Die jüngste Ausgabe ist eingelangt und liegt in unserer Bibliothek auf:
Lettre International Nr.108 / Neue Ausgabe
Liebe Leserinnen und Leser, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe
Freundinnen und Freunde,
der
Frühling streckt erste Fühler aus, und mit dem Frühlingserwachen erblüht
auch Lettre International
in frühlingshafter Pracht und Fülle. Lettre Nr. 108 ist ab Donnerstag, dem 12.
März 2015, am Kiosk, im Buchhandel, an Bahnhöfen, Flughäfen oder ab Verlag
zu haben. Gestaltet hat sie der Graphiker und Plakatkünstler Gunter Rambow.
100
Jahre nach dem Völkermord an den Armeniern wird
dieser bis heute noch verleugnet: Welche Konsequenzen hat das für die türkische
Gesellschaft? Philosophen und Juristen erhellen Hintergründe der Pariser
Attentate: Wer ist Charlie? Im
Nahen Osten stellt sich erneut die Orientalische Frage. Ein Nigrer beschreibt seinen Fluchtversuch nach Europa: Grab der Illusionen. In Burkina Faso erleben wir eine Revolution. Private Datenmonopole sollten
vergesellschaftet werden: Big Data für alle! Eine Universaltheorie des weiblichen Schmerzes untersucht
die Wunden der Frau. Ein Intellektueller zieht eine Zwischenbilanz seines abenteuerlichen Lebens. An das Kriegsende
1945 im zerstörten Nazireich erinnert: Hitler Kaputt! Wir
graben uns tief ins Land unter London hinein.
Wir beobachten Avantgarde und Tradition in der Globalität
der Musik, hören von der Oper der Zukunft und dekodieren Theatercodes. Wir belauschen einen Flirt von Gabriel García Márquez, wir fragen: Kann
Spanien modern werden? Und wir erinnern an eine herausragende Persönlichkeit der
Anti-Vietnamkriegsbewegung.
ARMENIEN ERINNERN
Aus Anlaß des 100jährigen Jahrestags des Völkermords an
den Armeniern erinnert die Schriftstellerin Sema
Kaygusuz in ihrem bewegenden Essay Abel, vom Raben begraben an
die Leugnung und Verdrängung des Genozids in der Türkei: „Gräber schauen zum
Himmel auf, Grabsteine den Menschen ins Gesicht. Um das stille innere Gespräch
fortzuführen. Das Behauen von Stein ist ein Gestus von Kultur. Grabinschriften
besagen, solange es Barbaren auf der Welt gibt, kann dem Menschen das Leben
genommen werden, um seinen Tod aber bringt ihn niemand. Die Lebenden lesen sie
und entwickeln über das Gedenken an die Verstorbenen hinaus auch Ethiken zu
ihrem Gedächtnis. (...) Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, was ein Land,
das zum Gedenken an die 1915 in Anatolien ermordeten Armenier bis heute keinen
einzigen Stein aufzustellen fähig war, in dem die grundlegendste
zivilisatorische Handlung über ein Jahrhundert verweigert blieb, seinem Volk
und den in alle Welt versprengten Armeniern bis heute vorenthält.“
RELIGION UND REPUBLIK
Das islamistische Attentat auf die Redaktion von Charlie
Hebdo in Paris im Januar 2015 markiert eine Epochenwende, so der
italienische Philosoph Paolo Flores D’Arcais in
seiner Analyse: Wer ist Charlie? „Das Blutbad geschah im Namen Gottes, des monotheistischen allmächtigen
Schöpfergottes, des Gottes Mohammeds, Allahs, des Barmherzigen und Gnädigen. Im
Namen des Islam, des fundamentalistischen und terroristischen Islam. Der andere
Islam, betont man, sei dabei Opfer – doch erscheint ein reformierter und
säkularisierter Islam heute nahezu inexistent. Sich dies nicht einzugestehen
ist Blindheit, und die reinste Heuchelei des westlichen Establishments, das
sich in erster Linie dafür interessiert, sich mit seinen islamischen Partnern
die oberste Religion zu teilen, den Gott des Geldes, der über Erdöl und Börse
gebietet. Deshalb hat dieses Establishment Bemühungen um eine Reform des Islam
nie ernsthaft unterstützt. (...) Nur eine strikte Trennung von Staat und
Religion, säkularer Republik und Offenbarungsglaube ist mit Modernität und
Demokratie vereinbar: Die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie hängt von der
– heute verweigerten – Akzeptanz der Säkularisierung ab, der Trennung von
Religion und Politik, und dies gilt für alle Religionen. Doch die
Säkularisierung ist das, was große Teile des westlichen Establishments bekämpft
haben und weiter bekämpfen.“ Ein Plädoyer für Demokratie und strikte
Laizität.
Der
französische Rechtsphilosoph Antoine Garapon erhellt
in Rächer des Propheten Zusammenhänge
zwischen den Pariser Attentaten, der Globalisierung und der Souveränität des
Staates: „Diese Mordtaten sind hybride Akte, die in keine wohlsortierte
Kategorie passen: Es sind zugleich terroristische Attentate und Kriegsakte,
gemeinrechtliche Verbrechen und politische Gewalt. Die Opfer spiegeln diese
Heterogenität wider: libertäre Karikaturisten, Polizisten, Juden, Partisanen
der Unordnung und Ordnungskräfte, Verächter der Religion und des Religiösen.
Und das wiederum spiegelt sich in der Kohärenz der Reaktionen: Man ist auf die
Straße gegangen für die Verteidigung der Meinungsfreiheit, aber auch gegen eine
totale Freiheit, für die Muslime und gegen den radikalen Islam, für eine
brüderliche Republik und eine unbeugsame Laizität.
Am erschreckendsten erscheint die unglaubliche Asymmetrie zwischen der Aktion
einer Handvoll junger Fanatiker und der tiefgreifenden Destabilisierung eines
Landes. Welches Mißverhältnis zwischen den Millionen Demonstranten und der
Präsenz von vierzig Staatschefs, und einer aus drei Personen bestehenden Bande
(...) Diese Gewalttaten markieren die Verwirrung der Räume und der Zeiten.
(...) Eine solche Verwirrung resultiert aus einer bedeutenden Entwicklung
unserer Welt, nämlich einer Raumrevolution, der Globalisierung, genauer aus der
Deterritorialisierung.“ Extrem verschiedene Vorstellungswelten und
konkurrierende Symbolsysteme treffen ohne jede Vermittlung aufeinander. Wie
könnte der demokratische Staat den Dschihadimus erfolgreich bekämpfen? Durch,
so Garapon, eine Aktualisierung des demokratischen Paktes und eine
Modernisierung der Republik.
Wie
bedeutsam auch die politischen, sozialen und religiösen Faktoren sein mögen,
sie erklären nichts aus sich selbst heraus. Sie sagen nichts darüber aus, wie
scheinbar normale Menschen so weit kommen, Selbstmordattentate zu begehen, so Bernard Perret in Gewalt und Heiliges: „Wenn
man fanatische Krieger rekrutieren will, geht man nie zu weit bei der
Zurschaustellung extremer, grausamer, reinigender Gewalt, die eine Verheißung
vollkommener Brüderlichkeit vermittelt. Eine solche Gewalt ist konstitutiv und
will die sozialen Bindungen auf einer gemeinschaftlichen Grundlage neu
gestalten. Ihre Adepten erstreben nichts Geringeres, als uns mit den tiefsten,
auch den archaischsten Triebkräften der Zusammengehörigkeit neu in Verbindung
zu bringen. Zutiefst lehnen sie ab, was wir die demokratische Gesellschaft
nennen (...) Abgelehnt werden der Individualismus, die
„kalte“ Gesellschaft, in der jeder ungehemmt seine eigenen Ziele verfolgt und
so lebt, wie er es für richtig hält. Doch man darf sich nicht von dieser Gewalt
prägen lassen. Gegen die Opferlogik zu denken ist anspruchsvoller, als in einen
mimetischen Wettstreit mit dem religiösen Fanatismus zu treten.“
„Seit
Ende des 18. Jahrhunderts ist diese Region einer unablässigen Interaktion
zwischen lokalen, regionalen und internationalen Akteuren unterworfen.“ Und
heute gleicht der Nahe Osten eher dem Europa des Dreißigjährigen Kriegs als
jenem von 1945. Mit den Ursachen dieses Desasters, den Zerstörungen
autokratischer, aber säkularer Staaten wie Irak, Libyen und Syrien, dem
Aufstieg des Islamismus und des sogenannten Islamischen Staates, sowie
dem Debakel westlicher Politik befaßt sich der Experte für die arabische Welt
am Pariser Collège de France, Henry Laurens: Die orientalische Frage.
AUFBRÜCHE
Der Niger ist eines der ärmsten Länder der Welt. Diesem
Land entstammt Oumarou M. Rabiou, der
das hohe Risiko eingegangen ist, sich auf den Flüchtlingsrouten der
zentralafrikanischen Migranten nach Europa durchzuschlagen, um darüber zu
schreiben. Er vertraut sich einem Schlepper an, wird auf seinem Weg durch die
Wüste getäuscht, betrogen, verlassen, ausgesetzt, beraubt, verdurstet fast,
wird Opfer von Überfällen und Zeuge eines Raubmords, und landet schließlich im
libyschen Tripolis in einem Elendsasyl. Zuletzt kauft er von Schleusern eine
Überfahrt nach Italien, wird auf dem Meer aufgebracht und muß zurück, in ein
libysches Gefängnis. Rabiou kehrt zurück nach Niger und berichtet über diese
Odyssee. Er versteht seinen Text als Warnung an jene Afrikaner, die ihr Leben
aufs Spiel setzen, um das gelobte Land Europa zu erreichen. Seine Reise durch
die Dunkelheit heißt: Das Grab
der Illusionen.
Hoffnungszeichen
aus Afrika schickt Peter Stepan. „Wann
würde der Funke nach Schwarzafrika überspringen? Nach der Volkserhebung der
Tunesier, nach dem Tahrir der Ägypter, dem Maidan der Ukrainer: Würde bald
eines der überfälligen Regime südlich der Sahara kollabieren? Blaise Compaoré,
seit dem 31. Oktober 2014 Ex-Staatschef Burkina Fasos, war mit seinen 27 Jahren
als Präsident nicht einmal der dienstälteste unter jenen afrikanischen
Potentaten, die sich ad vitam aeternam an ihr Amt klammern. Wie Monarchen
regieren Obiang Nguema und José Eduardo dos Santos seit 35 Jahren
Äquatorialguinea bzw. Angola, Robert Mugabe ist Premier und Präsident von
Zimbabwe schon im 34. Dienstjahr, und Paul Biya hat seit 32 Jahren Kamerun fest
im Griff. Selbst unter den Spitzenreitern vergangener Endlos-Präsidenten
rangiert Compaoré hinter Benins Mathieu Kérékou erst auf Platz sechs: Omar
Bongo hielt sich 41 Jahre lang als Präsident von Gabun, Franz Josef Strauß’
Freund Gnassingbé Eyadéma 37 Jahre in Togo, gefolgt von Ahmed Sékou Touré
(Guinea, 36 Jahre), Félix Houphouët-Boigny (Côte d’Ivoire, 33 Jahre) und
Mobutu, den es in Kongo-Kinshasa im 31. Jahr seiner Herrschaft vom Thron fegte.
Die Genannten führten oder führen noch immer ein blutiges Regime. Auch
Compaorés Parcours säumen Serien politischer Morde.“ In
Burkina Faso ereigneten sich nun im Oktober 2014 gleich mehrere Wunder, um in
Rücktritt und Ausreise des Staatschefs Compaoré zu gipfeln: Daß ein Großteil
der Bevölkerung der Hauptstadt Ouagadougou tagelang auf die Straße ging, ist
das eine, das Tempo der Ereignisse das andere; und daß es nicht zu einem
Blutbad kam, darf als das größte Wunder gelten. Ein Chronogramm
der Burkinischen Oktoberrevolution.
DIAGNOSEN
Der Internettheoretiker Evgeny
Morozov umreißt Geschichte und Gegenwart des „Netzes“. Er räumt auf mit Träumen,
Illusionen und Silicon-Valley-Mythen der Internet-Euphorie. Das Internet
entwickelt sich als Meta-Medium für verschiedenste Netzwerke, es integriert
Zahlungs-, Buchungs- und Kommunikationssysteme, absorbiert parallele
Entwicklungen von Hard- und Software, von staatlichen und privaten
Infrastrukturen. Googles berühmter Algorithmus beruht auf Jahrzehnten der
Forschung und ist nicht allein die Schöpfung weniger genialer Informatiker; zur
Vorgeschichte des Internets gehören Militär, Geheimdienste, Computergiganten
wie IBM und auch private Datenbankkonzerne. Diese Megaakteure akkumulieren
immense Datenmengen über jeden User. Monopole wie Google, Facebook oder Amazon
sammeln, systematisieren, werten aus und entwickeln gezielte Strategien. Sie
erobern Informationen über die Menschen ganzer Kontinente. Daten und
Dateninfrastrukturen sind heute zu Schlüsseltechnologien von Ökonomie, Politik,
Militär und Geheimdiensten geworden. Morozov plädiert für die
Vergesellschaftung der Datenzentren: Die Gesellschaft braucht neue Strukturen
der Speicherung, des Eigentums und der Nutzung von Daten. Sie sollten alle den
Bürgern zur Verfügung stehen und ein Instrument zur Verbesserung der
Gesellschaft werden. Big Data für alle.
Der
Wunden gibt es zahlreiche, der Schmerzen vielfältige. Verschuldete,
unverschuldete. Schmerz empfinden, Schmerzen zufügen, Schnitte ins Fleisch, ins
eigene, Selbstverletzung, sichtbar, unsichtbar, Scham über den Schmerz, Stolz
über das Leid, Erbleichen, Erkranken, Aufmerksamkeit zu erregen suchen, Scham
über die Wunde, Aufhebung der Grenze zwischen innen und außen, die Wunde, die
offene, das Blut, Menstruation als ewige Wunde, die Narbe – Beweis des
Schmerzes, die Narbe – Fenster ins verborgene Innere, Unterwerfung, Leid,
Mitleid, Opferrolle – Leslie Jamison umkreist
Die verwundete Frau und
entwirft eine Universaltheorie des weiblichen Schmerzes. Sie analysiert, kategorisiert, hinterfragt alle Facetten weiblichen
Schmerzes und auch Klischees, die mit ihm einhergehen. Weiblicher Schmerz
bleibt irritierendes, tabuisiertes Thema, insistiert die Schriftstellerin und
plädiert dafür, die Herzen zu öffnen.
LEBENSLINIEN
Régis Debray ist einer jener Intellektuellen, deren
Lebenslauf den Umbruch von 1968 am markantesten verkörpern. Er reiste ins Kuba
der 60er Jahre um aus Gesprächen mit Castro und Che Guevara eine Theorie der
kubanischen Revolution zu destillieren. Als Begleiter des Che in Bolivien
verhaftet, kam er auf internationalem Druck nach vier Jahren frei. Er war aktiv
im Chile Allendes bis zum Militärputsch 1973. Zurück in Paris, wurde Debray
außenpolitischer Berater von Präsident Mitterrand und Mitglied des Staatsrates.
Als Denker und Zeitdiagnostiker verfaßte er Essays zur Religion, zum Sakralen,
zur Mediologie, zur Rolle der Intellektuellen, zu Politik und Geschichte. Nun
wagt Debray eine Bestandsaufnahme seines
Lebens: Temperament, Charakter, Obsessionen werden erkennbar, Lust an großen
Ideen und zugleich Erdung im Realen, Vergnügen an der Arbeit im Kollektiv und
eine Vita zwischen dem Dünkel der akademischen Welt und der Freiheit des
unabhängigen Schriftstellers: Die Autobiographie eines abenteuerlichen Herzens.
Am 8.
Mai 2015 jährt sich zum 70. Mal das Ende des Zweiten Weltkriegs und der
NS-Diktatur. Georg Stefan Troller, Journalist und Dokumentarfilmer, erinnert sich an das Kriegsende 1944/45.
Der Sohn einer jüdischen Wiener Familie war den Nazis rechtzeitig entflohen und
kehrte Jahre später als Vernehmungsoffizier der U.S. Army mit dem 179. Regiment
der 45. Infanteriedivision, den „Thunderbirds“, aufs Schlachtfeld
zurück. Jetzt hat er für Lettre erstmals wieder seinen Koffer mit
Aufzeichnungen aus jener Zeit geöffnet. Kriegstagebücher, Protokolle, Skizzen,
Notizen und Photographien helfen ihm, Erfahrungen und Begegnungen als US-Soldat
im besiegten Deutschland, in Aschaffenburg, in München, in Dachau in Erinnerung
zu rufen: Hitler kaputt!
LAND UND LEUTE
Wenn die Oberfläche der Welt mit Geschichten überladen
ist, wenn an jedem Bauzaun plakatweise große Töne gespuckt und Busse,
Polizeiautos und Müllwägen mit Slogans zugekleistert werden, werden Ambitionen,
in den „Untergrund“ vorzudringen, verständlich. Oligarchen und überbezahlte
Gangster am Geldmarkt, Fußballstars und ihre Berater graben schon seit
Jahrzehnten Höhlen unter den Nobelvierteln Chelsea und Kensington. Sie lassen
sich Pools, Kinos und den letzten Schrei eines Fitneßstudios unter der Erde
bauen, in die kein ungebetener Sterblicher je einen Fuß setzen wird. Der
Schriftsteller Iain Sinclair kennt
die britische Hauptstadt wie seine Westentasche. Seine Reportage Land unter London widmet sich dem Bohren und den Bergwerksarbeiten, der
Untergrabung der Oberfläche. Über Immobilienspekulanten und Fracker,
Rutengänger und Künstlerkollektive, Hobbyarchäologen, eigenbrötlerische
Erdarbeiter und psychopathische Maulwürfe. Eine Führung durch Katakomben,
Kriegsbunker und Kanalisation, Schächte und Labyrinthe – eine
psychogeographische Expedition in die Londoner Unterwelt.
Geboren in der Provinz ist Arian Leka. Die Hafenstadt Durrës am Gestade der Adria ist die zweitgrößte Stadt
Albaniens und dessen frühere Hauptstadt. Einst stolze Hafenmetropole, geprägt von
Seefahrt, Fischfang und maritimer Offenheit, Heimat von Werften und Industrie,
ist sie herabgesunken in Provinzialität. Nur wenige Spuren zeugen noch vom
glorreichen Zusammenleben von Mensch und Meer. „Nun oh Mensch! Was hast Du
wieder angerichtet?/ In Silber hast Du verwandelt, alles was einst Gold war
...“ Leka erzählt von lokalen Mythen, Namen und Stammbäumen, von
Originalen, Orten und Ereignissen. Bei allen Verluste entdeckt er einen neuen
Zauber seiner Heimatstadt und so entfaltet er eine ganze Phänomenologie der
Provinz. „Ich möchte die Provinz mit einem Unterschlupf in Kriegszeiten
vergleichen, einem sicheren Ort, um sich vor den Produkten der ideologischen
Pseudozivilisation zu schützen ...“
Dem
mythischen Volk der Sarmaten und ihrem Lebensraum Sarmatien geht Rasmus Althaus in seinem Essay Beide
Sarmatien nach. „Niemand genau weiß, wer die Sarmaten waren, ihre Herkunft liegt
in der Weite der Steppe, im Dunkel der Vorgeschichte. Ihr Ende ist tragisch und
wirr.“ Sie verlieren sich in den Bewegungen der Völkerwanderung, vermischen
sich mit anderen Völkern und Kulturen, ändern ihre Stammesnamen, geraten in
Vergessenheit. Sarmatien gehört sowohl zu Asien als auch Europa; irgendwo in
den Ebenen zwischen Weichsel und Don, Don und Schwarzem Meer, Don und Donau
bewegen sich diese Nomaden und ihre Spur verliert sich. Doch es beginnt eine
zweite Geschichte Sarmatiens, als sie gegen Ende des 15. Jahrhunderts zu
Vorfahren der Polen und Ruthenen gemacht und in Gebieten des heutigen Polens,
Baltikums, Weißrußlands und der Ukraine verortet werden. „Sarmatien war
überall dort, wo Intrigen, Anarchie und Absurdität herrschten“, es
verkörperte ein Leben, das sich jeder Modernisierung verschloß. Die Reiche,
Systeme, Herrschaftsgebilde kommen und gehen. Doch Sarmatien bleibt wie durch
ein Wunder immer bei sich. „Es ist als würden die kulturellen Gene
Sarmatiens in der Weite der Landschaft und nicht in der menschlichen
Zivilisation mit ihren zufälligen Ideologien, Nationalitäten und Namen
verborgen liegen.“
Eine
ganze Maidanologie entwirft
Stefan Weidner: „Seit langem kenne
ich dieses Wort, und ich wußte, daß es ‘Platz’ bedeutete, bevor ich wußte, daß
es in Kiew einen solchen Platz gibt. Ich kenne es aus dem Arabischen, aus
verschiedenen Städten in der islamischen Welt, und wunderte mich, daß bei aller
Berichterstattung nichts über die Tatsache zu lesen war, daß der berühmte Platz
in Kiew genauso heißt wie der Tahrir-Platz, an dem die Ägypter sich eingefunden
haben, um gegen die jeweils herrschende Regierung zu protestieren; und daß
dieser genauso heißt wie der Taksim-Platz in Istanbul, wo die Proteste gegen
Erdoğan begonnen haben. (...) „Maidan“ ist der arabische Name für Platz.
„Maidan“ ist ein erz- und urarabisches Wort, und es ist, als trüge die
Etymologie dieses Wortes wie ein Keim alles in sich, was sich später auf den
„Maidan“ genannten Orten abspielen würde (...) Das Wort stammt von einem Verb
ab, dessen Infinitiv „mayd“ oder „mayadan“ lautet, und dieses
Verb drückt das Bewegtsein, Erschüttertwerden aus, das Wanken, Schwanken (...)
Gibt es möglicherweise eine Art Maidan-Essenz, die jene Plätze auszeichnet, die
da „Maidan“ heißen?“
Ein
Güterzug ist entgleist, Waggons umgekippt und in Flammen aufgegangen, irgendwo
auf dem mittelrussischen Land. Gerüchte verbreiten sich über die
Gefahrenladung. Menschen aus der fernen Hauptstadt tauchen auf, Spezialisten
zur chemischen Abwehr, ein Generalmajor, ein Katastrophenschutzoberst, eine
ominöse Zivilperson; sie übernehmen und erklären die Gegend zum
Notstandsgebiet. Tausende von Quadtratkilometern drohen, verseucht zu werden,
die Region muß evakuiert werden, Militär wird eingesetzt. Die Mentalität von
Geheimagenten und der Befehlston der Militärs vertragen sich schlecht mit dem
Starrsinn der Dorfbewohner und dem Eigensinn der ländlichen Autoritäten. Aus
einem kleinen Ereignis entwickelt sich ein ungeheures Geschehen. Zuletzt findet
die Umweltkatastrophe nicht statt, denn ein betrügerisches Kartenhaus stürzt
ein. Der menschliche Faktor regiert und ein Dieb wird zum Retter des
Vaterlands. Der liebe Gott hat noch einmal die Hand über Rußland gehalten. Die Substanz, eine fesselnde russische Groteske, von Olga Slawnikowa
MUSIK, THEATER, FILM
Warum komponieren Komponisten aus fast allen Kulturen
westliche Neue Musik? Und was passiert, wenn der Westen einmal seine
Definitionsmacht darüber verliert, was „moderne“ oder „zeitgenössische Kunst“
ist, wenn sich Kulturen wirklich auf Augenhöhe begegnen? Welcher Reichtum
könnte aus interkulturellen Begegnungen resultieren, wenn sich etwa Europa und
Asien als Gleichberechtigte akzeptieren? Über den schöpferischen Umgang mit der
Musik anderer Kulturen, über das Selbstbild der westlichen Kultur und das
„Andere“ des Westens reflektiert Wolfgang-Andreas
Schultz in Musik und Globalität. Über
Rationalität und Spiritualität, Material und Seele, Romantik und Mystik, Syntax
und Semantik, Traditionen und kompositorische Tabus.
„Hohes,
langes spitzgieren decrescendiert aus dem dritten, das vierte und fünfte
Séparée lassen durch atemstarre und nichts aufhorchen. Ist da überhaupt jemand
drin? Vielleicht sollte man reinsehen, vielleicht fände man darin eine/n
Partner/in für die geheimsten Wünsche? ... aus dem vierten endaufjuchzer auf
höchster reststimme in einer Sprache, von deren Existenz man bislang nichts
wußte. Aus dem fünften kommt plötzlich ein extrem brutal hart gestaffelter
aufschrei mit unhörbar gespenstischen echofäden, die starrweit in das
erschreckte Bewußtsein eindringen.“ Einblicke in die
Opernwelten des Komponisten Hans-Joachim Hespos gibt Tobias Daniel Reiser in Obszöne Séparées.
In
einem Gespräch mit Tobias D. Reiser plädiert
der Komponist Hespos für
eine wahre zeitgenössische Oper. „Oper, das ist vor allem die stimme, dieser
wahnsinn des kehlkopfes ... kein text, keine erzählgeschichten, keine
literatur! das maul ist der text!“ Zur Oper gehört: spannung der szene, unser
drama, das schöne/entsetzliche, die bilder/gegen-bilder von uns menschen und
unseren UN/taten. ... sie sind da, die wunderbaren jung/alten
künstler/könner/visionäre/spinner, es gibt ihre neuartig unerhörten
partituren, konzepte, anschübe, unglaublichkeiten ... es braucht nur
entfaltungsraum für die vielen wunderbaren schöpferischen zellen ...“
Frank M. Raddatz spricht mit einem Wunderkind der Bühne und entschiedenen
Kritiker des Regietheaters, der zu den erfolgreichsten Regisseuren der
deutschen Theaterlandschaft zählt: René Pollesch, der als Autor in der
Tradition Shakespeares seine Aufführungstexte mit den Schauspielern während der
Proben entwickelt, ein eigenes Theaterformat entworfen hat; jenem
Kulturkämpfer, der Schauspieler als Mitautoren versteht, der die Mechanismen
und Hierarchien des Stadttheaters kennt und nicht müde wird, sie auszuhebeln: Der Pollesch-Code.
Maja Turowskaja porträtiert den Mikrokosmos Mosfilm. Die legendäre Institution der Filmgeschichte
ist heute eines der modernsten Filmstudios Europas, zu Zeiten der Sowjetunion
wurden hier 2.500 Filme gedreht. Mosfilm war die kommunistische
Traumfabrik. Die russische Drehbuchautorin und Filmhistorikerin sondiert das
Jahr 1937; Jubiläumsjahr der Revolution und Jahr des Großen Terrors. Während
der Stalinzeit war Mosfilm ein heikler Ort voll steiler Karrieren und jäher
Abstürze, voll Lebensgier und todbringender Fehler. Ein Rückblick auf Traum und
Revolution, Avantgarde und Terror, Karrieren und Kollektivismus.
BRIEFE, KOMMENTARE, KORRESPONDENZEN
Der englische Schriftsteller Nicholas
Shakespeare erinnert an einen Pariser Flirt von Gabriel García Márquez mit einer
späteren Figur einer seiner Erzählungen: Eine
Muse von Márquez. Eduardo
Subirats fragt: Kann Spanien modern werden? Über
die bisher stets scheiternde Hoffnung, ein rückständiges und korruptes
nationalkatholisches Spanien zu reformieren. Tom
Engelhardt erinnert in Kriege ohne Antikriegsbewegung an I.
F. Stone, einen Vorkämpfer der Antikriegsbewegung zu Zeiten des Vietnamkriegs.
Urvashi Butalia über die Zeit
der Reife in der größten Demokratie der Welt. Die Ergebnisse der jüngsten lokalen
Wahlen in Neu Delhi haben erstaunt. Von den siebzig Sitzen des Parlaments
gingen 67 an die Aam-Aadmi-Partei (AAP), die „Partei der einfachen
Menschen“ während die konservative Bharatiya Janata Party (BJP) des
Premierminister Narendra Modi eine krachende Niederlage erlebte. Eine
zunehmende Gewöhnung an Unfreiheit in seinem Heimatland konstatiert Michail Ryklin: Nur fünf Prozent der russischen Bürger
sollen Karikaturen für eine Ausdrucksform der Pressefreiheit halten. 89 Prozent
der Russen sprechen sich gegen die Veröffentlichung von Zeichnungen im Stil von
Charlie Hebdo aus. Auch die Verfolgung von Künstlern durch
Nationalisten, Kirche und Justiz trifft nicht auf größeren Widerstand. Rußland
scheint zunehmend aus dem kulturellen Raum Europas herauszufallen, die Mehrheit
seiner Bewohner sich an Unfreiheit zu gewöhnen.
KUNST UND PORTFOLIO
Seit den 1960er Jahren sind Bilder von Gunter Rambow auf der Straße zu sehen, denn er macht hauptsächlich
Plakate – politische Statements, auch Theater- und Opernplakate. Bei ihm kann
auch ein Theaterplakat politisch sein. Rambow verdichtet Themen aus Politik,
Kultur und Gesellschaft zu wirkungsmächtigen visuellen Metaphern, die von jedem
verstanden werden können. Für Lettre hat der Künstler photographische
Motive montiert, als Ausdruck seiner Reflexionen zur heutigen Gesellschaft.
Pierre-Elie de Pibrac wirft
einen so persönlichen wie abstrakten Blick auf den Tanz und die Ausbreitung
seiner Energie im Raum mittels seiner photographischen Meditation: Catharsis – das Photoportfolio
Ihnen
allen wünschen wir mit dem neuen Heft gute und spannende Lektüre und einen
zauberhaften Frühlingsbeginn! Bleiben Sie uns gewogen.
Ihre Lettre
Redaktion