Dienstag, 31. Januar 2012

Unterwegs mit Joseph Freiherr von Eichendorff

In Ergänzung unserer Anmerkungen und Notizen zum Themenheft "unterwegs", Driesch # 9 (März 2012) hier einige Gedichte von Eichendorff mit Zitaten aus dem sehr lesenswerten Essay "Zum Gedächtnis Eichendorffs" von Theodor W. Adorno (in: Noten zur Literatur 1:69-94 bzw. GS 11:69-94).

"Erfahrung wäre die Einheit von Tradition und offener Sehnsucht nach dem Fremden." Dieser Satz elektrisiert im ersten Absatz von Adornos o. a. Essay. Dort heißt es weiter:

"Eichendorff erkennend vor Freunden und Feinden retten, ist das Gegenteil sturer Apologie. Das Element seiner Gedichte, das dem Männergesangverein überantwortet ward, ist nicht immun gegen sein Schicksal und hat es vielfach herbeigezogen. Ein Ton des Affirmativen, der Verherrlichung des Daseins schlechthin bei ihm hat geradewegs in jene Lesebücher geführt. Die apokryphe Unsterblichkeit freilich, die er dort fand, steht zu verachten nicht an. Wer nicht als Kind »Wem Gott will rechte Gunst erweisen, / Den schickt er in die weite Welt« auswendig lernte, kennt nicht eine Schicht der Erhebung des Wortes über den Alltag, die kennen muβ, wer sie sublimieren, wer den Riβ zwischen der menschlichen Bestimmung und dem ausdrücken will, was die Einrichtung der Welt aus ihm macht. So sind auch Schuberts Müllerlieder nur dem ganz nah, der zuvor einmal die Vulgärkomposition von »Das Wandern ist des Müllers Lust« im Schulchor mitgesungen hat. Manche Verse von Eichendorff, »Am liebsten betracht' ich die Sterne, / Die schienen, wenn ich ging zu ihr«, klingen wie Zitate beim ersten Mal, memoriert nach dem Lesebuch Gottes."


Joseph Freiherr von Eichendorff
(10.3.1788-26.11.1857)

Wem Gott will rechte Gunst erweisen,
Den schickt er in die weite Welt,
Dem will er seine Wunder weisen
In Berg und Wald und Strom und Feld.

Die Trägen die zu Hause liegen,
Erquicket nicht das Morgenrot,
Sie wissen nur von Kinderwiegen,
Von Sorgen, Last und Not um Brot.

Die Bächlein von den Bergen springen,
Die Lerchen schwirren hoch vor Lust,
Was soll ich nicht mit ihnen singen
Aus voller Kehl und frischer Brust?

Den lieben Gott laß ich nun walten,
Der Bächlein, Lerchen, Wald und Feld
Und Erd und Himmel will erhalten,
Hat auch mein Sach aufs best bestellt.










Adorno:
Wohl geziemt es nicht, nach einer verbreiteten literarhistorischen Manier, Eichendorffs affirmativen Ton als dem Dunklen entrungen zu rechtfertigen, von dem jene Gedichte und Prosasätze wenig bezeugen. Aber fraglos sind sie doch verwandt mit dem europäischen Weltschmerz. Ihm antwortet Eichendorffs gekaufter Mut, jener Entschluβ zur Munterkeit, wie er mit befremdend paradoxer Gewalt am Ende eines der gröβten seiner Gedichte, dem vom Zwielicht, sich bekundet: »Hüte dich, sei wach und munter«. Was bei Schumann einmal »im fröhlichen Ton« heiβt, gleicht bei diesem wie bei Eichendorff schon dem Rilkeschen »Als ob wir noch Fröhlichkeit hätten«:

Hinaus, o Mensch, weit in die Welt
Bangt dir das Herz in krankem Mut;
Nichts ist so trüb in Nacht gestellt,
Der Morgen leicht macht's wieder gut.
Die Ohnmacht solcher Strophen ist nicht die des beschränkten Glücks, sondern der vergeblichen Beschwörung, und der Ausdruck ihrer Vergeblichkeit, mit dem wohl skeptisch Wienerischen »leicht« für »vielleicht«, ist zugleich die Kraft, die mit ihnen versöhnt.


Hier das ganze Gedicht von Eichendorff:

Der Morgen

Fliegt der erste Morgenstrahl
Durch das stille Nebeltal,
Rauscht erwachend Wald und Hügel:
Wer da fliegen kann, nimmt Flügel!

Und sein Hütlein in die Luft
Wirft der Mensch vor Lust und ruft:
Hat Gesang doch auch noch Schwingen,
Nun, so will ich fröhlich singen!

Hinaus, o Mensch, weit in die Welt,
Bangt dir das Herz in krankem Mut;
Nichts ist so trüb in Nacht gestellt,
Der Morgen leicht machts wieder gut.


Adorno: Er war kein Dichter der Heimat sondern der des Heimwehs, im Sinne des Novalis, dem er nahe sich wuβte.

Noch das Unsinnliche und Abstrakte ward bei Eichendorff zum Gleichnis für ein Gestaltloses: archaisches Erbe, früher als die Gestalt und zugleich späte Transzendenz, das Unbedingte über die Gestalt hinaus. Das sinnlichste Gedicht aus seiner Hand hält sich im nächtlich Unsichtbaren:

[Verschwiegene Liebe]
Über Wipfel und Saaten
In den Glanz hinein --
Wer mag sie erraten?



Wer holte sie ein?
Gedanken sich wiegen,
Die Nacht ist verschwiegen,
Gedanken sind frei.
Errät es nur eine,
Wer an sie gedacht,
Beim Rauschen der Haine,
Wenn niemand mehr wacht,
Als die Wolken, die fliegen --
Mein Lieb ist verschwiegen
Und schön wie die Nacht.
Der noch Zeitgenosse Schellings war, tastet nach den >Fleurs du mal<, der Zeile: »O toi que la nuit rend si belle.« Eichendorffs entfesselte Romantik führt bewuβtlos zur Schwelle der Moderne.

Zuweilen sind bei Eichendorff Worte hingelallt, aller Kontrolle bar, und die bis zum Extrem gediehene Lockerung nähert sie dem immer schon Gewesenen: »Lied, mit Tränen halb geschrieben.«

*

»Lied, mit Tränen halb geschrieben.«  steht im dritten Abschied des lngeren Poems "Der verliebte Reisende"; lesen Sie hier das ganze Gedicht:

Der verliebte Reisende


Da fahr ich still im Wagen,
Du bist so weit von mir,
Wohin er mich mag tragen,
Ich bleibe doch bei dir.

Da fliegen Wälder, Klüfte
Und schöne Täler tief,
Und Lerchen hoch in den Lüften,
Als ob dein Stimme rief'.

Die Sonne lustig scheinet
Weit über das Revier,
Ich bin so froh verweinet
Und singe still in mir.

Vom Berge gehts hinunter,
Das Posthorn schallt im Grund,
Mein Seel wird mir so munter,
Grüß dich aus Herzensgrund.

    2

Ich geh durch die dunklen Gassen
Und wandre von Haus zu Haus,
Ich kann mich noch immer nicht fassen,
Sieht alles so trübe aus.

Da gehen viel Männer und Frauen,
Die alle so lustig sehn,
Die fahren und lachen und bauen,
Daß mir die Sinne vergehn.

Oft wenn ich bläuliche Streifen
Seh über die Dächer fliehn,
Sonnenschein draußen schweifen,
Wolken am Himmel ziehn:

Da treten mitten im Scherze
Die Tränen ins Auge mir,
Denn die mich lieben von Herzen
Sind alle so weit von hier.

    3

Lied, mit Tränen halb geschrieben,
Dorthin über Berg und Kluft,
Wo die Liebste mein geblieben,
Schwing dich durch die blaue Luft!

Ist sie rot und lustig, sage:
Ich sei krank von Herzensgrund;
Weint sie nachts, sinnt still bei Tage,
Ja, dann sag: ich sei gesund!

Ist vorbei ihr treues Lieben,
Nun, so end auch Lust und Not,
Und zu allen, die mich lieben,
Flieg und sage: ich sei tot!

    4

Ach Liebchen, dich ließ ich zurücke,
Mein liebes, herziges Kind,
Da lauern viel Menschen voll Tücke,
Die sind dir so feindlich gesinnt.

Die möchten so gerne zerstören
Auf Erden das schöne Fest,
Ach, könnte das Lieben aufhören,
So mögen sie nehmen den Rest.

Und alle die grünen Orte,
Wo wir gegangen im Wald,
Die sind nun wohl anders geworden,
Da ists nun so still und kalt.

Da sind nun am kalten Himmel
Viel tausend Sterne gestellt,
Es scheint ihr goldnes Gewimmel
Weit übers beschneite Feld.

Mein' Seele ist so beklommen,
Die Gassen sind leer und tot,
Da hab ich die Laute genommen
Und singe in meiner Not.

Ach, wär ich im stillen Hafen!
Kalte Winde am Fenster gehn,
Schlaf ruhig, mein Liebchen, schlafe,
Treu' Liebe wird ewig bestehn!

    5

Grün war die Weide,
Der Himmel blau,
Wir saßen beide
Auf glänzender Au.

Sinds Nachtigallen
Wieder, was ruft,
Lerchen, die schallen
Aus warmer Luft?

Ich hör die Lieder,
Fern, ohne dich,
Lenz ists wohl wieder,
Doch nicht für mich.

    6

Wolken, wälderwärts gegangen,
Wolken, fliegend übers Haus,
Könnt ich an euch fest mich hangen,
Mit euch fliegen weit hinaus!

Tag'lang durch die Wälder schweif ich,
Voll Gedanken sitz ich still,
In die Saiten flüchtig greif ich,
Wieder dann auf einmal still.

Schöne, rührende Geschichten
Fallen ein mir, wo ich steh,
Lustig muß ich schreiben, dichten,
Ist mir selber gleich so weh.

Manches Lied, das ich geschrieben
Wohl vor manchem langen Jahr,
Da die Welt vom treuen Lieben
Schön mir überglänzet war;

Find ichs wieder jetzt voll Bangen:
Werd ich wunderbar gerührt,
Denn so lang ist das vergangen,
Was mich zu dem Lied verführt.

Diese Wolken ziehen weiter,
Alle Vögel sind erweckt,
Und die Gegend glänzet heiter,
Weit und fröhlich aufgedeckt.

Regen flüchtig abwärts gehen,
Scheint die Sonne zwischendrein,
Und dein Haus, dein Garten stehen
Überm Wald im stillen Schein.

Und du harrst nicht mehr mit Schmerzen,
Wo so lang dein Liebster sei -
Und mich tötet noch im Herzen
Dieser Schmerzen Zauberei.

Wieder Adorno:
Auf kaum einen paβt das bequeme Schema vom Erlebnis und der Dichtung schlechter als auf ihn. Das Wort »wirr«, eines seiner liebsten, ist völlig anderen Sinnes als das »dumpf« des jungen Goethe: es meldet die Suspension des Ichs, seine Preisgabe an ein chaotisch Andrängendes an, während die Goethesche Dumpfheit stets den seiner selbst gewissen Geist meint, der sich erst bildet. Ein Eichendorffsches Gedicht beginnt: »Ich hör die Bächlein rauschen / Im Walde her und hin, / Im Walde in dem Rauschen / Ich weiβ nicht, wo ich bin«: so weiβ diese Lyrik überhaupt nie, wo ich bin, weil das Ich sich vergeudet an das, wovon es flüstert. Genial falsch ist die Metapher von den Bächlein, die »her und hin« rauschen, denn die Bewegung der Bäche ¡st einsinnig, aber das Her und Hin gibt das Verstörte dessen wieder, was die Laute dem Ich sagen, das lauscht, anstatt sie zu lokalisieren; auch ein Stück Impressionismus wird in solchen Wendungen antezipiert.


*

Das Bachrauschen und der ominöse Satz "Ich weiß nicht, wo ich bin." finden sich in dem Gedicht "In der Fremde" aus dem Jahre 1833:

In der Fremde

    Ich hör die Bächlein rauschen
    Im Walde her und hin,
    Im Walde in dem Rauschen
    Ich weiß nicht, wo ich bin.

    Die Nachtigallen schlagen
    Hier in der Einsamkeit,
    Als wollten sie was sagen
    Von der alten, schönen Zeit.
   
    Die Mondesschimmer fliegen,
    Als säh ich unter mir
    Das Schloß im Tale liegen,
    Und ist doch so weit von hier!
   
    Als müßte in dem Garten,
    Voll Rosen weiß und rot,
    Meine Liebste auf mich warten,
    Und ist doch lange tot.


Ein namensgleiches anderes Gedicht liest sich so:

In der Fremde

        Aus der Heimat hinter den Blitzen rot
        Da kommen die Wolken her,
        Aber Vater und Mutter sind lange tot,
        Es kennt mich dort keiner mehr.

        Wie bald, wie bald kommt die stille Zeit,
        Da ruhe ich auch, und über mir
        Rauschet die schöne Waldeinsamkeit
        Und keiner mehr kennt mich auch hier.


Beide Versionen wurden von Robert Schumann vertont.









Adorno:
Stand am Anfang der deutschen Romantik die spekulative Identitätsphilosophie, in der das Gegenständliche Geist ist und der Geist Natur, dann verleiht Eichendorff den bereits verdinglichten Dingen im Einstand noch einmal die Kraft des Bedeutens, des über sich Hinausweisenden.

Der Akt der Versprachlichung des Menschen, ein Wortwerden des Fleisches, bildet der Sprache den Ausdruck von Natur ein und transfiguriert ihre Bewegung ins Leben noch einmal. Rauschen war sein Lieblingswort, fast eine Formel; das Borchardtsche »Ich habe nichts als Rauschen« dürfte als Motto über Vers und Prosa Eichendorffs stehen. Dies Rauschen jedoch wird von der allzu hastigen Erinnerung an Musik versäumt. Rauschen ist kein Klang sondern Geräusch, der Sprache verwandter als dem Klang, und Eichendorff selber stellt es als sprachähnlich vor.

*

(Adorno schrieb in seinen "Noten zur Literatur IV" einen Essay über Rudolf Borchardts Lyrik: "Die beschworene Sprache", der seine linken Anhänger irritierte, weil sie nicht nachvollziehen konnten, weshalb er den konservativen, ja reaktionären Autor, den Bourgeois, so pries, ihm so viel Aufmerksamkeit schenkte.)


"Ich habe nichts als Rauschen" steht im Gedicht "Pause" von Rudolf Borchardt. Adorno hat eine Auswahl von Gedichten Rudolf Borchardst herausgebracht (1957 Klett); die Ausgabe wurde auch von Suhrkamp publiziert (Bibliothek Suhrkamp # 213, 1968). Lesen Sie hier dieses Gedicht:



Rudolf Borchardt


Pause

Hinter den tiefsten Erinnerungen
Verwächst die Zeit;
Die alten Wege waren tief und breit,
Nun hat die Welt sie überdrungen.

„O Rauschen tief in mir,
Was aber hast du, das ich gerne hörte?
Ist denn ein Ton in dir,
Der mich nicht störte?”

„Ich habe nichts als Rauschen,
Kein Deutliches erwarte dir;
Sei dir am Schmerz genug, in dich zu lauschen.“

Adorno:
Eichendorffs Gröβe ist nicht dort zu suchen, wo er gesichert ist, sondern wo die Schutzlosigkeit seines Gestus am äuβersten sich exponiert. Das Gedicht >Sehnsucht< lautet:

Es schienen so golden die Sterne,
Am Fenster ich einsam stand
Und hörte aus weiter Ferne
Ein Posthorn im stillen Land.
Das Herz mir im Leibe entbrennte,
Da hab' ich mir heimlich gedacht:
Ach, wer da mitreisen könnte
In der prächtigen Sommernacht!

Zwei junge Gesellen gingen
Vorüber am Bergeshang,
Ich hörte im Wandern sie singen
Die stille Gegend entlang:
Von schwindelnden Felsenschlüften,
Wo die Wälder rauschen so sacht,
Von Quellen, die von den Klüften
Sich stürzen in die Waldesnacht.

Sie sangen von Marmorbildern,
Von Gärten, die überm Gestein
In dämmernden Lauben verwildern,
Palästen im Mondenschein,
Wo die Mädchen am Fenster lauschen,
Wann der Lauten Klang erwacht
Und die Brunnen verschlafen rauschen
In der prächtigen Sommernacht.
Dies Gedicht, unvergänglich wie nur eines aus Menschenhand, enthält kaum einen Zug, dem man nicht das Abgeleitete, Sekundäre vorrechnen könnte, aber jeder dieser Züge wandelt sich in Charakter durch die Fühlung mit dem nächsten. Was lieβe von der nächtlichen Landschaft Unverbindlicheres sich sagen, als daβ sie still sei, und was wäre fataler als das Posthorn; aber das Posthorn im stillen Land, der tiefsinnige Widersinn, daβ der Klang die Stille nicht sowohl tötet, denn, als ihre eigene Aura, zur Stille erst macht, trägt schwindelnd hinweg übers Gewohnte, und die unmittelbar anschlieβende Zeile »Das Herz mir im Leibe entbrennte«, mit dem ungebräuchlichen Präteritum, das gleichsam vom ungestümen Pochen der Gegenwart nicht Ios kann, verbürgt durch den Kontrast zu dem Vorhergehenden eine Würde und Eindringlichkeit, von der kein einzelnes ihrer Worte etwas weiβ. Oder: wie schwach wäre, nach allen Maβstäben des Gewählten, für die Sommernacht das Attribut »prächtig«.






Zur Vertonung von Eichendorffs Gedichten bzw. generell zur Problematik von Gedichtvertonungen notiert Adorno:


CODA: SCHUMANNS LIEDER
Schumanns Liederkeis nach Eichendorff-Gedichten op. 39 ist einer der groβen lyrischen Zyklen der Musik. Diese bilden, seit Schuberts Müllerliedern und der >Winterreise< bis zu den Georgeliedern op. 15 von Schönberg, eine eigentümliche Form, welche die Gefahr allen Liedwesens, die Verniedlichung der Musik ingenrehafte Kleinformate, bannt durch Konstruktion: das Ganze steigt aus dem Zusammenhang miniaturhafter Elemente auf. Der Rang des Schumannschen Zyklus ward so wenig je in Zweifel gezogen wie sein Zusammenhang mit der glücklichen Wahl groβer Dichtung.












Und zum Schluss, zum Abschied:




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