Freitag, 21. Juli 2017

Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft, 4. Buch 326

326.

Die Seelen-Aerzte und der Schmerz. — Alle Moralprediger, wie auch alle Theologen, haben eine gemeinsame Unart: alle suchen den Menschen aufzureden, sie befänden sich sehr schlecht und es thue eine harte letzte radicale Cur noth. Und weil die Menschen insgesammt jenen Lehren ihr Ohr zu eifrig und ganze Jahrhunderte lang hingehalten haben, ist zuletzt wirklich Etwas von jenem Aberglauben, dass es ihnen sehr schlecht gehe, auf sie übergegangen: sodass sie jetzt gar zu gerne einmal bereit sind, zu seufzen und Nichts mehr am Leben zu finden und miteinander betrübte Mienen zu machen, wie als ob es doch gar schwer auszuhalten sei. In Wahrheit sind sie unbändig ihres Lebens sicher und in dasselbe verliebt und voller unsäglicher Listen und Feinheiten, um das Unangenehme zu brechen und dem Schmerze und Unglücke seinen Dorn auszuziehen. Es will mir scheinen, dass vom Schmerze und Unglücke immer übertrieben geredet werde, wie als ob es eine Sache der guten Lebensart sei, hier zu übertreiben: man schweigt dagegen geflissentlich davon, dass es gegen den Schmerz eine Unzahl Linderungsmittel giebt, wie Betäubungen, oder die fieberhafte Hast der Gedanken, oder eine ruhige Lage, oder gute und schlimme Erinnerungen, Absichten, Hoffnungen, und viele Arten von Stolz und Mitgefühl, die beinahe die Wirkung von Anästheticis haben: während bei den höchsten Graden des Schmerzes schon von selber Ohnmachten eintreten. Wir verstehen uns ganz gut darauf, Süssigkeiten auf unsere Bitternisse zu träufeln, namentlich auf die Bitternisse der Seele; wir haben Hülfsmittel in unserer Tapferkeit und Erhabenheit, sowie in den edleren Delirien der Unterwerfung und der Resignation. Ein Verlust ist kaum eine Stunde ein Verlust: irgendwie ist uns damit auch ein Geschenk vom Himmel gefallen — eine neue Kraft zum Beispiel: und sei es auch nur eine neue Gelegenheit zur Kraft! Was haben die Moralprediger vom inneren „Elend“ der bösen Menschen phantasirt! Was haben sie gar vom Unglücke der leidenschaftlichen Menschen uns vorgelogen! — ja, lügen ist hier das rechte Wort: sie haben um das überreiche Glück dieser Art von Menschen recht wohl gewusst, aber es todtgeschwiegen, weil es eine Widerlegung ihrer Theorie war, nach der alles Glück erst mit der Vernichtung der Leidenschaft und dem Schweigen des Willens entsteht! Und was zuletzt das Recept aller dieser Seelen-Aerzte betrifft und ihre Anpreisung einer harten radicalen Cur: so ist es erlaubt, zu fragen: ist dieses unser Leben wirklich schmerzhaft und lästig genug, um mit Vortheil eine stoische Lebensweise und Versteinerung dagegen einzutauschen? Wir befinden uns nicht schlecht genug, um uns auf stoische Art schlecht befinden zu müssen!

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen