichen. Gorki liebt die Literatur und die Freiheit des Westens, war hochverehrt, ein geliebter und unermüdlicher Beschützer anderer Schriftsteller. Später werden alte Freunde von ihm in den Moskauer Prozessen moralisch erniedrigt. Stalin brauchte ihn, und verkündete Gorki sei „stärker als Goethe“. Gorki ließ es geschehen und ließ sich feiern. Der „Sohn des Volkes“ bleibt ein Rätsel und kompromittierte sich.
Gangsterpolitik schildert Stephen Eric Bronner, und in den USA sieht er sie an der Macht. „Gangsterpolitik steht irgendwo zwischen Autoritarismus und Demokratie. Filz ist ihr Ethos. Gangsterpolitiker wissen, wie sie das System gamen können. Die einzige feste Regel lautet: ‘Don’t cross the boss!’, verärgere den Boß nicht. Und allein deshalb zieht er es vor, gefürchtet statt geliebt zu werden. Kabinettsmitglieder und Behördenleiter benötigen keine Expertise und keine Sicherheitsüberprüfung, was zählt, ist allein die Loyalität gegenüber dem Boß. Aber Loyalität ist eine Einbahnstraße. Heimatschutzberater, Pressesprecher, Kabinettssekretäre, Stabschefs, Assistenten, Behördenleiter, Anwälte des Weißen Hauses und Abgeordnete jeder Couleur kommen und gehen. Verwirrung und Chaos greifen um sich. In gewisser Weise ist das Ziel der Gangsterpolitik das, was Franz Neumann ‘den staatslosen Staat’ nannte. Er dient einem konkreten Zweck: Alle wissen, wer das Kommando führt. Gangsterpolitiker glauben von sich, sie seien clever. Sie reden salopp und fluchen viel, greifen den Frauen an den Hintern (oder noch schlimmer) und betonen, nie ein Buch gelesen zu haben, sie drehen intellektuellen Eliten eine Nase, prahlen mit ihrem hohen IQ und erklären, ihnen könne keiner etwas vormachen. Der Glaube an den Boß ist unerschütterlich. Nur er kann Amerika wieder groß machen. Alle, die sich seiner Politik entgegenstellen, sind Verräter. Die Geschichte lehrt, was notwendig werden könnte, um solchen Verrätern eine Lektion zu erteilen. Der Reichstagsbrand 1933 und der (inszenierte) Mord an Sergej Kirov 1934 waren die dramatischen Ereignisse, mit denen Hitler und Stalin ihre Angriffe auf Gegner, Renegaten und angebliche Staatsverräter rechtfertigten.“
Österreich ist Metaphysik berichtet der Schriftsteller Herbert Maurer aus Wien und unternimmt einen gegenwartsdiagnostischen Lackmustest. „Es gibt immer mehr Menschen, die an den Gau Groß-Wien denken, wenn sie von der ‘goldenen Wienerstadt’ sprechen. Die Zeiten von ‘Wean, du bist mei Toschnveitl und a Himml voll Schädelweh’ (Wien, du bist mein Taschenmesser und ein Himmel voll Kopfschmerz) schwinden dahin. Niederösterreich wird wieder zum Gau Niederdonau, Oberösterreich folgerichtig zum Gau Oberdonau. Daß Wien einmal die Hauptstadt von ‘Deutsch-Österreich’ war, haben viele nicht vergessen, und es gibt immer mehr, die sich daran erinnern. Schon Anton Wildgans, ein Dichter des eher gemäßigten, tennisspielenden Austrofaschismus, sprach vom Volk der ‘Tänzer und Geiger’ als Gegenmodell zum Volk der ‘Dichter und Denker’. Sein Konkurrent, der bis in Oskar Werners Zeiten beliebte Dichter und Fleischhauerlehrling Josef Weinheber (nomen est omen), hat sich in dieses Wienerische als Flucht vor der Deutschtümelei oder auch aus Hinterlist oder kleinbürgerlicher Schläue hineingesteigert. Wien wörtlich ist ein Hauptwerk dieser reaktionären Résistance gegen das Großreich, das dann eben doch nicht unwillkommen war. (...) Für einen gelernten Wiener wie Weinheber beginnen die Staatsgrenzen so wie alle Definitionen und Begrifflichkeiten nach dem dritten Viertel Wein friedlich zu verschwimmen, der sogenannte Anschluß war da nur eine Folgeerscheinung ... Warum ist die Sangesfreude dort so stark? Und was wird heute gesungen? ‘Es lagen die alten Germanen ...’“
30 Jahre Lettre International – einige Fakten und Zahlen
Diese Jubiläumsausgabe ist Resultat eines internationalen und interdisziplinären publizistischen Konzepts, eines kreativen, interdisziplinären, kosmopolitischen Experiments. Lettre ist wahrscheinlich die internationalste intellektuelle Zeitschrift aller Zeiten in deutscher Sprache.
In den 30 Jahren und 121 Nummern der Zeitschrift seit Gründung am 26. Mai 1988 sind fast 3.600 Texte, aus über 40 verschiedenen Sprachen übersetzt, von Autoren aus 96 Ländern, erschienen. 80 Prozent dieser Texte sind Übersetzungen gewesen, 20 Prozent waren in deutscher Sprache verfaßt. Dazu kommen weit über 500 Beiträge von Künstlern und Photographen. Die Texte sind fast ausnahmslos deutsche Erstveröffentlichungen. Lettre hat zahlreiche Autoren für den deutschen Sprachraum entdeckt. Jedes Heft wurde von einem Künstler gestaltet.
Diese Arbeit beruht ökonomisch so gut wie ausschließlich auf dem Verkauf der Hefte und den Anzeigeneinnahmen, ohne jede strukturelle Alimentierung der vielen öffentlichen Hände oder privater Sponsoren. Lettre ist eine gelungene Wette auf die Möglichkeit einer unabhängigen Zeitschrift, abhängig nur von ihren Lesern und Anzeigenkunden. Hinsichtlich des internationalen Charakters wie auch des schwierigen unabhängigen Überlebens dürfte Lettre durchaus eine Erfolgsgeschichte darstellen.


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