Haimo L. Handl
Lese- und Denkabenteuer
(Thoreau & Co.)
1973 reiste ich das erste Mal
in die Vereinigten Staaten von Amerika. Was für Goethe Italien war, sollte mir
Nordamerika werden. Ich hatte vor, ca. ein halbes Jahr zu reisen und nicht nur
in den Großstädten zu leben. Auf meine Reise, die mich in 30 Bundesstaaten
sowie das südöstliche Kanada führte, hatte ich mich mit ausgewählter Lektüre
vorbereitet.
Ich kannte einiges an
Literatur der Beat-Generation, hatte viel von Walt Whitman gelesen und die
sogenannten „linken“ Autoren, wie z.B. Herbert Marcuse oder Jerry Rubin.
Fasziniert war ich vom Engländer Aldous Huxley, der Amerikaner geworden war, dessen
Dystopie „Brave New World“, noch vor dem 2. Weltkrieg 1932 publiziert, eine
hoch interessante Gegenüberstellung zu Orwells „1984“ (1949 erschienen)
bildete. Von Huxley hatte ich kurz vor der Reise auch das schmale Büchlein
„Brave New World revisited“ mir vorgenommen, das 1958 als rückblickende
Auslegung und Erläuterung erschien. Im Buch „Prismen. Kulturkritik und
Gesellschaft“ von Theodor W. Adorno (1955, Wissenschaftliche Sonderausgabe
1969), dessen Sonderausgabe des Suhrkampverlages ich ebenfalls im Frühjahr 1973
erwarb und studierte, fand ich den Beitrag „Aldous Huxley und die Utopie“,
dessen Beginn mich aufhorchen (aufsehen) ließ:
Die europäische Katastrophe, die ihren langen
Schatten vorauswarf, hat zum ersten Male in Amerika den Typus der
intellektuellen Emigration hervorgebracht. Wer im neunzehnten Jahrhundert in
die neue Welt ging, den lockten die unbegrenzten Möglichkeiten; er wanderte
aus, um sein Glück zu machen oder wenigstens das Auskommen zu finden, das
übervölkerte europäische Länder ihm versagten. Das Interesse der
Selbsterhaltung war stärker als das der Erhaltung des Selbst, und der wirtschaftliche
Aufschwung der Vereinigten Staaten stand im Zeichen des gleichen Prinzips, das
den Auswanderer über den Ozean trieb. Er bemühte sich um erfolgreiche
Anpassung, nicht um Kritik, welche den Rechtsanspruch und die Aussicht der
eigenen Anstrengung angekränkelt hätte. Beherrscht vom Kampf um die
Reproduktion des Lebens, waren die Ankömmlinge weder ihrer Bildung und
Vergangenheit noch ihrer Stellung im gesellschaftlichen Prozeß nach dazu
angetan, von der Übergewalt des tobenden Daseins sich zu distanzieren. (…)
Die Skepsis eines Besuchers wie Tocqueville,
der vor hundert Jahren bereits den Aspekt der Unfreiheit an der hemmungslosen
Egalität wahrnahm, blieb die Ausnahme; Auflehnung gegen das, was man im Jargon
der deutschen Kulturkonservativen Amerikanismus nannte, gab es eher bei
Amerikanern wie Poe, Emerson und Thoreau als bei den Neuankömmlingen. (…)
Dem Intellektuellen von drüben wird
unmißverständlich bedeutet, daß er sich als autonomes Wesen auszumerzen habe,
wenn er etwas erreichen – unter die Angestellten des zum Supertrust
zusammengeschlossenen Lebens aufgenommen werden will. (…)
Huxleys ›Brave New World‹ ist deren
Niederschlag, oder vielmehr ihre Rationalisierung. Der Roman, eine
Zukunftsphantasie mit rudimentärer Handlung, versucht, die Schocks aus dem
Prinzip der Entzauberung der Welt zu begreifen, es ins Aberwitzige zu steigern
und die Idee von Menschenwürde der durchschauten Unmenschlichkeit abzutrotzen.
(…)
Die Erkenntnis von der Nichtigkeit des
Individuums, gesellschaftlich wahr, wird auf das privat überforderte Individuum
abgewälzt. Daß es fungibel, in Wahrheit nicht es selber, sondern die
»Charaktermaske« der Gesellschaft ist, rechnet Huxleys Buch, wie sein gesamtes
œuvre, dem verabsolutierten Individuum als seine Schuld, als Unechtheit, Verlogenheit,
beschränkten Egoismus, als all das an, worauf subtil beschreibende
Ichpsychologie pochen kann. Im authentischen bürgerlichen Geiste ist der
Einzelne für Huxley zugleich alles – weil er nämlich einmal das Prinzip der
Eigentumsordnung abgab – und nichts, absolut ersetzbar als bloßer Träger des
Eigentums. Das ist der Preis, den die Ideologie des Individualismus für die
eigene Unwahrheit zu entrichten hat. Das fabula docet des Romans ist
nihilistischer, als es der Humanität recht sein kann, die er proklamiert.
Diese Kritik schien mir im
Lichte von Huxleys Schrift „Brave New World revisited“ als übertrieben und
einseitig. Aber sie sensibilisierte und lenkte meinen Blick auch auf Emerson
und Thoreau, von denen ich nur wenige politische Schriften kannte, vor allem
zum zivilen Ungehorsam. Im Buch „Brave New World revisited“ geht der Huxley auf
seine Dystopie näher ein und kommentiert bzw. ergänzt seine Vision mit
Erkenntnissen seiner Gegenwart (27 Jahre nach Abfassen der negativen Utopie)
und erläutert die Problemkreise in 12 Kapiteln: 1) Over-Population, 2)
Quantity, Quality, Morality, 3) Over-Organization, 4) Propaganda in a
Democratic Society, 5) Propaganda Under a Dictatorship, 6) Ther Arts of
Selling, 7) Brainwashing, 8) Chemical Persuasion, 9) Subconscious Persuasion,
10) Hypnopaedia, 11) Education for Freedom, 12) What Can Be Done? Was im
Einzelnen schier unannehmbar erscheinen mag, gewinnt als Ganzes humanistischen
Sinn. Vergleicht man die Arbeiten der Behavioristen (Skinner und Co.), wird der
Abstand bzw. das Trennende zur Position von Huxley überdeutlich. Die Warnung
für der gesellschaftlichen, ausbeuterischen Verwaltung und Zurichtung ist klar
und eindeutig; ihr liegt die unbedingte Wertschätzung des Individuums zugrunde.
In vielem berühren sich Aussagen der Kulturkritik der Frankfurter Schule mit
seinen Überlegungen. Reizvoll der Vergleich des 11. Kapitels mit Adornos Aufsatz
"Erziehung nach Auschwitz" (in "Stichworte. Kritische Modelle 2,
1969), wo es zu Beginn heißt:
Die
Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an
Erziehung. (...) Sie zu begründen hätte etwas Ungeheuerliches angesichts des
Ungeheuerlichen, das sich zutrug. Daß man aber die Forderung, und was sie an
Fragen aufwirft, so wenig sich bewußt macht, zeigt, daß das Ungeheuerliche
nicht in die Menschen eingedrungen ist, Symptom dessen, daß die Möglichkeit der
Wiederholung, was den Bewußtseins- und Unbewußtseinsstand der Menschen anlangt,
fortbesteht. (...)
Es war die Barbarei, gegen die alle Erziehung
geht. Man spricht vom drohenden Rückfall in die Barbarei. Aber er droht nicht,
sondern Auschwitz war er; Barbarei besteht fort, solange die Bedingungen, die
jenen Rückfall zeitigten, wesentlich fortdauern. (...)
Unter
den Einsichten von Freud, die wahrhaft auch in Kultur und Soziologie
hineinreichen, scheint mir eine der tiefsten die, daß die Zivilisation
ihrerseits das Antizivilisatorische hervorbringt und es zunehmend verstärkt.
Seine Schriften ›Das Unbehagen in der Kultur‹ und ›Massenpsychologie und Ich-
Analyse‹ verdienten die allerweiteste Verbreitung gerade im Zusammenhang mit
Auschwitz. Wenn im Zivilisationsprinzip selbst die Barbarei angelegt ist, dann
hat es etwas Desperates, dagegen aufzubegehren. (...)
Man
wird weiter die Erwägung nicht von sich abweisen können, daß die Erfindung der
Atombombe, die buchstäblich mit einem Schlag Hunderttausende auslöschen kann, in
denselben geschichtlichen Zusammenhang hineingehört wie der Völkermord. Die
sprunghafte Bevölkerungszunahme heute nennt man gern Bevölkerungsexplosion: es
sieht aus, als ob die historische Fatalität für die Bevölkerungsexplosion auch
Gegenexplosionen, die Tötung ganzer Bevölkerungen, bereit hätte. Das nur, um
anzudeuten, wie sehr die Kräfte, gegen die man angehen muß, solche des Zuges
der Weltgeschichte sind.
Mir scheint, dass Huxley
diese gesellschaftliche Komponente berücksichtigt, insbesondere in seiner
Wertung der Standardisierung und ihrer Gefahren für die individuelle
Lebensgestaltung. Er betonte die Gefahren der Vereinfachungen, der sprachlichen
Reduktionen und wies auf Machenschaften der unterschiedlichen Manipulateure
hin, in der Werbung ebenso wie in den Wissenschaften, der Kultur und vor allem
der Politik. Er widersprach den Milieutheorien bzw. den Behavioristen und
insistierte auf den Eigenheiten der Individuen.
Ich weiß nicht mehr, wie ich
über Steiner zum amerikanischen Linguisten und linken Kritiker Noam Chomsky
kam. Jedenfalls über die Linguistik, weil ich begierig George Steiners Kritik
an der Grammatiktheorie von Chomsky las, was dazu führte, dass ich nicht nur
einige sprachwissenschaftliche Werke des Linguisten Chomsky erwarb, sondern,
noch im Frühjahr 1973, seine politische Kritik „Amerika und die neuen
Mandarine“ (,„American Power and the New Mandarins“, Orig. und Übersetzung
1969), ein aktuelles Buch, das über die Verantwortung des Intellektuellen
ebenso sprach wie es eine vehemente Kritik des Vietnamkrieges führte. Die
Kollaboration von Intellektuellen im Bereich der Wissenschaft, das Mitwirken
von profitgeilen Unternehmern und willfährigen Journalisten bzw.
Werbefachleuten, kurz das Regime der Ausbeuter wird heftig kritisiert. Die
Täuschungsmanöver, die gezielten Desinformationen und Lügen werden angeführt
und mit Beispielen belegt. Chomsky liefert eine harsche Kritik.
George Steiner geht allerdings
auf den Linguisten Chomsky ein und behandelt die kulturellen, literarischen
oder sprachlichen Aspekte. Hier wird auch die Bewertung der Linguistik, wie von
Chomsky vertreten, besonders interessant, weil das Transzendente der
Transzendentialisten, zu denen auch Thoreau zu rechnen ist (neben Emerson,
Hawthorne, Whitman und Melville) ausgeblendet wird bzw. alles Metaphysische
oder gar Mystische, was George Steiner bedauernd hervorhebt. Schon im Vorwort
zu seiner Anthologie „Extra-Territorial. Papers on Literature and the Language
Revolution“ (1971) geht er auf den Disput mit Chomsky und Anhängern der
transformalen generativen Grammatik ein:
I am persuaded that the
phenomenon of language is such that a rigorously idealized and nearly
mathematical account of the deep structures and generation of human speech is
bound to be incomplete and, very possibly, distorting. It is the thinness, the
determinism of the generative transformational case–particularly in its current
dogmatic vein–that I find disturbing. It is the refusal to see at how immediate
a level problems of formal description become a matter of general philosophy
and of the image one has of man’s relations to the Logos. (…)
Chomskian linguistics is
insistent, often polemically, on its innovative autonomy. It is also rigorous
in its inference of what is or is not relevant, of wat is or is not
respectable. (…) This has meant not only a daqmaqging failure to take just
account of a good deals of the philosophic-linguistic work of Saussure (…), of
Wittgenstein, and of I. A. Richards, but a total indifference to the more
speculative, meta-logical areas of the philosophy of language.
In diesem Zusammenhang sind
seine Aufsätze “The Language Animal” sowie “Tongues of Men – with some comments
by Noam Chomsky“ von besonderem Interesse. Die sprachphilosophische
Auseinandersetzung kann oder soll hier nicht erfolgen, es reicht der Hinweis
auf das kulturelle Umfeld, in welchem die Begegnung mit Thoreau erfolgte.
Eine andere historische und
politische Kritik fand ich in L. L. Matthias‘ Buch „Die Kehrseite der USA“ (1964),
a biased report, aber eben, dem Titel entsprechend, auf die Kehrseite
fokussierend. Diese Schlagseite oder Ausrichtung wurde in Deutschland heftig
kritisiert und als billiger, böser Antiamerikanismus denunziert (z.B. von
Waldemar Besson der der ZEIT vom 11.12.1964). In den Fünfziger- und
Sechzigerjahren schien die amerikanische Sonne blendend und durfte nicht
beschattet werden.
Da war Chomskys Kritik
unverholen, klar, deutlich und direkt. Seine Ausführungen „Über den Widerstand“
samt Nachtrag begeisterten mich; sie gingen weit über das Thema des
Ungehorsams, wie von Thoreau propagiert, hinaus.
Von Herbert Marcuse nahm ich
als Reiselektüre das Büchlein „Kunst und Revolution“ mit, das schier
zerfleddert die Reise überlebte. Die Konfrontation linken utopischen Denkens
mit der amerikanischen Realität stellte sich als einerseits reizvoll,
andererseits ernüchternd dar.
Ein Amerikaner, der Engländer
geworden war, T. S. Eliot, sprach mich weniger mit seinen Dramen an, als mit
seinen Gedichten; zu meinen Favoriten zählte ich neben „The Waste Land“ vor
allem „The Hollow Men“. Eliot hatte auch Essays verfasst, von denen ich damals
nur einen kannte: „Notes Towards the Definition of Culture“(1948); ich habe
heute noch die deutsche Übersetzung, die in Rowohlts Deutscher Enzyklopädie
erschienen war (rde 136), und die ich in Zürich, wo ich 1972 bis zur
Amerikareise im Sommer 1973 bei der Schweizerischen Bankgesellschaft mir das
Geld für die Reise erarbeitete, erworben hatte. Was mich in der deutschen
Taschenbuchausgabe negativ überraschte, war der Aufsatz von Hendrik de Man als
enzyklopädisches Stichwort “Kultur oder Zivilisation“, eine nicht nur
untaugliche Konterstellung im Titel, sondern eine erzkonservative Einführung
eines Autors, der als Sozialist und Nazikollaborateur in Verruf geraten war.
Dass der Rowohlt Verlag 1961 diesen Text dieses Autors wählte, färbte Eliots
Arbeit ungut ein.
Zu diesem Büchlein hat der
amerikanische Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker George Steiner
eine Art Gegenschrift veröffentlicht: „In Bluebeard’s Castle. Some Notes
Towards the Re-definition of Culture“ (1971). Ich hatte also die konservative
Definition von Kultur als auch ihre etwas weniger konservative Redefinition.
Von Henry David Thoreau kannte ich zuerst seine Schrift „Civil
Disobedience “(“Resistance to Civil Government”, or “On the Duty of Civil
Disobedience“ (1849). Erst kurz vor
meiner Reise besorgte ich mir “Walden” (1854), das während meiner Reise
verloren ging, so dass ich es später nochmals erwarb (eine Ausgabe
herausgegeben und eingeleitet von Joseph Wood Krutch „Walden and Other
Writings“). Neben Whitman und Thoreau las ich während der Reise den damals
bekannt gewordenen Carlos Castaneda oder den LSD-Apostel Timothy Leary sowie
Allen Ginsberg, Peter Orlovsky, Jack Kerouac, Lawrence Ferlinghetti, William
Carlos William oder William S. Burroughs und einige konventionelle Autoren wie
Philip Roth und andere.
„Walden“ hätte ich fast
weggelegt, weil das erste Kapitel „Economy“ mich schier langweilte mit den
Aufzählungen von Materialien, Werkzeug und Kosten, die der Autor zur Errichtung
seiner Hütte brauchte. Irgendwie erinnerte mich das an die kleinliche
Pedanterie, die eine Art von Sicherheit erzeugen soll, wie bei Defoes
„Robinson“. Doch dann las ich weiter, überwand mich und fand sogar Gefallen an
der Geschichte des temporären Aussteigers, der in pragmatischer Sicherheit sich
dennoch erprobte.
Ich sitze im Bus und
betrachte die vorbeihuschende Landschaft, eingefärbt vom Grün des
Sonnenschutzglases. Nein, die Landschaft liegt da (sie steht nicht, sitzt
nicht, sie liegt), aber durch das Busfenster erscheint sich vorüberziehend. Ich
gleite in eine Art Dämmerzustand, in welchem sich Erinnerungen mischen mit den
monochromen Bildern. „At present I am a sojourner in civilized life again.“ (Alle Zitate, wenn nicht anders vermerkt, aus Thoreaus
“Walden”.) Ich lerne, nicht automatisch, nicht vorschnell, meine gewohnten
Sichten zu sehen oder auf Grund ihrer wie gewohnt, also gewöhnlich zu deuten.
Ich sitze im Bus, atme nicht ausreichend gekühlte Luft, höre die Fahrgeräusche nur
entfernt, döse irgendwie. „I see young men, my townsmen, whose misfortune it
is to have inherited farms, houses, barns, cattle, and farming tools; for these
are more easily acquired than got rid of.“ Aber ich treffe Leute, die zu wenig haben, die von Almosen leben, die
keine Besitzlast tragen müssen, sondern die in Warteschlangen anstehen für eine
Suppe, den Mantelkragen hochgeschlagen, als ob es windig kalt wäre. Ihnen ist
auch im Sommer kalt. Im Bus riecht man diese Leute, was bei vielen Amerikanern,
die noch nicht so tief gefallen oder gesunken sind, Aversionen oder
Aggressionen weckt. Einige kriegen, wie ich in Gesprächen hörte, nur
Aushilfsjobs, schlecht bezahlt, unsicher. Aber sogar bei den Armen, den
Entrechteten, schwärt eine Ungleichheit, ein Rassismus. Die Schwarzen, die
Latinos haben es besonders schwer. Die Rasse erscheint als Stigma einerseits,
als persönlicher Fehler andererseits. „Most men, even in this comparatively free
country, through mere ignorance and mistake, are so occupied with the
factitious cares and superfluously coarse labors of life that its finer fruits
cannot be plucked by them.” Ich
verstünde die Rassenlage nicht, ich sei ein naiver Europäer. Wenn ich
hier länger lebte, würde ich begreifen, hörte ich immer wieder. Die wenigstens
ließen sich zivilisieren. Sie machten nicht mit, heißt es. Ich sehe die
Demarkationslinien in den Suburbs: hier weiß, dort schwarz. Hier sicher und
sauber, dort dreckig und gefährlich. Hier Recht und Ordnung, dort Kriminalität
und Abschaum. „Some of you, we all know, are poor, find it hard to live, are
sometimes, as it were, gasping for breath.“ Er kam auf mich zu, fragte nach der Zeit. Als ich den linken Arm hob um
auf die Uhr zu blicken, griff er danach, wollte sie mir runterreißen. Wie oft
werde ich noch Auskunft geben? So wie letzthin, als ich unvorsichtiger Weise
nicht einfach nach ein paar Münzen in der Hosentasche griff, sondern meine
Geldbörse öffnete, was zum Zugriff verleitete. Sie sind ja arm. Sie sind am
Hund. Sie haben nicht einmal eine Hütte, schon gar nicht am Weiher oder See. Sie
leben in Hauseinfahrten, Höfen, so lange, bis man sie verjagt, bis die Cops
auftauchen mit ihren Schlagstöcken und Colts. „The mass of men lead lives
of quiet desperation. What is called resignation is confirmed desperation. From
die desperate city you go into the desperate country, and have to console
yourself with the bravery of minks und muskrats.”
Henry David Thoreau hatte
gute Freunde. Er hatte nicht nur eine
Ausbildung, sondern war gebildet. Er versuchte zu verstehen. Er setzte sich
aus. Er prüfte, Er dachte. Er hätte sicher geschmunzelt über die Bemerkung von
Nietzsche:
„Die Fähigkeit, uns selber zu
vergessen, die Hingebung, die Aufopferung — all das Verdienst so seltener Gaben
ist verloren für den, welcher nicht weiß, sich geliebt zu machen, wenn er
liebt. Diese leidenschaftlichen Seelen werden dann undankbar: sie profitiren
von ihrer Civilisation, um sie zu verläumden. Wo können sie denn leben, wenn
nicht in den Wäldern und nicht in der Welt!“
Nachgelassene Fragmente
1884 25(76)
Thoreau war zwar nie
verheiratet, aber nie einsam verlassen. Und er vermochte gut zu leben, nicht
nur in der Hütte für zwei Jahre, sondern überhaupt, obwohl er kein Streber war
und taugte nicht für das industrielle Leben. Die Resignation, die er als
Verzweiflung erkannte, war ihm keine Gefahr. Er hatte sich eine
Eigenständigkeit erarbeitet, auf die einige Beobachtungen von Adorno zutreffen,
die in seinem Text „Resignation“ (1969) zu lesen sind neben Sätzen, die eine
kritische Prüfung seiner Haltung herausfordern:
Pseudo-Aktivität
ist generell der Versuch, inmitten einer durch und durch vermittelten und
verhärteten Gesellschaft sich Enklaven der Unmittelbarkeit zu retten.
Rationalisiert wird das damit, die kleine Veränderung sei eine Etappe auf dem
langen Weg zu der des Ganzen. Das fatale Modell von Pseudo-Aktivität ist das
»Do it yourself«, Mach es selber: Tätigkeiten, die, was längst mit den Mitteln
der industriellen Produktion besser geleistet werden kann, nur um in den
unfreien, in ihrer Spontaneität gelähmten Einzelnen die Zuversicht zu erwecken,
auf sie käme es an. Der Unsinn des »Mach es selber« bei der Herstellung
materieller Güter, auch bei vielen Reparaturen, liegt auf der Hand.
Kein Zufall, daß
die Ideale unmittelbarer Aktion, selbst die Propaganda der Tat,
wiederauferstanden sind, nachdem ehemals progressive Organisationen sich willig
integrierten und in allen Ländern der Erde Züge dessen entwickeln, wogegen sie
einmal gerichtet waren.
Das Ich muß sich durchstreichen, damit es der
Gnadenwahl des Kollektivs teilhaftig werde. Unausdrücklich hat sich ein wenig
Kantischer kategorischer Imperativ aufgerichtet: du mußt unterschreiben. Das
Gefühl neuer Geborgenheit wird bezahlt mit dem Opfer autonomen Denkens. Trügend
der Trost, im Zusammenhang kollektiver Aktion werde besser gedacht: Denken, als
bloßes Instrument von Aktionen, stumpft ab wie die instrumentelle Vernunft
insgesamt. Keine höhere Gestalt der Gesellschaft ist, zu dieser Stunde, konkret
sichtbar: darum hat, was sich gebärdet, als wäre es zum Greifen nah, etwas
Regressives. Wer aber regrediert, hat Freud zufolge sein Triebziel nicht
erreicht. Rückbildung ist objektiv Entsagung, auch wenn sie sich für das
Gegenteil hält und arglos das Lustprinzip propagiert.
Demgegenüber
ist der kompromißlos kritisch Denkende, der weder sein Bewußtsein überschreibt
noch zum Handeln sich terrorisieren läßt, in Wahrheit der, welcher nicht
abläßt.
Was
einmal gedacht ward, kann unterdrückt, vergessen werden, verwehen. Aber es läßt
sich nicht ausreden, daß etwas davon überlebt. Denn Denken hat das Moment des
Allgemeinen. Was triftig gedacht wurde, muß woanders, von anderen gedacht werden:
dies Vertrauen begleitet noch den einsamsten und ohnmächtigsten Gedanken. Wer
denkt, ist in aller Kritik nicht wütend: Denken hat die Wut sublimiert. Weil
der Denkende es sich nicht antun muß, will er es auch den anderen nicht antun.
Das Glück, das im Auge des Denkenden aufgeht, ist das Glück der Menschheit. Die
universale Unterdrückungstendenz geht gegen den Gedanken als solchen.
Ich stelle mir Thoreau als
glücklichen Menschen vor. Er dachte selbst, er war unerschrocken. Er dachte
sozial. Er verstand die Kultur und sah die Abgründe und Gefahren der
Industrialisierung, besonders in seinem Land, in seiner Heimat. In „Walden“
begeisterte mich ganz besonders das Kapitel „Lektüre“ (Reading), worin er
Ansichten äußert, wie sie in Europa von Kierkegaard oder Karl Kraus
hinsichtlich der Presse geschrieben wurden bzw. Einsichten ins Lesen bietet,
wie wir sie von namhaften Philosophen oder Literaten kennen. Mir kam es vor wie
ein Sprung von Eliot zu Steiner nach vorne zurück zu Thoreau. Als ob es keine
Linearität gäbe, offerierte sich der Sinn vielfältig, alt und älter und neuer,
so dass ich Sätze hätte mischen können mit solchen aus Werken von Eliot,
Huxley, Adorno, Eco, Nietzsche (als Konterpart) zu einem sinnvollen Gefüge,
angereichert mit Humboldt und Herder oder Schelling und Novalis, aber auch von
Edmund Wilson, dem eminenten amerikanischen Literaturkritiker, Redakteur und
Herausgeber, F. R. Leavis oder Jorge Luis Borges und Hugeo von Hofmannsthal
oder auch Martin Heidegger, der den Amerikaner noch fremder ist als den
Europäern.
Thoreau liefert eine
Zivilisationskritik. Um seine Position, seine Leistung zu würdigen, sollte man
sich klar machen, in welcher Zeit er lebte und schrieb. Was ereignete sich
1839, 1848 oder 1854, als Thoreaus „Walden“ erschien in Europa und den USA?
Welche Errungenschaften waren erreicht? Wie in einem Kulturfahrplan üblich
müsste man sich einen Überblick verschaffen in unterschiedlichen Bereichen wie
Literatur, Bildende Kunst, Musik oder Oper, Religion oder Philosophie,
Wirtschaft, Wissenschaft und Technik sowie Politik (Kriege etc.).
Zum Transzendentalismus der
USA (1830-1860) korrespondiert in Europa das Biedermeier bzw. der Vormärz (1815
bzw. 1825-1848) und Realismus (1848-1890), zum Viktorianischen Zeitalter
(1837-1901) im anglophonen Raum haben
wir den Naturalismus (1880-1900). Wer sind in den verschiedenen Gebieten die
herausragenden Persönlichkeiten?
Ein kleines Beispiel:
1838-1839-1840 Opiumkrieg der
Briten in China (bis 1842), Bürgerkrieg in Uruguay (bis 1886), Briten erobern
Hong Kong; Adelbert von Chamisso stirbt, Gedeichte von Droste-Hülshoff und
Mörike, Sagen von Schwab, „Der Dämon“ von Lermontow, Lehrgedicht von Rückert,
Roman von Stendhal, Dramen von Grillparzer und Hebbel; Société d’Ethnologie in
Paris gegründet, Streitschrift von Proudhon, erste Arbeiterbildungsvereine in
Deutschland; Delacroix, Turner, Spitzweg neue Arbeiten, Caspar David Friedrich
stirbt; Berlioz „Benvenuto Cellini“ und „Romeo und Julia“, Chopin „Préludes“,
Schumann „Nachtstücke“, Paganini stirbt;
1848 Revolutionsjahr,
Kommunistisches Manifest;
1854-1855 USA Gründung der
rep. Partei, G. Keller „Der grüne Heinrich“, Uraufführung von Faust 2 in
Hamburg, Schelling stirbt, Gobineau „Versuch über die Ungleichheit der Rassen“,
Kierkegaard stirbt, ETH Zürich gegründet; J. Burckhardt „Cicerone“, Berlioz „Te
Deum“, Liszt „Les Préludes“, Richard Wagner „Der Ring des Nibelungen“
(vollendet 1874), Verdi „Sizilianische Vesper“, Karl Friedrich Gauß stirbt,
Drucktelegraph von David Edward Hughes, Livingstone entdeckt in Afrika
Victoriafälle; Erste Kriegsfotos von Roger Benton, Anschlagsäulen von Ernst
Litfaß, Weltausstellung in Paris, 1. Warenhaus in Paris.
Im Detail wäre interessant zu
wissen und zu vergleichen die jeweilige nationale Population, Arbeiterschaft,
Industrialisierung, Einkommensverteilung, Verkehrswesen, Bildungsgrad
(Alphabetisierung), Anzahl an Volksschulen und Höheren Schulen, Zeitungen sowie
Buchproduktion und Anzahl/Größe der Bibliotheken.
So könnte ein Bild der Zeit,
ein Panorama der Zeiten entstehen, in welchem oder in welchen Sätze wie von
Thoreau „Ich wollte tief leben“ gegenübergestellt werden dem Satz von Nietzsche
„Gefährlich leben“, wo Sätze des Prosaikers Adalbert Stifter aus seinem
Nachsommer konterkariert werden mit ähnlichen von Thoreau:
Jetzt kann sich eine kleine Landstadt und ihre
Umgebung mit dem, was sie hat, was sie ist, und was sie weiß, absperren, bald
wird es aber nicht mehr so sein, sie wird in den allgemeinen Verkehr gerissen
werden. Dann wird, um der Allberührung genügen zu können, das, was der
Geringste wissen und können muß, um vieles größer sein als jetzt.
Die Staaten, die durch Entwicklung des
Verstandes und durch Bildung sich dieses Wissen zuerst erwerben, werden an
Reichtum, an Macht und Glanz vorausschreiten und die andern sogar in Frage
stellen können. Welche Umgestaltungen wird aber erst auch der Geist in seinem
ganzen Wesen erlangen?
Diese Wirkung ist bei weitem die wichtigste.
Der Kampf in dieser Richtung wird sich fortkämpfen, er ist entstanden, weil
neue menschliche Verhältnisse eintraten, das Brausen, von welchem ich sprach,
wird noch stärker werden, wie lange es dauern wird, welche Übel entstehen
werden, vermag ich nicht zu sagen; aber es wird eine Abklärung folgen, die
Übermacht des Stoffes wird vor dem Geiste, der endlich doch siegen wird, eine
bloße Macht werden, die er gebraucht, und weil er einen neuen menschlichen
Gewinn gemacht hat, wird eine Zeit der Größe kommen, die in der Geschichte noch
nicht dagewesen ist.
(Stifter, Der
Nachsommer, 1857)
I know that most men think differently
from myself; but those whose lives are by profession devoted to the study of
these or kindred subjects, content me as little as any. Statesmen and
legislators, standing so completely within the institution, never distinctly
and nakedly behold it. They speak of moving society, but have no resting-place
without it. They may be men of a certain experience and discrimination, and
have no doubt invented ingenious and even useful systems, for which we
sincerely thank them; but all their wit and usefulness lie within certain not very
wide limits. They are wont to forget that the world is not governed by policy
and expediency. Webster never goes behind government, and so cannot speak with
authority about it. His words are wisdom to those legislators who contemplate
no essential reform in the existing government; but for thinkers, and those who
legislate for all time, he never once glances at the subject. I know of those
whose serene and wise speculations on this theme would soon reveal the limits
of his mind's range and hospitality. Yet, compared with the cheap professions
of most reformers, and the still cheaper wisdom and eloquence of politicians in
general, his are almost the only sensible and valuable words, and we thank
Heaven for him. Comparatively, he is always strong, original, and, above all,
practical. Still, his quality is not wisdom, but prudence. The lawyer's truth
is not truth, but consistency or a consistent expediency. Truth is always in
harmony with herself, and is not concerned chiefly to reveal the justice that
may consist with wrong-doing. He well deserves to be called, as he has been
called, the Defender of the Constitution. There are really no blows to be given
by him but defensive ones. He is not a leader, but a follower. His leaders are
the men of '87. "I have never made an effort," he says, "and
never propose to make an effort; I have never countenanced an effort, and never
mean to countenance an effort, to disturb the arrangement as originally made,
by which the various States came into the Union." Still thinking of the
sanction which the Constitution gives to slavery, he says, "Because it was
a part of the original compact—let it stand." Notwithstanding his special
acuteness and ability, he is unable to take a fact out of its merely political
relations, and behold it as it lies absolutely to be disposed of by the
intellect—what, for instance, it behooves a man to do here in America to-day
with regard to slavery, but ventures, or is driven, to make some such desperate
answer as the following, while professing to speak absolutely, and as a private
man—from which what new and singular code of social duties might be inferred?
"The manner," says he, "in which the governments of those States
where slavery exists are to regulate it is for their own consideration, under their
responsibility to their constituents, to the general laws of propriety,
humanity, and justice, and to God. Associations formed elsewhere, springing
from a feeling of humanity, or any other cause, have nothing whatever to do
with it. They have never received any encouragement from me, and they never
will."
They who know of no purer sources of truth, who have traced up its stream no higher, stand, and wisely stand, by the Bible and the Constitution, and drink at it there with reverence and humility; but they who behold where it comes trickling into this lake or that pool, gird up their loins once more, and continue their pilgrimage toward its fountain-head.
No man with a genius for legislation has appeared in America. They are rare in the history of the world. There are orators, politicians, and eloquent men, by the thousand; but the speaker has not yet opened his mouth to speak who is capable of settling the much-vexed questions of the day. We love eloquence for its own sake, and not for any truth which it may utter, or any heroism it may inspire. Our legislators have not yet learned the comparative value of free-trade and of freedom, of union, and of rectitude, to a nation. They have no genius or talent for comparatively humble questions of taxation and finance, commerce and manufacturers and agriculture. If we were left solely to the wordy wit of legislators in Congress for our guidance, uncorrected by the seasonable experience and the effectual complaints of the people, America would not long retain her rank among the nations. For eighteen hundred years, though perchance I have no right to say it, the New Testament has been written; yet where is the legislator who has wisdom and practical talent enough to avail himself of the light which it sheds on the science of legislation?
(Thoreau: “Walden” – excerpt from the Conclusion)
They who know of no purer sources of truth, who have traced up its stream no higher, stand, and wisely stand, by the Bible and the Constitution, and drink at it there with reverence and humility; but they who behold where it comes trickling into this lake or that pool, gird up their loins once more, and continue their pilgrimage toward its fountain-head.
No man with a genius for legislation has appeared in America. They are rare in the history of the world. There are orators, politicians, and eloquent men, by the thousand; but the speaker has not yet opened his mouth to speak who is capable of settling the much-vexed questions of the day. We love eloquence for its own sake, and not for any truth which it may utter, or any heroism it may inspire. Our legislators have not yet learned the comparative value of free-trade and of freedom, of union, and of rectitude, to a nation. They have no genius or talent for comparatively humble questions of taxation and finance, commerce and manufacturers and agriculture. If we were left solely to the wordy wit of legislators in Congress for our guidance, uncorrected by the seasonable experience and the effectual complaints of the people, America would not long retain her rank among the nations. For eighteen hundred years, though perchance I have no right to say it, the New Testament has been written; yet where is the legislator who has wisdom and practical talent enough to avail himself of the light which it sheds on the science of legislation?
(Thoreau: “Walden” – excerpt from the Conclusion)
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