Walter Benjamin
Karl Kraus
Gustav Glück gewidmet
I. Allmensch
I. Allmensch
Wie laut wird alles.
Worte in Versen II
Worte in Versen II
Alte Stiche haben den Boten, der schreiend, mit gesträubten
Haaren, ein Blatt in seinen Händen schwingend, herbeieilt, ein Blatt, das voll
von Krieg und Pestilenz, von Mordgeschrei und Weh, von Feuer- und Wassersnot,
allerorten die »Neueste Zeitung« verbreitet. Eine Zeitung in solchem Sinn, in
der Bedeutung, die das Wort bei Shakespeare hat, ist die »Fackel«. Voll von
Verrat, Erdbeben, Gift und Brand aus dem mundus intelligibilis. Der Haß, mit
dem sie das unabsehbar wimmelnde Preßgeschlecht verfolgt, ist mehr als ein
sittlicher ein vitaler, wie ihn der Urahn auf ein Geschlecht entarteter
Zwergenschlingel geworfen hat, die aus seinem Samen gekommen sind. Der Name
»Öffentliche Meinung« schon ist ihm ein Greuel. Meinungen sind Privatsache. Die
Öffentlichkeit hat ein Interesse nur an Urteilen. Sie ist richtende oder
überhaupt keine. Aber das ist ja gerade der Sinn der öffentlichen Meinung, die
die Presse herstellt, die Öffentlichkeit unfähig zum Richten zu machen, die
Haltung des Unverantwortlichen, Uninformierten ihr zu suggerieren. In der Tat,
was sind selbst die präziseren Informationen der Tageszeitungen im Vergleich zu
der haarsträubenden Akribie, die die »Fackel« an die Darstellung rechtlicher,
sprachlicher und politischer Fakten wendet. Die öffentliche Meinung braucht sie
nicht zu kümmern. Denn die bluttriefenden Neuigkeiten dieser »Zeitung« fordern
ihren Richtspruch heraus. Und gegen keinen mit ungestümerem Drängen als gegen
die Presse selbst.
Ein Haß, wie Kraus ihn auf die Journalisten geworfen hat,
kann niemals so schlechthin in dem, was sie tun, fundiert sein — es mag so
verwerflich sein wie es will; dieser Haß muß Gründe in ihrem Sein haben, mag es
nun dem seinen so entgegengesetzt oder so verwandt sein wie immer. In der Tat
ist aber beides der Fall. Die jüngste Darstellung des Journalisten
charakterisiert ihn sogleich mit ihrem ersten Satze als »einen Menschen, der
für sich selbst und seine Existenz, wie überhaupt für die bloße Existenz der
Dinge, wenig Interesse hat, sondern die Dinge erst in ihren Beziehungen spürt,
vor allem dort, wo diese in Ereignissen aufeinandertreffen — und der in diesem
Moment selbst erst zusammengeschlosssen, wesenhaft und lebendig wird.« Was man
mit diesem Satz in Händen hält, ist nichts anderes als das Negativ des Bildes
von Kraus. In der Tat: wer hätte für sich selbst und seine Existenz ein
brennenderes Interesse gezeigt als er, der nie von diesem Thema loskommt, wer
für die bloße Existenz der Dinge, ihren Ursprung, ein aufmerksameres, wen jenes
Aufeinandertreffen des Ereignisses mit dem Datum, dem Augenzeugen oder der
Kamera in hellere Verzweiflung versetzt als ihn? Endlich hat er seine gesamten
Energien im Kampfe gegen die Phrase zusammengefaßt, die der sprachliche
Ausdruck der Willkür ist, mit der die Aktualität im Journalismus sich zur
Herrschaft über die Dinge aufwirft.
Das hellste Licht fällt auf diese Seite seines Kampfes gegen
die Presse aus dem Lebenswerk seines Mitstreiters Adolf Loos. Loos fand seine
providenziellen Gegner in den Kunstgewerblern und Architekten, die sich im
Kreise der »Wiener Werkstätten« um eine neue Kunstindustrie bemühten. Seine
Parolen hat er in zahlreichen Aufsätzen, in bleibender Formulierung zumal in
dem Artikel »Ornament und Verbrechen« niedergelegt, der 1908 in der
»Frankfurter Zeitung« erschienen ist. Der leuchtende Blitz, der in diesem
Aufsatz gezündet hat, beschrieb den sonderbarsten Zickzackweg. »Beim Lesen der
Worte von Goethe, worin die Art der Banausen und so mancher Kunstkenner,
Kupferstiche und Reliefs abzutasten, gerügt wird, ist ihm die Erkenntnis
aufgestiegen, daß, was berührt werden soll, kein Kunstwerk sein darf, und was
ein Kunstwerk ist, dem Zugriff entzogen sein muß.« Das erste Anliegen von Loos
war es demnach, Kunstwerk und Gebrauchsgegenstand zu trennen, und so ist es das
erste Anliegen von Kraus gewesen, Information und Kunstwerk
auseinanderzuhalten. Der Schmock ist im Herzen eins mit dem Ornamentiker. Als
Ornamentiker, als Verschleierer der Grenzen zwischen Journalismus und Dichtung,
als Schöpfer des Feuilletons in Poesie und Prosa ist Kraus nicht müde geworden,
Heine zu denunzieren, ja späterhin, als den Verräter des Aphorismus an die
Impression, selbst Nietzsche ihm zur Seite zu stellen. »Meine Auffassung«,
heißt es von diesem, »ist, daß er zur Mischung aus Elementen ... der zersetzten
europäischen Stile aus dem letzten Halbjahrhundert noch die Psychologie
hinzugebracht hat, und daß das neue Niveau der Sprache, das er geschaffen hat,
das Niveau des Essayismus ist, wie das Heinesche das des Feuilletonismus.«
Beide Formen erscheinen als Symptome der chronischen Krankheit, von welcher
alle Einstellungen, alle Standpunkte nur die Fieberkurve bestimmen: der Unechtheit.
Die Entlarvung des Unechten ist es, aus der dieser Kampf gegen die Presse
entstand. »Wer nur diese große Entschuldigung: zu können, was man nicht ist, in
die Welt gebracht hat?«
Die Phrase. Sie ist aber eine Ausgeburt der Technik. »Der
Zeitungsapparat verlangt, wie eine Fabrik, Arbeit und Absatzgebiete. Zu
bestimmten Zeiten am Tage — zwei- bis dreimal in großen Zeitungen — muß für die
Maschinen ein bestimmtes Quantum Arbeit beschafft und vorbereitet sein. Und
nicht aus irgendwelchem Material: alles, was in der Zwischenzeit irgendwo und
auf irgendeinem Gebiete des Lebens, der Politik, der Wirtschaft, der Kunst usw.
geschah, muß inzwischen erreicht und journalistisch verarbeitet sein.« Oder, in
großartiger Abbreviatur, bei Kraus: »Es sollte Aufschluß über die Technik
geben, daß sie zwar keine neue Phrase bilden kann, aber den Geist der
Menschheit in dem Zustand beläßt, die alte nicht entbehren zu können. In diesem
Zweierlei eines veränderten Lebens und einer mitgeschleppten Lebensform lebt
und wächst das Weltübel.« Mit einem Ruck schürzt Kraus in diesen Worten den
Knoten, zu dem Technik und Phrase sich verbunden haben. Die Lösung freilich
folgt einer anderen Schlinge: ihr ist der Journalismus durchweg Ausdruck der
veränderten Funktion der Sprache in der hochkapitalistischen Welt. Die Phrase
in dem von Kraus so unablässig verfolgten Sinne ist das Warenzeichen, das den
Gedanken verkehrsfähig macht so wie die Floskel, als Ornament, ihm den
Liebhaberwert verleiht. Aber gerade darum ist die Befreiung der Sprache
identisch mit der der Phrase — ihrer Verwandlung aus einem Abdruck in ein
Instrument der Produktion — geworden. Die »Fackel« selbst enthält davon
Modelle, wenn schon nicht die Theorie; ihre Formeln sind von der schürzenden,
niemals von der lösenden Art. Die Verschränkung eines biblischen Pathos mit der
halsstarrigen Fixierung an die Anstößigkeiten des Wiener Lebens — das ist ihr
Weg, sich den Phänomenen zu nähern. Es genügt ihr nicht, die Welt zum Zeugen
für das schlechte Benehmen eines Zahlkellners aufzurufen, sie muß die Toten aus
ihren Gräbern holen. — Mit Recht. Denn die mesquine, penetrante Fülle dieser
Wiener Caféhaus-, Preß- und Gesellschaftsskandale ist nur die unscheinbare
Bekundung eines Vorherwissens, das dann plötzlich, schneller als irgendwer es
gewärtigen konnte, an seinen eigentlichen, frühesten Gegenstand kam, um zwei
Monate nach Kriegsausbruch ihn mit jener Rede »In dieser großen Zeit« beim
Namen zu nennen, mit der alle Dämonen, die diesen Besessenen bevölkert hatten,
in die Sauherde seiner Zeitgenossenschaft hineinfuhren.
»In dieser großen Zeit, die ich noch gekannt habe, wie sie
so klein war; die wieder klein werden wird, wenn ihr dazu noch Zeit bleibt; und
die wir, weil im Bereich organischen Wachstums derlei Verwandlung nicht möglich
ist, lieber als eine dicke Zeit und wahrlich auch schwere Zeit ansprechen
wollen; in dieser Zeit, in der eben das geschieht, was man sich nicht
vorstellen konnte, und in der geschehen muß, was man sich nicht mehr vorstellen
kann, und könnte man es, es geschähe nicht-; in dieser ernsten Zeit, die sich
zu Tode gelacht hat vor der Möglichkeit, daß sie ernst werden könnte; von ihrer
Tragik überrascht, nach Zerstreuung langt, und sich selbst auf frischer Tat
ertappend nach Worten sucht; in dieser lauten Zeit, die da dröhnt von der
schauerlichen Symphonie der Taten, die Berichte hervorbringen, und der
Berichte, welche Taten verschulden: in dieser da mögen Sie von mir kein eigenes
Wort erwarten. Keines außer diesem, das eben noch Schweigen vor Mißdeutung
bewahrt. Zu tief sitzt mir die Ehrfurcht vor der Unabänderlichkeit,
Subordination der Sprache vor dem Unglück. In den Reichen der Phantasiearmut,
wo der Mensch an seelischer Hungersnot stirbt, ohne den seelischen Hunger zu
spüren, wo Federn in Blut tauchen und Schwerter in Tinte, muß das, was nicht
gedacht wird, getan werden, aber ist das, was nur gedacht wird,
unaussprechlich. Erwarten Sie von mir kein eigenes Wort. Weder vermöchte ich
ein neues zu sagen; denn im Zimmer, wo einer schreibt, ist der Lärm so groß,
und ob er von Tieren kommt, von Kindern oder nur von Mörsern, man soll es jetzt
nicht entscheiden. Wer Taten zuspricht, schändet Wort und Tat und ist zweimal
verächtlich. Der Beruf dazu ist nicht ausgestorben. Die jetzt nichts zu sagen
haben, weil die Tat das Wort hat, sprechen weiter. Wer etwas zu sagen hat,
trete vor und schweige!« Diese Bewandtnis hat es mit allem, was Kraus schrieb:
es ist ein gewendetes Schweigen, ein Schweigen, dem der Sturm der Ereignisse in
seinen schwarzen Umhang fährt, ihn aufwirft und das grelle Futter nach außen
kehrt. Der Fülle seiner Anlässe ungeachtet, scheint jeder einzelne überraschend
mit der Plötzlichkeit eines Windstoßes auf ihn hereingebrochen. Alsbald tritt
ein präziser Apparat zu seiner Bewältigung in Tätigkeit: mit dem
Ineinandergreifen von mündlicher und schriftlicher Ausdrucksform wird jede
Situation in ihren polemischen Möglichkeiten bis auf den Grund ausgeschöpft.
Mit welchen Kautelen Kraus sich dabei umgibt, ist aus dem Stacheldraht
redaktioneller Bekanntmachungen, der jedes Heft der »Fackel« umzäunt, genau so
ersichtlich wie aus den messerscharfen Definitionen und Vorbehalten in den Programmen
und den Konferencen seiner Vorlesungen »aus eigenen Schriften«. Die Dreiheit:
Schweigen, Wissen, Geistesgegenwart konstituiert die Figur des Polemikers
Kraus. Sein Schweigen ist ein Stauwerk, vor dem das spiegelnde Bassin seines
Wissens sich ständig vertieft. Seine Geistesgegenwart läßt sich keine Frage
stellen, sie ist niemals willens, Grundsätzen, die einer ihr entgegenhält, zu
entsprechen. Ihr erstes ist vielmehr, die Situation abzumontieren, die wahre
Fragestellung, welche sie enthält, zu entdecken und sie statt aller Antwort dem
Gegner zu präsentieren. Wenn man bei Johann Peter Hebel die konstruktive,
schöpferische Seite des Takts in ihrer höchsten Entfaltung findet, so bei Kraus
die destruktive und kritische. Für beide aber ist der Takt moralische
Geistesgegenwart — Stoessl sagt »in Dialektik verfeinerte Gesinnung« — und
Ausdruck einer unbekannten Konvention, die wichtiger ist als die anerkannte.
Kraus lebt in einer Welt, in der die ärgste Schandtat noch ein faux-pas ist; im
Monströsen unterscheidet er noch und zwar gerade darum, weil sein Maßstab nie
der der bürgerlichen Wohlanständigkeit ist, der oberhalb der Grenzlinie
hausbackener Schurkerei so schnell der Atem ausgeht, daß sie zu keiner
Auffassung weltgeschichtlicher mehr imstande ist.
Kraus hat diesen Maßstab schon immer gekannt und im übrigen
gibt es für wahren Takt keinen andern. Es ist ein theologischer. Denn Takt ist
nicht etwa — wie nach der Vorstellung Befangener — die Gabe, jedem unter
Abwägung aller Verhältnisse das ihm gesellschaftlich Gebührende werden zu
lassen. Im Gegenteil: Takt ist die Fähigkeit, gesellschaftliche Verhältnisse,
doch ohne von ihnen abzugehen, als Naturverhältnisse, ja selbst als
paradiesische zu behandeln und so nicht nur dem König, als wäre er mit der
Krone auf der Stirne geboren, sondern auch dem Lakaien wie einem livrierten
Adam entgegenzukommen. Diese Noblesse hat Hebel in seiner Priesterhaltung
besessen, Kraus besitzt sie im Harnisch. Sein Kreaturbegriff enthält die
theologische Erbmasse von Spekulationen, die zum letzten Mal im 17. Jahrhundert
aktuelle, gesamteuropäische Geltung besessen haben. Am theologischen Kern
dieses Begriffs aber hat sich eine Wandlung vollzogen, die ihn ganz zwanglos in
dem allmenschlichen Kredo österreichischer Weltlichkeit aufgehen ließ, das die
Schöpfung zur Kirche machte, in der man nichts mehr als hin und wieder ein
leises Weihraucharoma der Nebel an den Ritus gemahnt. Dieses Kredo hat am
gültigsten Stifter geprägt und sein Widerhall wird überall da vernehmlich, wo
Kraus mit Tieren, Pflanzen, Kindern sich befaßt. »Das Wehen der Luft,« schreibt
Stifter, »das Rieseln des Wassers, das Wachsen der Getreide, das Wogen des
Meeres, das Grünen der Erde, das Glänzen des Himmels, das Schimmern der
Gestirne halte ich für groß: das prächtig einherziehende Gewitter, den Blitz,
welcher Häuser spaltet, den Sturm, der die Brandung treibt, den feuerspeienden
Berg, das Erdbeben, welches Länder verschüttet, halte ich nicht für größer als
obige Erscheinungen, ja ich halte sie für kleiner, weil sie nur Wirkungen viel
höherer Gesetze sind ... Da die Menschen in der Kindheit waren, ihr geistiges
Auge von der Wissenschaft noch nicht berührt war, wurden sie von dem
Nahestehenden und Auffälligen ergriffen und zu Furcht und Bewunderung
hingerissen: aber als ihr Sinn geöffnet wurde, da der Blick sich auf den
Zusammenhang zu richten begann, so sanken die einzelnen Erscheinungen immer
tiefer, und es erhob sich das Gesetz immer höher, die Wunderbarkeiten hörten
auf, das Wunder nahm zu ... So wie in der Natur die allgemeinen Gesetze still
und unaufhörlich wirken, und das Auffällige nur eine einzelne Äußerung dieser
Gesetze ist, so wirkt das Sittengesetz still und seelenbelebend durch den
unendlichen Verkehr der Menschen mit Menschen, und die Wunder des Augenblickes bei
vorgefallenen Taten sind nur kleine Merkmale dieser allgemeinen Kraft.«
Stillschweigend ist in diesen berühmten Sätzen das Heilige dem bescheidenen,
doch bedenklichen Begriff des Gesetzes gewichen. Aber transparent genug ist
diese Natur Stifters und seine Sittenwelt, um mit der kantischen ganz
unverwechselbar und in ihrem Kern als Kreatur erkennbar zu bleiben. Und jene
schnöde säkularisierten Gewitter und Blitze, Stürme, Brandungen und Erdbeben —
der Allmensch hat sie der Schöpfung wieder zurückgewonnen, indem er sie zu
deren weltgerichtlicher Antwort auf das frevelhafte Dasein der Menschen gemacht
hat. Nur daß die Spanne zwischen Schöpfung und Weltgericht hier keine
heilsgeschichtliche Erfüllung, geschweige denn geschichtliche Überwindung
findet. Denn wie die Landschaft Österreichs schwellenlos die beglückende Breite
der stifterschen Prosa erfüllt, so sind ihm, Kraus, die Schreckensjahre seines
Lebens nicht Geschichte, sondern Natur, ein Fluß, verurteilt durch eine
Höllenlandschaft sich zu winden. Es ist die Landschaft, in der täglich 50 000
Baumstämme für 60 Zeitungen fallen. Kraus hat diese Information unter dem Titel
»Das Ende« gebracht. Denn daß die Menschheit im Kampfe gegen die Kreatur den
kürzeren zieht, das ist ihm so gewiß wie daß die Technik, einmal gegen die
Schöpfung ins Feld geführt, auch vor ihrem Herrn nicht haltmachen wird. Sein
Defaitismus ist von übernationaler, nämlich planetarischer Art und die
Geschichte für ihn nur die Einöde, die sein Geschlecht von der Schöpfung
trennt, deren letzter Aktus der Weltbrand ist. Als Überläufer in das Lager der
Kreatur — so durchmißt er diese Einöde. »Und nur das Tier, das Menschlichem
erliegt, | ist Held des Lebens«: nie hat das altväterische Kredo Adalbert
Stifters eine so finstere, heraldische Prägung erfahren.
Die Kreatur ist es, in deren Namen Kraus immer wieder dem
Tier und »dem Herzen aller Herzen, jenem des Hundes« sich zuneigt, für ihn der
wahre Tugendspiegel der Schöpfung, in welchem Treue, Reinheit, Dankbarkeit uns
aus verlorener Zeitenferne herüberlächeln. Wie beklagenswert, daß sich Menschen
an dessen Stelle setzen! Das sind die Anhänger. Mehr und lieber als um den
Meister scharen sie sich mit unschönem Wittern um den zu Tode getroffenen
Gegner. Gewiß, der Hund ist nicht umsonst das emblematische Tier dieses Autors:
der Hund, der ideale Fall des Anhängers, der nichts ist außer ergebene Kreatur.
Und je persönlicher und unbegründeter diese Ergebenheit, um so besser. Kraus
hat recht, sie auf die härteste Probe zu stellen. Wenn aber etwas das unendlich
Fragwürdige dieser Geschöpfe zum Ausdruck bringt, so ist es, daß sie allein aus
denen sich rekrutieren, die Kraus selber geistig erst ins Leben gerufen, die er
in ein und demselben Akt zeugte und überzeugte. Bestimmen kann sein Zeugnis nur
die, denen es Zeugung nie werden kann.
Höchst folgerecht, wenn der verarmte, reduzierte Mensch
dieser Tage, der Zeitgenosse, nur noch in jener verkümmertsten Form: als
Privatmann, im Tempel der Kreatur eine Freistatt verlangen darf. Wieviel
Verzicht und wieviel Ironie liegt in dem sonderbaren Kampfe für die »Nerven«,
die letzten Wurzelfäserchen des Wieners, an denen Kraus noch Muttererde
entdecken konnte. »Kraus«, schreibt Robert Scheu, »hatte einen großen
Gegenstand entdeckt, der nie zuvor die Feder eines Publizisten in Bewegung
gesetzt hat: Die Rechte der Nerven. Er fand, daß sie ein ebenso würdiger
Gegenstand einer begeisterten Verteidigung seien wie Eigentum, Haus und Hof,
Partei und Staatsgrundgesetz. Er wurde der Anwalt der Nerven und nahm den Kampf
gegen die kleinen Belästiger des Alltags auf, aber der Gegenstand wuchs ihm
unter den Händen, er wurde zum Problem des Privatlebens. Es ist zu verteidigen
gegen Polizei, Presse, Moral und Begriffe, schließlich überhaupt gegen den
Nebenmenschen, immer neue Feinde zu entdecken, wurde sein Beruf.« Wenn
irgendwo, tritt hier das seltsame Wechselspiel zwischen reaktionärer Theorie
und revolutionärer Praxis zutage, dem man bei Kraus allerorten begegnet. In der
Tat, das Privatleben gegen Moral und Begriffe zu sichern in einer Gesellschaft,
die die politische Durchleuchtung von Sexualität und Familie, von
wirtschaftlicher und physischer Existenz unternommen hat, in einer
Gesellschaft, die sich anschickt, Häuser mit gläsernen Wänden zu bauen, deren
Terrassen sich tief in die Stuben hineinziehen, die nun schon keine Stuben mehr
sind — diese Parole wäre die reaktionärste, wäre es nicht gerade dasjenige
Privatleben, das im Gegensatze zum bürgerlichen dieser gesellschaftlichen
Umwälzung streng entspricht, mit einem Worte, das sich selber abmontierende,
sich selber offenkundig gestaltende Privatleben der Armen, wie Peter Altenberg,
der Aufwiegler, wie Adolf Loos einer war, dessen Schutz Kraus zu seiner Sache
gemacht hat. In diesem Kampfe — und nur in ihm — haben denn auch die Anhänger
ihren Nutzen, indem nämlich gerade sie über die Anonymität, in die der
Satiriker seine Privatexistenz zu schließen versuchte, am selbstherrlichsten
sich hinwegsetzen, und nichts gebietet ihnen Einhalt als der Entschluß, mit dem
Kraus selber vor die Schwelle tritt, um die Honneurs der Ruine zu machen, in
der er »Privatmann« ist.
So entschieden er dann, wenn der Kampf es fordert, sein
eigenes Dasein zur öffentlichen Sache zu machen weiß, so rücksichtslos ist er
seit jeher jener Unterscheidung persönlicher von sachlicher Kritik
entgegengetreten, mit deren Hilfe die Polemik diskreditiert wird und die ein
Hauptinstrument der Korruption in unseren literarischen und politischen
Verhältnissen ist. Daß Kraus sich an Personen, dem, was sie sind mehr als was
sie tun, dem, was sie sagen mehr als dem, was sie schreiben und an ihren
Büchern am wenigsten ausrichtet, das ist die Voraussetzung seiner polemischen
Autorität, die die Geisteswelt eines Autors, und je nichtiger diese ist um so
sicherer, im Vertrauen auf eine wahrhaft prästabilierte, versöhnende Harmonie
voll und intakt aus einem einzigen Satzstück, einem einzigen Worte, einer
einzigen Intonation zu heben versteht. Wie aber Persönliches und Sachliches
nicht nur im Gegner, sondern vor allem in ihm selber zusammenfällt, beweist am
besten, daß er nie eine Meinung vertritt. Denn Meinung ist die falsche
Subjektivität, die sich von der Person abheben, dem Warenumlauf einverleiben
läßt. Nie hat Kraus eine Argumentation gegeben, die ihn nicht mit seiner ganzen
Person engagiert hätte. So verkörpert er das Geheimnis der Autorität: nie zu
enttäuschen. Es gibt kein Ende der Autorität als dieses: sie stirbt oder sie
enttäuscht. Ganz und gar nicht wird sie von dem, was alle anderen meiden
müssen, angefochten: der eigenen Willkür, Ungerechtigkeit, Inkonsequenz. Im
Gegenteil, enttäuschend wäre, feststellen zu können, wie sie zu ihren Sprüchen
kommt — etwa durch Billigkeit oder gar Konsequenz. »Für den Mann«, hat Kraus
einmal gesagt, »ist das Rechthaben keine erotische Angelegenheit, und er zieht
das fremde Recht dem eigenen Unrecht gut und gern vor.« Darin sich männlich zu
bewähren, ist Kraus versagt; sein Dasein will es, daß bestenfalls die fremde
Rechthaberei sich seinem eigenen Unrecht entgegensetzt, und wie recht hat er
dann, an ihm festzuhalten. »Viele werden einst Recht haben. Es wird aber Recht
von dem Unrecht sein, das ich heute habe.« Das ist die Sprache echter
Autorität. Der Einblick in ihr Wirken darf nur auf Eines stoßen: den Befund,
daß sie sich selbst im gleichen Grad verbindlich, gnadenlos verbindlich ist wie
den andern, daß sie nicht müde wird, vor sich — vor andern niemals — zu
zittern, daß sie kein Ende findet, sich selbst zu genügen, vor sich selber sich
zu verantworten und daß diese Verantwortung niemals aus der privaten Konstitution,
ja selbst den Grenzen menschlichen Vermögens ihre Gründe nimmt, sondern immer
nur aus der Sache, sie mag so ungerecht, privat betrachtet sein, wie sie wolle.
Kennzeichen solcher unumschränkten Autorität ist seit jeher
die Vereinigung legislativer und exekutiver Gewalt. Sie ist aber nirgends
inniger als in der »Sprachlehre«. Daher ist diese bei Kraus der entschiedenste
Ausdruck seiner Autorität. Unerkannt wie Harun al Raschid durchstreift er bei
Nacht die Satzbauten der Journale und hinter der starren Fassade der Phrasen
späht er ins Innere, entdeckt er in den Orgien der »schwarzen Magie« die
Schändung, das Martyrium der Worte: »Ist die Presse ein Bote? Nein: das
Ereignis. Eine Rede? Nein, das Leben. Sie erhebt nicht nur den Anspruch, daß
die wahren Ereignisse ihre Nachrichten über die Ereignisse seien, sie bewirkt
auch diese unheimliche Identität, durch welche immer der Schein entsteht, daß
Taten zuerst berichtet werden, ehe sie verrichtet werden, oft auch die
Möglichkeit davon, und jedenfalls der Zustand, daß zwar Kriegsberichterstatter
nicht zuschauen dürfen, aber Krieger zu Berichterstattern werden. In diesem
Sinne lasse ich mir gern nachsagen, daß ich mein Lebtag die Presse überschätzt
habe. Sie ist kein Dienstmann — wie könnte ein Dienstmann auch so viel
verlangen und bekommen —, sie ist das Ereignis. Wieder ist uns das Instrument
über den Kopf gewachsen. Wir haben den Menschen, der die Feuersbrunst zu melden
hat und der wohl die untergeordnetste Rolle im Staat spielen müßte, über die
Welt gesetzt, über den Brand und über das Haus, über die Tatsache und über
unsere Phantasie.« Autorität und Wort gegen Korruption und Magie — so sind in
diesem Kampf die Parolen verteilt. Es ist nicht müßig, ihm die Prognose zu
stellen. Niemand, und Kraus am wenigsten, kann der Utopie einer »sachlichen«
Zeitung, dem Hirngespinst einer »unparteiischen Nachrichtenübermittlung« sich
überlassen. Die Zeitung ist ein Instrument der Macht. Sie kann ihren Wert nur
von dem Charakter der Macht haben, die sie bedient; nicht nur in dem, was sie
vertritt, auch in dem, wie sie es tut, ist sie ihr Ausdruck. Wenn aber der
Hochkapitalismus nicht nur ihre Zwecke, sondern auch ihre Mittel entwürdigt, so
ist eine neue Blüte paradiesischer Allmenschlichkeit von einer ihm obsiegenden
Macht so wenig zu gewärtigen, wie eine Nachblüte goethescher oder claudiusscher
Sprache. Von der herrschenden wird sie zu allererst darin sich unterscheiden,
daß sie Ideale, die jene entwürdigte, außer Kurs setzt. Genug, um zu ermessen,
wie wenig Kraus bei solchem Kampf zu gewinnen oder zu verlieren, wie unbeirrt
die »Fackel« ihn zu erleuchten hätte. Den immer gleichen Sensationen, mit denen
die Tagespresse ihrem Publikum dient, stellt er die ewig neue »Zeitung«
gegenüber, die von der Geschichte der Schöpfung zu melden ist: die ewig neue,
die unausgesetzte Klage.
II. Dämon
Hab' ich geschlafen? Eben schlaf ich
ein.
Worte in Versen IV
Worte in Versen IV
Es ist tief in der Erscheinung von
Kraus begründet und ist das Stigma jeder ihn betreffenden Debatte, daß alle
apologetischen Argumente fehlgreifen. Das große Werk von Leopold Liegler ist
aus apologetischer Haltung erwachsen. Kraus als »ethische Persönlichkeit« zu
beglaubigen, ist sein erstes Vorhaben. Das geht nicht. Der dunkle Grund, von
dem sein Bild sich abhebt, ist nicht die Zeitgenossenschaft, sondern die
Vorwelt oder die Welt des Dämons. Das Licht vom Schöpfungstage fällt auf ihn,
und so taucht er aus dieser Nacht. Doch nicht an allen Teilen, und es bleiben
andere, die sind ihr tiefer als man ahnt verhaftet. Ein Auge, das sich ihr
nicht akkommodieren kann, wird den Umriß dieser Gestalt nie gewahr werden. Ihm
werden alle Winke verschwendet sein, die Kraus, in seinem unbezwinglichen
Bedürfnis, gewahrt zu werden, zu vergeben nicht müde wird. Denn wie im Märchen
hat der Dämon in Kraus die Eitelkeit zu seinem Wesensausdruck gemacht. Auch die
Einsamkeit des Dämons ist seine, der da auf dem versteckten Hügel sich toll
gebärdet: »Gott sei Dank, daß niemand weiß, daß ich Rumpelstilzchen heiß.« Wie
dieser tanzende Dämon niemals zur Ruhe kommt, so unterhält in Kraus
exzentrische Reflexion den beständigsten Aufruhr. »Patienten seiner Gaben« hat
ihn Viertel genannt. In der Tat, seine Fähigkeiten sind Leiden, und über die
wahren hinaus macht seine Eitelkeit ihn zum Hypochonder.
Spiegelt er sich nicht in sich selber, so tut er's im
Gegner, den er zu seinen Füßen hat. Seine Polemik ist ja von jeher die innigste
Verschränkung einer, mit den vorgeschrittensten Mitteln arbeitenden,
Entlarvungstechnik und einer, mit archaischen operierenden, Kunst des
Selbstausdrucks. Auch in dieser Zone aber bekundet, durch Zweideutigkeit, sich
der Dämon: Selbstausdruck und Entlarvung gehen in ihr als Selbstentlarvung
ineinander über. Wenn Kraus gesagt hat: »Antisemitismus heißt jene Sinnesart,
die etwa den zehnten Teil der Vorwürfe aufbietet und ernst meint, die der
Börsenwitz gegen das eigene Blut parat hat«, so gibt er das Schema, nach dem
auch das Verhältnis seiner Gegner zu ihm selbst sich gestaltet. Es gibt keinen
Vorwurf gegen ihn, keine Schmähung seiner Person, deren legitimste Formulierung
sie nicht seinen eigenen Schriften, und in ihnen den Stellen entnehmen könnten,
da die Selbstbespiegelung zur Selbstbewunderung sich steigert. Kein Preis ist
ihm zu hoch, von sich reden zu machen, und immer gibt der Erfolg dieser
Spekulation ihm recht. Wenn Stil die Macht ist, in den Längen und Breiten des
Sprachdenkens sich zu ergehen, ohne darum ins Banale zu fallen, so erwirbt ihn
zumeist die Herzkraft großer Gedanken, welche das Sprachblut durchs Geäder der
Syntax in die abgelegensten Glieder treibt. Ohne daß bei Kraus nun solche
Gedanken sich einen Augenblick lang verkennen ließen, ist doch die Herzkraft
seines Stils das Bild, wie er es selbst von sich im Innern trägt, um es aufs
schonungsloseste zu exponieren. Ja, er ist eitel. So hat ihn, wie er huschend,
mit unsteten Sätzen, das Podium einer Vorlesung zu gewinnen, den Raum
durchmißt, Karin Michaelis geschildert. Und wenn er dann seiner Eitelkeit
opfert — er müßte nicht der Dämon sein, der er ist, wäre es nicht zuletzt er
selber, sein Leben und sein Leiden, die er mit allen Wunden, allen Blößen
preisgibt. So kommt sein Stil zustande und mit ihm der typische Fackelleser,
dem noch im Nebensatz, in der Partikel, ja im Komma stumme Fetzen und Fasern von
Nerven zucken, am abgelegensten und trockensten Faktum noch ein Stück des
geschundenen Fleisches hängt. Die Idiosynkrasie als höchstes kritisches Organ —
das ist die verborgene Zweckmäßigkeit dieser Selbstbespiegelung und der
HöUenzustand, den nur ein Schriftsteller kennt, für den jeder Akt der
Befriedigung zugleich zu einer Station des Martyriums wird und welchen neben
Kraus kein einziger so durchlebt hat wie Kierkegaard.
»Ich bin«, hat Kraus gesagt, »vielleicht der erste Fall
eines Schreibers, der sein Schreiben zugleich schauspielerisch erlebt« und
weist mit diesem Wort der eigenen Eitelkeit den legitimsten Ort an: den im
Mimen. Das mimische Genie, das in der Glosse nachmacht, in der Polemik Fratzen
schneidet, entfesselt sich festlich in den Vorlesungen von Dramen, deren
Urheber nicht umsonst eine eigentümliche Mittelstellung einnehmen: Shakespeare
und Nestroy, Dichter und Schauspieler; Offenbach, Komponist und Dirigent. Es
ist, als suchte der Dämon des Mannes die bewegte, von allen Blitzen der Improvisation
durchzuckte Atmosphäre dieser Dramen, weil nur sie ihm die tausend Chancen
bietet, neckend, quälend, drohend, hervorzuschießen. Die eigene Stimme macht
darin die Probe auf den dämonischen Personenreichtum des Vortragenden —
persona: das, wohindurch es hallt — und um die Fingerspitzen schießen die
Gebärden der Gestalten, welche in seiner Stimme wohnen. Aber auch im Verhältnis
zu den Gegenständen seiner Polemik spielt das Mimische eine entscheidende
Rolle. Er macht den Partner nach, um in den feinsten Fugen seiner Haltung das
Brecheisen des Hasses anzusetzen. Dieser Silbenstecher, der zwischen die Silben
sticht, holt Larven, die da nisten, zu Klumpen heraus, die Larven der
Käuflichkeit und der Geschwätzigkeit, der Niedertracht und der Bonhomie, der
Kinderei und der Habsucht, der Verfressenheit und der Hinterlist. In der Tat,
die Bloßstellung des Unechten — schwieriger als die des Schlechten — kommt hier
behavioristisch zustande. Die Zitate der »Fackel« sind mehr als Belegstellen:
Requisiten von mimischen Entlarvungen durch den Zitierenden. Freilich gerade in
diesem Zusammenhang tritt zutage, wie eng verbunden mit der Grausamkeit des
Satirikers die zweideutige Demut des Interpreten ist, die sich im Vorleser bis
zum Unfaßlichen steigert. In einen hineinkriechen — so bezeichnet man nicht
umsonst die niederste Stufe der Schmeichelei, und eben das tut Kraus: nämlich
um zu vernichten. Ist Höflichkeit hier Mimikry des Hasses, Haß Mimikry der
Höflichkeit geworden? Wie dem auch sei, beide sind auf der Stufe der Vollendung,
der chinesischen angelangt. Die »Qual«, von der so viel und in so
undurchsichtigen Anspielungen bei Kraus die Rede ist, hat hier ihren Sitz.
Seine Proteste gegen Zuschriften, Materialien, Dokumente sind nichts als die
Abwehrreaktion eines Mannes, der in Komplizitäten verstrickt werden soll. Was
ihn dergestalt verstrickt, ist aber mehr noch als das Tun und Lassen die
Sprache seiner Mitmenschen. Seine Leidenschaft, sie zu imitieren, ist Ausdruck
für und Kampf gegen diese Verstrickung zugleich, auch Grund und Folge jenes
immer wachen Schuldbewußtseins, in dem allein der Dämon sein Element hat. Der
Haushalt seiner Irrtümer und seiner Schwächen — mehr Wunderbau als die
Gesamtheit seiner Gaben — ist von so feiner und präziser Organisation, daß jede
Bestätigung von außen ihn nur erschüttert. Nun gar, wenn dieser Mann als
»Vorbild eines harmonisch durchgebildeten Menschentypus« beglaubigt werden,
wenn er- mit einer stilistisch und gedanklich gleich absurden Wendung — als
Philanthrop erscheinen soll, so daß, wer seiner »Härte mit den Ohren der Seele«
lausche, in Mitgefühl ihren Grund finde. Nein! diese unbestechliche,
eingreifende, wehrhafte Sicherheit kommt nicht aus jener edlen, dichterischen
oder menschenfreundlichen Gesinnung, der die Anhänger sie gern zuschreiben. Wie
höchst banal und wie grundfalsch zugleich ihre Herleitung seines Hasses aus
Liebe, da doch auf der Hand liegt, wieviel Ursprünglicheres am Werke ist: eine
Menschlichkeit, die nur der Übergang von Bosheit in Sophistik, von Sophistik in
Bosheit, eine Natur, die die hohe Schule des Menschenhasses, und ein Mitleid,
das nur verschränkt mit Rache lebendig ist: »O hätte man mir die Wahl gelassen,
| den Hund oder den Schlächter zu tranchieren, | ich hätt' gewählt!« Nichts
widersinniger, als nach dem Bilde dessen, was er liebt, ihn formen zu wollen.
Mit Recht hat man den »zeitentbundenen Weltverstörer« Kraus dem »ewigen
Weltverbesserer« konfrontiert, den hin und wieder wohlgefällige Blicke
streifen.
»Als das Zeitalter Hand an sich legte, war er diese Hand«,
hat Brecht gesagt. Weniges behauptet sich neben dieser Erkenntnis und sicher
nicht das Freundeswort von Adolf Loos. »Kraus«, so erklärt er, »steht an der
Schwelle einer neuen Zeit«. Ach, durchaus nicht. — Er steht nämlich an der
Schwelle des Weltgerichts. Wie auf den Prunkstücken barocker Altarmalerei die
hart an den Rahmen gedrängten Heiligen abwehrend gespreizte Hände gegen die
atemraubenden Verkürzungen vor ihnen schwebender Extremitäten der Engel, der
Verklärten, der Verdammten strecken, so drängt auf Kraus die ganze
Weltgeschichte in den Extremitäten einer einzigen Lokalnotiz, einer einzigen
Phrase, eines einzigen Inserats ein. Das ist das Erbe, das ihm aus der Predigt
von Abraham a Santa Clara überkommen ist. Von daher jene Nähe, die sich überschlägt,
jene Schlagfertigkeit des ganz und gar nicht kontemplativen Nu und die
Verschränkung, welche seinem Wollen einzig den theoretischen, seinem Wissen
einzig den praktischen Ausdruck erlaubt. Kraus ist kein historischer Genius. Er
steht nicht an der Schwelle einer neuen Zeit. Kehrt er der Schöpfung je den
Rücken, bricht er ab mit Klagen, so ist es nur, um vor dem Weltgericht
anzuklagen.
Man versteht nichts von diesem Manne, solange man nicht
erkennt, daß mit Notwendigkeit alles, ausnahmslos alles, Sprache und Sache, für
ihn sich in der Sphäre des Rechts abspielt. Seine ganze feuerfressende, degenschluckende
Philologie der Journale geht ja ebensosehr wie der Sprache dem Recht nach. Man
begreift seine »Sprachlehre« nicht, erkennt man sie nicht als Beitrag zur
Sprachprozeßordnung, begreift das Wort des anderen in seinem Munde nur als
corpus delicti und sein eigenes nur als das richtende. Kraus kennt kein System.
Jeder Gedanke hat seine eigene Zelle. Aber jede Zelle kann im Nu, und scheinbar
durch ein Nichts veranlaßt, zu einer Kammer, einer Gerichtskammer werden, in
welcher dann die Sprache den Vorsitz hat. Man hat von Kraus gesagt, er habe
»das Judentum in sich niederringen« müssen, gar »den Weg vom Judentum zur
Freiheit« zurückgelegt — nichts widerlegt das besser, als daß auch ihm
Gerechtigkeit und Sprache ineinander gestiftet bleiben. Das Bild der göttlichen
Gerechtigkeit als Sprache — ja in der deutschen selber — zu verehren, das ist
der echt jüdische Salto mortale, mit dem er den Bann des Dämons zu sprengen sucht.
Denn dies ist die letzte Amtshandlung dieses Eiferers: die Rechtsordnung selbst
in Anklagezustand zu versetzen. Und nicht mit kleinbürgerlichem Aufbegehren
wider die Knechtung des »freien Individuums« durch »tote Formeln«. Noch weniger
mit der Haltung jener Radikalen, die Paragraphen stürmen, ohne je sich einen
Augenblick Rechenschaft von der Justiz gegeben zu haben. Kraus stellt das Recht
in seiner Substanz, nicht in seiner Wirkung unter Anklage. Sie lautet auf
Hochverrat des Rechtes an der Gerechtigkeit. Genauer, des Begriffs am Worte,
aus dem er sein Dasein hat: vorsätzliche Tötung der Phantasie, die schon am
Mangel einer einzigen Letter stirbt und der er in seiner »Elegie auf den Tod
eines Lautes« die ergreifendste Klage gesungen hat. Denn über der
Rechtsprechung steht die Rechtschreibung, und wehe der ersten, wenn die zweite
zu leiden hat. So begegnet er denn auch hier der Presse, ja gibt in diesem
Bannkreis sich sein liebstes Stelldichein mit den Lemuren. Er hat das Recht
durchschaut wie wenige. Wenn er es dennoch anruft, geschieht es gerade, weil
sich sein eigener Dämon so gewaltig von dem Abgrund gezogen fühlt, den es
darstellt. Von jenem Abgrund, den er nicht umsonst am gähnendsten, wo Geist und
Sexus sich zusammenfinden — im Sittlichkeitsprozeß — erfahren und in den
berühmten Worten erlotet hat: »Ein Sittlichkeitsprozeß ist die zielbewußte
Entwicklung einer individuellen zur allgemeinen Unsittlichkeit, von deren
düsterem Grunde sich die erwiesene Schuld des Angeklagten leuchtend abhebt.«
Geist und Sexus bewegen sich in dieser Sphäre in einer
Solidarität, deren Gesetz Zweideutigkeit ist. Die Besessenheit des dämonischen
Sexus ist das Ich, das, umgaukelt von so süßen Frauenbildern, »wie die bittre
Erde sie nicht hegt«, sich genießt. Und nicht anders die lieblose und
selbstgenugsame Figur des besessenen Geistes: der Witz. Zu ihrer Sache kommen
sie beide nicht; das Ich zum Weib so wenig wie der Witz zum Wort. Das
Zersetzende ist an Stelle des Zeugenden, das Grelle an Stelle des Geheimen
getreten; nun aber changieren sie in den einschmeichelndsten Nuancen: im
Witzwort kommt die Lust und in der Onanie die Pointe zu ihrem Recht. Als
hoffnungslos dem Dämon Verhafteten hat Kraus sich selbst porträtiert; im
Pandämonium der Zeit hat er sich den traurigsten, vom Rammenwiderschein
beglänzten Ort in der Eiswüste vorbehalten. Da steht er am »Letzten Tage der
Menschheit« — der »Nörgler«, der die vorangehenden beschrieben hat. »Ich habe
die Tragödie, die in die Szenen der zerfallenden Menschheit zerfällt, auf mich genommen,
damit sie der Geist höre, der sich der Opfer erbarmt, und hätte er selbst für
alle Zukunft der Verbindung mit einem Menschenohr entsagt. Er empfange den
Grundton dieser Zeit, das Echo meines blutigen Wahnsinns, durch den ich
mitschuldig bin an diesen Geräuschen. Er lasse es als Erlösung gelten!«
»Mitschuldig ...« — weil das an die Manifeste der
Intelligenz anklingt, welche einer Epoche, die Miene machte, sich von ihr
abzukehren, ins Gedächtnis sich zurückrufen wollte, und sei es auch durch eine
Selbstbezichtigung, ist über dieses Schuldgefühl, in dem so sichtbar sich das
privateste Bewußtsein mit dem historischen begegnet, ein Wort zu sagen. Es wird
immer auf jenen Expressionismus führen, aus dem die Reife seines Werks mit
Wurzeln, die ihren Boden sprengten, sich genährt hat. Man kennt die Stichworte
— mit welchem Hohn hat nicht Kraus selber sie registriert: geballt, gestuft und
gestellt komponierte man Bühnenbilder, Sätze, Gemälde. — Unverkennbar — und die
Expressionisten proklamierten ihn selbst — ist der Einfluß
frühmittelalterlicher Miniaturen auf ihre Vorstellumgswelt. Wer aber nun deren
Gestalten — etwa am Beispiel der Wiener Genesis — mustert, dem tritt nicht nur
in den weitgeöffneten Augen, nicht nur in den unergründlichen Falten ihrer Gewandung,
vielmehr im ganzen Ausdruck etwas sehr Rätselhaftes entgegen. Als hätte sie die
fallende Sucht ergriffen, so neigen sie in ihrem Lauf, der immer überstürzt
ist, sich einander zu. Die »Neigung« kann, vor allem andern, als der tiefe
menschliche Affekt erscheinen, der die Welt dieser Miniaturen sowohl wie die
Manifeste jener Dichtergeneration durchzittert. Aber das ist nur der eine,
gewissermaßen konkave Aspekt dieses Sachverhalts, der Blick ins Angesicht
dieser Figuren. Ganz anders ist die gleiche Erscheinung dem, welcher ihre
Rücken ins Auge faßt. Diese Rücken staffeln sich in den Heiligen der
Adorationen, in den Knechten der Gethsemane-szene, in den Augenzeugen des
Einzugs in Jerusalem zu Terrassen menschlicher Nacken, menschlicher Schultern,
die, wirklich zu steilen Stufen geballt, weniger in den Himmel als abwärts, auf
und selbst unter die Erde führen. Unmöglich, für ihr Pathos einen Ausdruck zu
finden, der davon absieht: sie sind besteigbar wie aufeinandergewälzte
Felsblöcke oder grob behauene Stufen. Welche Gestalten immer den Geisterkampf
auf diesen Schultern mögen gekämpft haben — eine von ihnen erlaubt die
Erfahrung, die wir von der Verfassung der geschlagenen Massen unmittelbar nach
Kriegsende machen konnten, uns beim Namen zu nennen. Was dem Expressionismus,
in dem ein ursprünglich menschlicher Impuls sich fast restlos in einen
modischen umsetzte, am Ende zurückblieb, war die Erfahrung und der Name jener
namenlosen Macht, der sich die Rücken der Menschen entgegenkrümmten: die
Schuld. »Nicht daß eine gehorsame Masse von einem ihr unbekannten Willen, aber
daß sie von einer ihr unbekannten Schuld in Gefahr geführt wird, macht sie
mitleidswürdig«, hat Kraus schon 1912 geschrieben. Als »Nörgler« hat er an ihr
teil, um sie zu denunzieren, denunziert er sie, um an ihr teilzuhaben. Durch
das Opfer ihr zu begegnen, hat er sich eines Tages in die Arme der katholischen
Kirche geworfen.
In jenen schneidenden Menuetten, die Kraus dem
chassez-croisez von Justitia und Venus gepfiffen hat, ist das Leitmotiv — daß der
Philister von der Liebe nichts weiß — mit einer Schärfe und Beharrlichkeit
vorgetragen, die einzig in der entsprechenden Haltung der Decadence, in der
Proklamation des l'art pour l'art ihr Gegenstück hat. Denn eben das l'art pour
l'art, das der Decadence auch für die Liebe gilt, hat das Sachverständnis aufs
engste an das handwerkliche Wissen, die Technik, gebunden und hat die Dichtung
in ihrem hellsten Lichte nur von der Folie des Literatentums wie die Liebe von
der der Unzucht sich abheben lassen. »Not kann jeden Mann zum Journalisten
machen, aber nicht jede Frau zur Prostituierten.« In dieser Formulierung hat
Kraus den doppelten Boden seiner Polemik gegen den Journalismus verraten. Das
ist viel weniger der Philanthrop, der aufgeklärte Menschen- und Naturfreund,
der diesen unerbittlichen Kampf entfesselt hat, als der geschulte Literat,
Artist, ja Dandy, der seinen Ahnen in Baudelaire hat. Nur Baudelaire hat so wie
Kraus die Saturiertheit des gesunden Menschenverstandes und so wie er den
Kompromiß gehaßt, den die Geistigen mit ihm schlossen, um im Journalismus ein
Unterkommen zu finden. Der Journalismus ist Verrat am Literatentum, am Geist,
am Dämon. Das Geschwätz ist seine wahre Substanz und jedes Feuilleton stellt
von neuem die unlösbare Frage nach dem Kräfteverhältnis von Dummheit und von
Bosheit, deren Ausdruck es ist. Es ist im Grunde die vollkommene Entsprechung
dieser Daseinsformen: des Lebens unterm Zeichen bloßen Geistes oder bloßer
Sexualität, die jene Solidarität des Literaten mit der Hure begründet, deren
unverbrüchlichstes Zeugnis wiederum Baudelaires Existenz ist. So kann Kraus die
Gesetze des eigenen Handwerks verschränkt mit denen des Sexus beim Namen
nennen, wie er es in der »Chinesischen Mauer« getan hat. Der Mann »hat
tausendmal mit dem Anderen gerungen, der vielleicht nicht lebt, aber dessen
Sieg über ihn sicher ist. Nicht weil er bessere Eigenschaften hat, aber weil er
der Andere ist, der Spätere, der dem Weib die Lust der Reihe bringt und der als
Letzter triumphieren wird. Aber sie wischen es von ihrer Stirn wie einen bösen
Traum; und wollen die Ersten sein.« Ist nun die Sprache — das legen wir
zwischen die Zeilen — ein Weib, wie weit entrückt ein unbetrüglicher Instinkt
den Autor jenen, die sich beeilen, bei ihr die Ersten zu sein, wie vielfach
macht er den Gedanken, der sie nur immer mehr mit Ahnung stachelt als mit
Wissen sättigt, wie läßt er ihn in Haß, Verachtung, Bosheit sich verstricken,
wie hält er seinen Schritt hintan und sucht den Umweg des Epigonentums, um
schließlich ihr die Lust der Reihe mit dem letzten Stoße, den Jack für Lulu in
Bereitschaft hält, zu enden.
Das Literatentum ist das Dasein im Zeichen des bloßen
Geistes wie die Prostitution das Dasein im Zeichen des bloßen Sexus. Der Dämon
aber, der der Hure die Straße anweist, verbannt den Literaten in den
Gerichtssaal. Daher ist er für Kraus das Forum, wie er es für die großen
Journalisten — einen Carrel, Paul-Louis Courier, Lassalle — von jeher gewesen
ist. Es zu umgehen: der echten und dämonischen Funktion des bloßen Geistes,
Störenfried zu sein, sich zu entziehen, der Hure in den Rücken zu fallen — dies
doppelte Versagen definiert für Kraus den Journalisten. — Robert Scheu hat
richtig gesehen, daß für Kraus die Prostitution eine natürliche Form, keine
soziale Verbildung des weiblichen Sexus ist. Jedoch erst daß und wie sich
Sexual- und Tauschverkehr verschränken, macht den Charakter der Prostitution
aus. Wenn sie ein Naturphänomen ist, so ist sie es genau so sehr von der
natürlichen Seite der Ökonomik, als Erscheinung des Tauschverkehrs, wie von der
natürlichen Seite des Sexus. »Verachtung der Prostitution? | Dirnen schlimmer
als Diebe? | Lernt: Liebe nimmt nicht nur Lohn, | Lohn gibt auch Liebe!« Diese
Zweideutigkeit -diese Doppelnatur als doppelte Natürlichkeit — macht die Prostitution
dämonisch. Aber Kraus »ergreift die Partei der Naturmacht«. Daß ihm der
soziologische Bereich nie transparent wird — im Angriff auf die Presse so wenig
wie in der Verteidigung der Prostitution — hängt mit dieser seiner
Naturverhaftung zusammen. Daß ihm das Menschenwürdige nicht als Bestimmung und
Erfüllung der befreiten — der revolutionär veränderten — Natur, sondern als
Element der Natur schlechtweg, einer archaischen und geschichtslosen in ihrem
ungebrochenen Ursein sich darstellt, wirft ungewisse, unheimliche Reflexe noch
auf seine Idee von Freiheit und von Menschlichkeit zurück. Sie ist nicht dem
Bereich der Schuld entrückt, den er von Pol zu Pol durchmessen hat: vom Geist
zum Sexus.
Dieser Realität gegenüber, die Kraus blutiger als irgend einer
durchlitten hat, enthüllt nun aber jener »reine Geist«, den die Anhänger im
Wirken des Meisters verehren, sich als nichtswürdige Chimäre. Darum ist unter
allen Motiven seiner Entwicklung keines wichtiger als dessen dauernde
Einschränkung und Kontrolle. »Nachts« ist sein Kontrollbuch betitelt. Denn die
Nacht ist das Schaltwerk, wo bloßer Geist in bloße Sexualität, bloße Sexualität
in bloßen Geist umschlägt und diese beiden lebenswidrigen Abstrakta, indem sie
einander erkennen, zur Ruhe kommen. »Ich arbeite Tage und Nächte. So bleibt mir
viel freie Zeit. Um ein Bild im Zimmer zu fragen, wie ihm die Arbeit gefällt,
um die Uhr zu fragen, ob sie müde ist und die Nacht, wie sie geschlafen hat.«
Opfergaben an den Dämon sind diese Fragen, die er ihm unter der Arbeit
hinwirft. Seine Nacht aber ist nicht die mütterliche noch auch die monderhellte
romantische; es ist die Stunde zwischen Schlaf und Wachen, die Nacht-Wache, das
Mittelstück seiner dreifach gestaffelten Einsamkeit: der des Caféhauses, wo er
mit seinem Feind, der des nächtlichen Zimmers, wo er mit seinem Werk allein
ist.
III. Unmensch
Schon fällt der Schnee.
Worte in Versen III
Worte in Versen III
Die Satire ist die einzige
rechtmäßige Form der Heimatkunst. So war es aber nicht gemeint, wenn man Kraus
einen Wiener Satiriker nannte. Vielmehr versuchte man, solange es angehen
konnte, auf dieses tote Gleis ihn abzuschieben, um sein Werk dem großen
Speicher literarischer Konsumgüter einverleiben zu können. Kraus als Satiriker
dargestellt kann also den tiefsten Aufschluß über ihn so gut wie sein
traurigstes Zerrbild ergeben. Von jeher war es ihm daher angelegen, den
Satiriker echten Schlages von jenen Schreibern zu trennen, die aus dem Hohn ein
Gewerbe gemacht und nicht viel mehr bei ihren Invektiven im Sinne haben als dem
Publikum etwas zu lachen zu geben. Demgegenüber hat der große Typus des
Satirikers nie festeren Boden unter den Füßen gehabt als mitten in einem
Geschlecht, das sich anschickt, Tanks zu besteigen und Gasmasken überzuziehen,
einer Menschheit, der die Tränen ausgegangen sind, aber nicht das Gelächter. In
ihm bereitet sie sich vor, die Zivilisation, wenn es sein muß, zu überleben,
und sie kommuniziert mit ihm im eigentlichen Mysterium der Satire, als welches
im Verspeisen des Gegners besteht. Der Satiriker ist die Figur, unter welcher
der Menschenfresser von der Zivilisation rezipiert wurde. Nicht ohne Pietät
erinnert er sich seines Ursprungs und darum ist der Vorschlag, Menschen zu
fressen, in den eisernen Bestand seiner Anregungen übergegangen, von Swifts
einschlägigem Projekt, betreffend die Verwendung der Kinder in
minderbemittelten Volksklassen bis zu Leon Bloys Vorschlag, Hauswirten
insolventen Mietern gegenüber ein Recht auf die Verwertung ihres Fleisches
einzuräumen. In solchen Anweisungen haben die großen Satiriker der Humanität
ihrer Mitmenschen Maß genommen. »Humanität, Bildung und Freiheit sind kostbare
Güter, die mit Blut, Verstand und Menschenwürde nicht teuer genug erkauft sind«
— so schließt bei Kraus die Auseinandersetzung des Menchenfressers mit den
Menschenrechten. Man vergleiche sie mit der Marxschen der »Judenfrage«, um zu
ermessen, wie gänzlich diese spielerische Reaktion von 1909 — die Reaktion
gegen das klassische Humanitätsideal — danach angetan war, bei der ersten
besten Gelegenheit in das Bekenntnis des realen Humanismus umzuschlagen.
Freilich hätte man die »Fackel« schon von der ersten Nummer an Wort für Wort
buchstäblich verstehen müssen, um abzusehen, daß diese ästhetizistisch
ausgerichtete Publizistik, ohne ein einziges ihrer Motive zu opfern, ein
einziges zu gewinnen, die politische Prosa von 1930 zu werden bestimmt war. Das
dankt sie ihrem Partner, der Presse, welche der Humanität jenes Ende bereitete,
auf das Kraus mit den Worten anspielt: »Die Menschenrechte sind das zerreißbare
Spielzeug der Erwachsenen, auf dem sie herumtreten wollen und das sie sich
deshalb nicht nehmen lassen.« So ist die Grenzsetzung zwischen Privatem und
Öffentlichem, die 1789 die Freiheit verkünden sollte, zum Gespött geworden.
Durch die Zeitung, sagt Kierkegaard, »wird ... die Distinktion zwischen dem
Privaten und dem Öffentlichen in einer privat-öffentlichen Schwatzhaftigkeit
aufgehoben«.
Die öffentliche und private Zone, die im Geschwätz dämonisch
ineinanderliegen, zur dialektischen Auseinandersetzung zu bringen, reales
Menschentum zum Sieg zu führen, das ist der Sinn der Operette, den Kraus
entdeckt und in Offenbach zum intensivsten Ausdruck gebracht hat. Wie das
Geschwätz die Knechtung der Sprache durch die Dummheit besiegelt, so die
Operette die Verklärung der Dummheit durch die Musik. Daß man die Schönheit
weiblicher Dummheit verkennen könne, galt Kraus von jeher als das finsterste
Banausentum. Vor ihrer Strahlenkraft verfliegen die Chimären des Fortschritts.
Und in der Operette Offenbachs tritt nun die bürgerliche Dreieinigkeit des
Wahren, Schönen, Guten, neu einstudiert zur großen Nummer mit Musikbegleitung
auf dem Trapez des Blödsinns zusammen. Wahr ist der Unsinn, schön die Dummheit,
gut die Schwäche. Das ist ja das Geheimnis Offenbachs: wie mitten in dem tiefen
Unsinn öffentlicher Zucht — es sei nun die der oberen Zehntausend, eines
Tanzbodens oder des Militärstaats —, der tiefe Sinn privater Unzucht ein
träumerisches Auge aufschlägt. Und was als Sprache richterliche Strenge,
Entsagung, scheidende Gewalt gewesen wäre, wird List und Ausflucht, Einspruch
und Vertagung als Musik. — Musik als Platzhalterin der moralischen Ordnung?
Musik als Polizei einer Freudenwelt? Ja, das ist der Glanz, der über die alten
Pariser Ballsäle, über die »Grande Chaumière«, die »Clôserie des Lilas« mit dem
Vortrag des »Pariser Lebens« sich ausgießt. »Und die unnachahmliche
Doppelzüngigkeit dieser Musik, alles zugleich mit dem positiven und dem
negativen Vorzeichen zu sagen, das Idyll an die Parodie, den Spott an die Lyrik
zu verraten; die Fülle zu allem erbötiger, Schmerz und Lust verbindender
Tonfiguren — hier erscheint diese Gabe am reichsten und reinsten entfaltet.«
Die Anarchie als einzig moralische, einzig menschenwürdige Weltverfassung wird
zur wahren Musik dieser Operetten. Die Stimme von Kraus sagt diese innere Musik
mehr, als daß sie sie singt. Schneidend umpfeift sie die Grate des
schwindelnden Blödsinns, erschütternd hallt sie aus dem Abgrund des Absurden
wider und summt, wie der Wind im Kamin, in den Zeilen der Frascata ein Requiem
auf die Generation unserer Großväter. — Offenbachs Werk erlebt eine
Todeskrisis. Es zieht sich zusammen, entledigt sich alles Überflüssigen, geht
durch den gefährlichen Raum dieses Daseins hindurch und kommt gerettet,
wirklicher als vordem, wieder zum Vorschein. Denn wo diese wetterwendische
Stimme laut wird, fahren die Blitze der Lichtreklamen und der Donner der Métro
durch das Paris der Omnibusse und Gasflammen. Und das Werk gibt ihm das alles
zurück. Denn auf Augenblicke verwandelt es sich in einen Vorhang, und mit den
wilden Gebärden des Marktschreiers, die den ganzen Vortrag begleiten, reißt
Kraus diesen Vorhang beiseite und gibt den Blick ins Innere seines
Schreckenskabinetts auf einmal frei. Da stehen sie: Schober, Bekessy, Kerr und
die andern Nummern, nicht mehr die Feinde, sondern Raritäten, Erbstücke aus der
Welt Offenbachs oder Nestroys, nein, ältere, seltenere, Penaten der
Troglodyten, Hausgötter der Dummheit aus vorgeschichtlichen Zeiten. Kraus, wenn
er vorträgt, spricht nicht Offenbach oder Nestroy: sie sprechen aus ihm heraus.
Und dann und wann nur fällt ein atemraubender, halb stumpfer, halb glänzender
Kupplerblick in die Masse vor ihm, lädt sie zu der verwünschten Hochzeit mit
den Larven, in denen sie sich selber nicht erkennt, und nimmt zum letzten Male
sich das böse Vorrecht der Zweideutigkeit.
Hier kommt nun erst das wahre Antlitz, vielmehr die wahre
Maske des Satirikers zum Vorschein. Es ist die Maske Timons, des
Menschenfeindes. »Shakespeare hat alles vorausgewußt« — ja. Vor allem aber ihn
selber. Shakespeare zeichnet unmenschliche Gestalten — und Timon, die
unmenschlichste unter ihnen — und sagt: Solch ein Geschöpf brächte Natur
hervor, wenn sie das schaffen wollte, was der Welt, wie euresgleichen sie
gestaltet hat, gebührt; was ihr gewachsen, was ihr zugewachsen wäre. So ein
Geschöpf ist Timon, so eins Kraus. Beide haben sie, wollen sie mit Menschen
nichts mehr gemein haben. »Thierfehd ist hier: das sagt dem Menschsein ab«; aus
einem abgelegenen Glarner Dorfe wirft Kraus diesen Fehdehandschuh der
Menschheit hin, und Timon will an seinem Grabe nur das Meer in Tränen wissen.
Wie Timons Verse steht die Kraussche Lyrik hinter dem Doppelpunkt der dramatis
persona, der Rolle. Ein Narr, ein Caliban, ein Timon — nicht sinniger, nicht würdiger
und nicht besser — aber der sich selber sein eigener Shakespeare ist. Man
sollte allen den Figuren, wie sie sich um ihn scharen, ihren Ursprung in
Shakespeare ansehen. Und immer ist er sein Ausbund, ob er mit Weininger vom
Manne oder mit Altenberg von der Frau, mit Wedekind von der Bühne oder mit Loos
vom Essen, mit Else Lasker-Schüler vom Juden oder mit Theodor Haecker vom
Christen spricht. Die Macht des Dämons endet an diesem Reiche. Sein Zwischen-
oder Untermenschliches wird von einem wahrhaft Unmenschlichen überwunden. Kraus
hat es in den Worten angedeutet: »In mir verbindet sich eine große Fähigkeit
zur Psychologie mit der größeren, über einen psychologischen Bestand
hinwegzusehen.« Es ist das Unmenschliche des Schauspielers, das er mit diesen Worten
für sich in Anspruch nimmt: das Menschenfresserische. Denn mit jeder Rolle
verleibt sich der Schauspieler einen Menschen ein, und in den barocken Tiraden
Shakespeares — wenn sich der Menschenfresser als der bessere Mensch, der Held
als ein Akteur entpuppen soll, Timon den Reichen, Hamlet den Irren spielt —ist
es, als wenn seine Lippen von Blut trieften. So hat Kraus nach Shakespeares
Vorbild sich Rollen geschrieben, an denen er Blut geleckt hat. Die
Beharrlichkeit seiner Überzeugungen ist Beharren in einer Rolle, mit ihren
Stereotypien, auf ihren Stichworten. Seine Erlebnisse samt und sonders sind
nichts als dies: Stichworte. Darum besteht er auf ihnen und verlangt sie vom
Dasein wie ein Schauspieler, der es dem Partner niemals verzeiht, wenn er ihm das
Stichwort nicht bringt.
Die Offenbach-Vorlesungen, der Vortrag Nestroyscher Kuplets
sind von allen musikalischen Mitteln verlassen. Das Wort dankt niemals
zugunsten des Instruments ab; indem es aber seine Grenzen weiter und weiter
hinausschiebt, geschieht es, daß es am Ende sich depotenziert, in die bloße
kreatürliche Stimme sich auflöst: ein Summen, das zum Worte sich so verhält wie
sein Lächeln zum Witz, ist das Allerheiligste dieser Vortragskunst. In diesem
Lächeln, diesem Summen, wo wie in einem Kratersee zwischen den
ungeheuerlichsten Schroffen und Schlacken die Welt sich friedlich und genügsam
spiegelt, bricht jene tiefe Komplizität mit seinen Hörern und Modellen durch,
der Kraus im Worte niemals Raum gegeben hat. Sein Dienst an ihm erlaubt ihm
keinen Kompromiß. Kaum aber hat es den Rücken gekehrt, so findet er sich zu
manchem bereit. Da macht denn der quälende, stets unerschöpfte Reiz dieser
Vorlesungen sich fühlbar: die Scheidung zwischen fremden und verwandten
Geistern zunichte werden und jene homogene Masse falscher Freunde sich bilden
zu sehen, die in diesen Veranstaltungen den Ton angibt. Kraus tritt vor eine
Welt von Feinden, will sie zur Liebe zwingen, und zwingt sie doch zu nichts als
Heuchelei. Seine Wehrlosigkeit demgegenüber steht in genauem Zusammenhang mit
dem subversiven Dilettantismus, der zumal die Offenbach-Vorlesungen bestimmt.
Kraus weist in ihnen die Musik in engere Schranken, als je die Manifeste der
George-Schule sich's erträumten. Das kann natürlich über den Gegensatz in
beider Sprachgebärde nicht hinwegtäuschen. Vielmehr besteht die genaueste
Verbindung zwischen den Bestimmungsgründen, die Kraus die beiden Pole des
sprachlichen Ausdrucks — den depotenzierten des Summens und den armierten des
Pathos — zugänglich machen und denen, die seiner Heiligung des Worts verbieten,
die Formen des Georgeschen Sprachkultus anzunehmen. Dem kosmischen Auf und
Nieder, das für George »den Leib vergottet und den Gott verleibt«, ist die
Sprache nur die Jakobsleiter mit den zehntausend Wortsprossen. Demgegenüber
Kraus: seine Sprache hat alle hieratischen Momente von sich getan. Weder ist
sie Medium der Seherschaft noch der Herrschaft. Daß sie der Schauplatz für die
Heiligung des Namens sei — mit dieser jüdischen Gewißheit setzt sie der
Theurgie des »Wortleibs« sich entgegen. Sehr spät, mit einer Entschiedenheit,
die in Jahren des Stillschweigens muß gereift sein, ist Kraus dem großen
Partner gegenübergetreten, dessen Werk zur gleichen Zeit mit dem eigenen, unter
der Jahrhundertschwelle, entsprungen war. Georges erster öffentlich
erschienener Band und der erste Jahrgang der »Fackel« tragen die Jahreszahl
1899. Und erst im Rückblick »Nach dreißig Jahren«, 1929, unternahm Kraus ihn
aufzurufen. Ihm als dem Eifernden tritt da George als der Gefeierte gegenüber,
der in dem Tempel wohnt, woraus es
nie
zu treiben galt die Händler und die Wechsler,
nicht Pharisäer und die Schriftgelehrten,
die drum den Ort umlagern und beschreiben.
zu treiben galt die Händler und die Wechsler,
nicht Pharisäer und die Schriftgelehrten,
die drum den Ort umlagern und beschreiben.
Profanum vulgus lobt sich den
Entsager,
der nie ihm sagte, was zu hassen sei.
Und der das Ziel noch vor dem Weg gefunden,
er kam vom Ursprung nicht.
der nie ihm sagte, was zu hassen sei.
Und der das Ziel noch vor dem Weg gefunden,
er kam vom Ursprung nicht.
»Du kamst vom Ursprung — Ursprung ist das Ziel« nimmt der
»Sterbende Mensch« als Gottes Trost und Verheißung entgegen. Auf sie spielt
Kraus hier an und auch Viertel tut es, wenn er, im Sinn von Kraus, die Welt den
»Irrweg, Abweg, Umweg zum Paradiese zurück« nennt. »Und so«, fährt er an dieser
wichtigsten Stelle seiner Schrift über Kraus fort, »versuche ich denn auch die
Entwicklung dieser merkwürdigen Begabung zu deuten: Intellektualität als Abweg,
der zur Unmittelbarkeit ... zurückführt. Publizität — ein Irrweg zur Sprache
zurück. Die Satire — ein Umweg zum Gedicht.« Dieser »Ursprung« — das
Echtheitssiegel an den Phänomenen — ist Gegenstand einer Entdeckung, die in
einzigartiger Weise sich mit dem Wiedererkennen verbindet. Der Schauplatz
dieser philosophischen Erkennungsszene ist im Werk von Kraus die Lyrik und ihre
Sprache der Reim: »Ein Wort, das nie am Ursprung lügt« und diesen seinen
Ursprung wie die Seligkeit am Ende der Tage, so am Ende der Zeile hat. Der Reim
— das sind zwei Putten, die den Dämon zu Grabe tragen. Er fiel am Ursprung,
weil er als Zwitter aus Geist und Sexus in die Welt kam. Sein Schwert und
Schild — Begriff und Schuld — sind ihm entsunken, um zu Emblemen unterm Fuß des
Engels zu werden, der ihn erschlagen hat. Das ist ein dichtender,
martialischer, mit dem Florett in Händen, wie nur Baudelaire ihn gekannt hat:
s'exerçant seul
à sa fantasque escrime,
Flairant dans tous les coins les hasards de la rime,
Trébuchant sur les mots comme sur les pavés,
Heurtant parfois des vers depuis longtemps rêvés.
Flairant dans tous les coins les hasards de la rime,
Trébuchant sur les mots comme sur les pavés,
Heurtant parfois des vers depuis longtemps rêvés.
Freilich auch ein zügelloser, »hier einer Metapher
nachjagend, die eben um die Ecke bog, dort Worte kuppelnd, Phrasen
pervertierend, in Ähnlichkeiten vergafft, im seligen Mißbrauch chiastischer
Verschlingung, immer auf Abenteuer aus, in Lust und Qual, zu vollenden,
ungeduldig und zaudernd«. So findet endlich das hedonische Moment dieses Werkes
den reinsten Ausdruck in solchem schwermütig-phantastischen Verhältnis zum Dasein,
in dem Kraus aus der Wiener Tradition der Raimund und Girardi zu einer ebenso
resignierten wie sinnlichen Konzeption des Glückes gelangt. Sie muß man sich
vergegenwärtigen, wenn man die Notwendigkeit erfassen will, aus welcher er dem
Tänzerischen bei Nietzsche entgegengetreten ist — um von dem Ingrimm ganz zu
schweigen, mit dem der Unmensch auf den Übermenschen stoßen mußte.
Am Reime erkennt das Kind, daß es auf den Kamm der Sprache
gelangt ist, wo es das Rauschen aller Quellen im Ursprung vernimmt. Dort oben
ist sie zu Hause, die Kreatur, die nun nach soviel Stummheit im Tier und so
viel Lüge in der Hure im Kinde zu Wort kommt. »Ein gutes Gehirn muß kapabel
sein, jedes Fieber der Kindheit so mit allen Erscheinungen sich vorzustellen,
daß erhöhte Temperatur eintritt« — mit derlei Sätzen zielt Kraus weiter, als es
den Anschein hat. Er selbst jedenfalls hat die Forderung in solchem Maße
verwirklicht, daß ihm das Kind niemals als Gegenstand, sondern, im Bilde seiner
eigenen Frühzeit, als Gegner der Erziehung vor Augen steht, den diese
Gegnerschaft erzieht, nicht der Erzieher. »Nicht der Stock war abzuschaffen,
sondern der Lehrer, der ihn schlecht anwendet.« Kraus will nichts sein als der,
der ihn besser anwendet. Seine Menschenfreundlichkeit, sein Mitleid haben an
dem Stock ihre Grenze, den er in derselben Schulklasse zu spüren bekam, in der
seine besten Gedichte zuständig sind.
»Ich bin nur einer von den Epigonen« — Kraus ist ein Epigone
des Lesebuchs. »Des deutschen Knaben Tischgebet«, »Siegfrieds Schwert«, »Das
Grab im Busento«, »Wie Kaiser Karl Schulvisitation hielt« — die waren seine
Vorbilder, die haben in diesem aufmerksamen Schüler, der sie lernte, sich
umgedichtet. So ist aus 378 den »Rossen von Gravelotte« das Gedicht »Zum ewigen
Frieden« geworden und noch die glühendsten seiner Haßgedichte sind an Höltys
»Feuer im Walde« entzündet, das die Lesebücher unserer Schulzeit durchstrahlte.
Und wenn am Jüngsten Tage nicht nur die Gräber, sondern auch die Lesebücher
sich öffnen, wird nach der Melodie »Was blasen die Trompeten, Husaren heraus«
der wahre Pegasus der Kleinen aus ihnen hervorstürmen und, eine verhutzelte
Mumie, eine Puppe aus Stoff oder gelblichem Elfenbein, wird dieser einzige
Verseschmied tot, ausgetrocknet über dem Bug seines Rosses hängend, auf ihm
daherfah-ren, der zweischneidige Säbel in seiner Hand aber wird, blank wie
seine Reime und schneidend wie am ersten Tag, durch den Blätterwald fahren und
Stilblüten werden den Boden decken.
Vollendeter ist nie die Sprache vom Geist geschieden, nie
inniger an den Eros gebunden worden, als Kraus es in der Einsicht getan hat:
»Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück.« Das ist
platonische Sprachliebe. Die Nähe aber, der das Wort nicht entfliehen kann, ist
einzig der Reim. So wird das erotische Urverhältnis von Nähe und Ferne in
seiner Sprache laut: als Reim und Name. Als Reim steigt die Sprache aus der
kreatürlichen Welt herauf, als Name zieht sie alle Kreatur zu sich empor. In
den »Verlassenen« hat die innigste Durchdringung von Sprache und von Eros, wie
sie Kraus erfuhr, mit einer ungerührten Größe sich ausgesprochen, die an die
vollkommenen griechischen Epigramme und Vasenbilder erinnert. »Die Verlassenen«
— voneinander sind sie es. Aber- das ist ihr großer Trost — sie sind es auch miteinander.
Auf der Schwelle zwischen Stirb und Werde halten sie inne. Rückwärts gewandten
Hauptes nimmt die Lust »nach unerhörter Weise« ihren ewigen Abschied; ihr
abgewandt betritt »nach ungewohnter Weise« die Seele ihre Fremde lautlos. So
miteinander verlassen sind Lust und Seele, aber auch Sprache und Eros, auch
Reim und Name. — »Den Verlassenen« ist der fünfte Band der »Worte in Versen«
gewidmet. Es erreicht sie ja nur noch die Widmung, welche nichts anderes als
das Geständnis der platonischen Liebe ist, die am Geliebten nicht ihre Lust
büßt, sondern es im Namen besitzt und im Namen auf Händen trägt. Dieser
Ichbesessene kennt keine andere Selbstentäußerung als Dank. Seine Liebe ist
nicht Besitz, sondern Dank. Dank und Widmung; denn danken heißt Gefühle unter
einen Namen stellen. Wie die Geliebte fern und blinkend wird, wie ihre
Winzigkeit und ihr Leuchten sich in den Namen ziehen, das ist die einzige
Liebeserfahrung, von der die »Worte in Versen« wissen. Darum also: »Leicht,
ohne Frau zu leben. | Schwer, ohne Frau gelebt zu haben.«
Aus dem Sprachkreis des Namens, und nur aus ihm, erschließt
sich das polemische Grundverfahren von Kraus: das Zitieren. Ein Wort zitieren
heißt es beim Namen rufen. So erschöpft sich auf ihrer höchsten Stufe die
Leistung von Kraus darin, selbst die Zeitung zitierbar zu machen. Er versetzt
sie in seinen Raum, und mit einem Mal muß die Phrase es inne werden: im
tiefsten Bodensatze der Journale ist sie nicht sicher vor dem Zustoß der
Stimme, die auf den Schwingen des Wortes herabfährt, um sie ihrer Nacht zu
entreißen. Wunderbar, wenn sie nicht strafend, sondern rettend naht, wie, auf
den Schwingen des Shakespeareschen, jener Zeile, in welcher einer vor Arras
nach Haus berichtet, wie in der Frühe auf dem letzten zerschossenen Baume vor seiner
Stellung eine Lerche zu singen begonnen habe. Eine einzige Zeile, und nicht
einmal seine eigene, genügt Kraus, um in dies Inferno rettend hinabzufahren,
eine einzige Sperrung: »Es war die Nachtigall und nicht die Lerche, die dort
auf dem Granatbaum saß und sang.« Im rettenden und strafenden Zitat
erweist die Sprache sich als die Mater der Gerechtigkeit. Es ruft das Wort beim
Namen auf, bricht es zerstörend aus dem Zusammenhang, eben damit aber ruft es
dasselbe auch zurück an seinen Ursprung. Nicht ungereimt erscheint es,
klingend, stimmig, in dem Gefüge eines neuen Textes. Als Reim versammelt es in
seiner Aura das Ähnliche; als Name steht es einsam und ausdruckslos. Von der
Sprache weisen sich beide Reiche — Ursprung so wie Zerstörung — im Zitat aus. Und
umgekehrt: nur wo sie sich durchdringen — im Zitat — ist sie vollendet. Es
spiegelt sich in ihm die Engelsprache, in welcher alle Worte, aus dem
idyllischen Zusammenhang des Sinnes aufgestört, zu Motti in dem Buch der
Schöpfung geworden sind. Von ihren Polen aus — dem klassischen und dem realen
Humanismus — umspannt bei diesem Autor das Zitat den ganzen Umkreis seiner
Bildungswelt. Schiller steht, freilich ungenannt, neben Shakespeare: »Adel ist
auch in der sittlichen Welt. Gemeine Naturen | Zahlen mit dem, was sie tun,
edle mit dem, was sie sind« — dies klassische Distichon kennzeichnet in der
Verschränkung von grundherrlichem Edel- und weltbürgerlichem Gradsinn den
utopischen Fluchtpunkt, in dem Weimars Humanität zu Hause war und den zuletzt
Stifter fixierte. Es ist für Kraus das Entscheidende, wie er genau in diesen
Fluchtpunkt den Ursprung verlegt. Die bürgerlich-kapitalistischen Zustände zu
einer Verfassung zurückzuentwickeln, in welcher sie sich nie befunden haben,
ist sein Programm. Aber darum ist er nicht weniger der letzte Bürger, der aus
dem Sein zu gelten beansprucht, und der Expressionismus ist seine
Schicksalsfigur geworden, weil hier sich diese Haltung erstmals vor einer
revolutionären Situation zu bewähren hatte. Eben daß der Expressionismus
versuchte, ihr nicht durch Handeln, sondern durch das Sein gerecht zu werden,
führte ihn zu seinen Ballungen und Gesteiltheiten. So kam es, daß er zum
letzten geschichtlichen Asyl der Persönlichkeit wurde. Die Schuld, die ihn
beugte, und die Reinheit, welche er proklamierte — beide gehören dem Phantom
des unpolitischen oder »natürlichen« Menschen an, wie er am Ende jener
Regression auftaucht und von Marx entlarvt wurde. »Der Mensch, wie er Mitglied
der bürgerlichen Gesellschaft ist«, schreibt Marx, »der unpolitische Mensch,
erscheint aber notwendig als der natürliche Mensch ... Die politische
Revolution löst das bürgerliche Leben in seine Bestandteile auf, ohne diese
Bestandteile selbst zu revolutionieren und der Kritik zu unterwerfen. Sie
verhält sich zur bürgerlichen Gesellschaft, zur Welt der Bedürfnisse, der
Arbeit, der Privatinteressen, des Privatrechts, als zur Grundlage ihres
Bestehns ... daher als zu ihrer Naturbasis. ... Der wirkliche Mensch ist erst
in der Gestalt des egoistischen Individuums, der wahre Mensch erst in der
Gestalt des abstrakten Citoyen anerkannt ... Erst wenn der wirkliche
individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als
individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen
Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist ...
und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen
Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht.«
Der reale Humanismus, der hier bei Marx dem klassischen die Stirne bietet,
offenbart sich für Kraus am Kinde, und der werdende Mensch hebt sein Gesicht
den Götzenbildern des idealen, des romantischen Naturwesens ebenso wie des
staatsfrommen Musterbürgers entgegen. Im Sinne dieses Werdenden hat Kraus das
Lesebuch revidiert, ging er insbesondere der deutschen Bildung nach und fand
sie schwankend, dem Wellenspiele journalistischer Willkür anheimgegeben. Daher
die »Lyrik der Deutschen«: »Wer kann, ist ihr Mann und nicht einer, der muß, |
sie irrten vom Wesen zum Scheine. | Ihr lyrischer Fall war nicht Claudius, |
aber Heine.« Daß jedoch der werdende Mensch nicht im Naturraum, sondern im Raum
der Menschheit, dem Befreiungskampf, eigentlich Gestalt gewinnt, daß man ihn an
der Haltung erkennt, die der Kampf mit Ausbeutung und mit Not ihm aufzwingt,
daß es keine idealistische, sondern nur eine materialistische Befreiung vom
Mythos gibt und nicht Reinheit im Ursprung der Kreatur steht, sondern die
Reinigung, das hat in dem realen Humanismus von Kraus seine Spuren am spätesten
hinterlassen. Erst der Verzweifelnde entdeckte im Zitat die Kraft: nicht zu
bewahren, sondern zu reinigen, aus dem Zusammenhang zu reißen, zu zerstören;
die einzige, in der noch Hoffnung liegt, daß einiges aus diesem Zeitraum überdauert
— weil man es nämlich aus ihm herausschlug.
So bestätigt sich: Bürgertugenden sind alle Einsatzkräfte
dieses Mannes von Haus aus; nur im Handgemenge haben sie ihr streitbares
Aussehen erhalten. Aber schon ist niemand mehr imstande, sie zu erkennen;
niemand imstande, die Notwendigkeit zu fassen, aus welcher dieser große
bürgerliche Charakter zum Komödianten, dieser Wahrer goethischen Sprachgutes
zum Polemiker, dieser unbescholtene Ehrenmann zum Berserker geworden ist. Das
mußte aber geschehen, da er die Änderung der Welt bei seiner Klasse, bei sich
zu Hause, in Wien zu beginnen dachte. Und als er, die Vergeblichkeit seines
Unternehmens sich eingestehend, mitten darinnen abbrach, da legte er die Sache
wieder in die Hände der Natur zurück: diesmal der zerstörenden, nicht der
schöpferischen:
Lasse stehen die Zeit! Sonne,
vollende du!
Mache das Ende groß! Künde die Ewigkeit!
Recke dich drohend auf, Donner dröhne dein Licht,
daß unser schallender Tod verstummt!
Mache das Ende groß! Künde die Ewigkeit!
Recke dich drohend auf, Donner dröhne dein Licht,
daß unser schallender Tod verstummt!
Goldene Glocke du, schmilz in
eigener Gluth,
werde Kanone du gegen den kosmischen Feind!
Schieß ihm den Brand ins Gesicht! Wäre mir Josuas
Macht, wisse, wieder war' Gibeon!
werde Kanone du gegen den kosmischen Feind!
Schieß ihm den Brand ins Gesicht! Wäre mir Josuas
Macht, wisse, wieder war' Gibeon!
Auf dieser, der entfesselten, Natur gründet sich das spätere
politische Kredo von Kraus, gewiß ein Gegenstück zu dem patriarchalischen
Stifters, ein Bekenntnis, an dem alles erstaunlich, unverständlich aber allein
das eine ist, daß nicht die größten Lettern der »Fackel« es aufbewahren, und
daß man diese stärkste bürgerliche Prosa des Nachkriegs in einem verschollenen
Hefte der »Fackel« — November 1920 — zu suchen hat:
»Was ich meine, ist — und da will ich einmal mit dieser
entmenschten Brut von Guts- und Blutsbesitzern und deren Anhang, da will ich
mit ihnen, weil sie ja nicht deutsch verstehen und aus meinen ›Widersprüchen‹
auf meine wahre Ansicht nicht schließen können, einmal deutsch reden ... — was
ich meine, ist: Der Kommunismus als Realität ist nur das Widerspiel ihrer
eigenen lebensschänderischen Ideologie, immerhin von Gnaden eines reineren
ideellen Ursprungs, ein vertracktes Gegenmittel zum reineren ideellen Zweck —
der Teufel hole seine Praxis, aber Gott erhalte ihn uns als konstante Drohung
über den Häuptern jener, so da Güter besitzen und alle andern zu deren
Bewahrung und mit dem Trost, daß das Leben der Güter höchstes nicht sei, an die
Fronten des Hungers und der vaterländischen Ehre treiben möchten. Gott erhalte
ihn uns, damit dieses Gesindel, das schon nicht mehr ein und aus weiß vor
Frechheit, nicht noch frecher werde, damit die Gesellschaft der ausschließlich
Genußberechtigten, die da glaubt, daß die ihr botmäßige Menschheit genug der
Liebe habe, wenn sie von ihnen die Syphilis bekommt, wenigstens doch auch mit
einem Alpdruck zu Bette gehe! Damit ihnen wenigstens die Lust vergehe, ihren
Opfern Moral zu predigen, und der Humor, über sie Witze zu machen!«
Eine menschliche, natürliche, edle Sprache — zumal im Lichte
der denkwürdigen Erklärung von Loos: »Wenn die menschliche Arbeit nur aus der
Zerstörung besteht, dann ist es wirklich menschliche, natürliche, edle Arbeit.«
Allzulange lag der Akzent auf dem Schöpferischen. So schöpferisch ist nur, wer
Auftrag und Kontrolle meidet. Die aufgegebene, kontrollierte Arbeit — ihr
Vorbild: die politische und die technische — hat Schmutz und Abfall, greift
zerstörend in den Stoff ein, verhält sich abnutzend zum Geleisteten, kritisch
zu ihren Bedingungen und ist in alledem das Gegenstück zu der des Dilettanten,
der im Schaffen schwelgt. Dessen Werk ist harmlos und rein; das Meisterliche
verzehrend und reinigend. Und darum steht der Unmensch als der Bote realeren
Humanismus unter uns. Er ist der Überwinder der Phrase. Er solidarisiert sich
nicht mit der schlanken Tanne, sondern mit dem Hobel, der sie verzehrt, nicht
mit dem edlen Erz, sondern mit dem Schmelzofen, der es läutert. Der
Durchschnittseuropäer hat sein Leben mit der Technik nicht zu vereinen
vermocht, weil er am Fetisch schöpferischen Daseins festhielt. Man muß schon
Loos im Kampfe mit dem Drachen »Ornament« verfolgt, muß das stellare Esperanto
Scheerbartscher Geschöpfe vernommen oder Klees »Neuen Engel«, welcher die
Menschen lieber befreite, indem er ihnen nähme, als beglückte, indem er ihnen
gäbe, gesichtet haben, um eine Humanität zu fassen, die sich an der Zerstörung
bewährt.
Zerstörend ist denn auch die Gerechtigkeit, die destruktiv
den konstruktiven Zweideutigkeiten des Rechtes Einhalt gebietet; zerstörend ist
Kraus dem eigenen Werke gerecht geworden: »Zurück als Führer bleibt mein ganzes
Irren!« Das ist die Sprache der Nüchternheit, die ihre Herrschaft in der Dauer
begründet, und schon haben die Schriften von Kraus zu dauern begonnen, und er
könnte das Wort von Lichtenberg ihnen voransetzen, der eine von seinen tiefsten
»Ihrer Majestät der Vergessenheit« widmete. So sieht die Selbstbescheidung nun
aus — kühner als die einstige Selbstbehauptung, die in dämonischer
Selbstbespiegelung zerging. Nicht Reinheit und nicht Opfer sind Herr des Dämons
geworden ; wo aber Ursprung und Zerstörung einander finden, ist es mit seiner
Herrschaft vorüber. Als ein Geschöpf aus Kind und Menschenfresser steht sein
Bezwinger vor ihm: kein neuer Mensch; ein Unmensch; ein neuer Engel. Vielleicht
von jenen einer, welche, nach dem Talmud, neue jeden Augenblick in unzähligen
Scharen, geschaffen werden, um, nachdem sie vor Gott ihre Stimme erhoben haben,
aufzuhören und in Nichts zu vergehen. Klagend, bezichtigend oder jubelnd?
Gleichviel — dieser schnell verfliegenden Stimme ist das ephemere Werk von
Kraus nachgebildet. Angelus — das ist der Bote der alten Stiche.
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