Haimo L. Handl
Modernes Lesen
Die Manöver der Bildungsreformer in unserem Land sind
hausbacken, altmodisch, weil sie zu simpel auf Technologie setzen, kurzsichtig
und sogar bildungsfeindlich. Zwar kann oder könnte eine gewisse funktionale Alfabetisierung,
unterstützt von Tabletts und Smart Phones, erreicht werden, jedoch nicht eine
Lesekompetenz, die den Anforderungen einer gebildeten Person entsprechen. Das
Drama liegt in dem Umstand, dass eine Persönlichkeitsbildung, die von vielen
als altes, obsoletes Modell verhassten Bildungsbürgertums gilt, gar nicht
angestrebt wird. Die Wirtschaft, Hauptmotor der neuen Un- oder Verbildung, will
funktionierende Aufgabenlöser, willige, ordentliche Arbeitskräfte, die in ihrem
Bereich durchaus spezialisiert sein dürfen oder sollen, sie will aber nicht den
Luxus von höherer Bildung. Das Nutzendenken wird von den meisten Eltern,
insbesondere den bildungsfernen, um von den bildungsfeindlichen Schichten gar
nicht zu reden, bemüht, um etwaige mögliche Bildungsgehalte, die nicht sofort
direkt einen Nutzen versprechen oder gar garantieren, zurückzuweisen und zu
verweigern. Dass musische Fächer so schwach vertreten sind an unseren Schulen
ist nicht nur Resultat eines mageren Lehrplans, sondern auch Reaktion auf die
Abweisungen von Eltern, die ihren Kindern nichts zumuten wollen, was im Leben
nicht direkt zum Erfolg führt, das heißt, sich bezahlt macht.
Aus den Neurowissenschaften wissen wir, dass Lesen vom
Monitor oder Smart Phone heute weder die Augen schädigt, noch sonstwie das
Lesen beeinträchtigt. Man kann auch über den Monitor lesen. Kultürlich. Das
Problem liegt nicht in der technischen Versorgung, den Geräten, sondern in der
Sozialisation, im ungelernten oder gelernten Umgang mit den neuen technischen
Mitteln bzw. der erweiterten Kultursozialisation. Auf die beiden wichtigsten
Aspekte, die sich negativ auswirken, komme ich gleich.
Der Lesevorgang ist ein komplexer Prozess. Heute lässt er
sich durch besondere bildgebende Verfahren und dank Hochleistungscomputern
abbilden. Was früher vermutet wurde, wird heute ersichtlich. Erst werden
visuelle Symbole erfasst. Werden diese als Sprachzeichen erkannt, gelangen sie
in die sprachverarbeitenden Systeme unseres Gehirns. Interessanterweise ist
dieses System im akustischen Bereich verankert. Bevor wir sehen, hören wir. Das
Sprachnetzwerk ist auch nicht nur auf eine Hirnhälfte beschränkt, wie man
früher zu wissen meinte, sondern komplex verteilt in beiden Hirnhälften; die
„Sprachproduktion“ aktiviert Strukturen und Zellen in beiden Hirnhemisphären.
Wird eine Wortform erkennend gelesen und verarbeitet, folgt das Verstehen ihrer
Bedeutung, des semantischen Gehalts. Diese Zeichen- oder Wortbedeutung wird
noch gewichtet oder verändert durch die Stellung in der Reihe, also durch den
Satz bzw. das Regelwerk, die Syntax, die den (korrekten) Satz bedingt. Einzelne
Wörter als Zeichen haben einen Bedeutungskern, der aber nicht fixiert ist,
sondern durch die Grammatik näher bestimmt wird. Je höher das Wissen um die
Regeln, die Möglichkeiten einerseits, der vielen Bedeutungsgehalte und –felder
andererseits, desto komplexer die Deutung, die Interpretation des
Wahrgenommenen. Der einfache Satz „Hund beißt Mann.“ scheint klar und
eindeutig. Die Veränderung der Wortstellung stellte den Sinn auf den Kopf:
„Mann beißt Hund.“ Auch die Vollständigkeit eines Satzes wird entscheidend:
„Ich komme.“ Oder: „Ich komme nicht.“
Wenn wir jetzt noch im Auge behalten, dass zur eigentlichen
Bedeutung des Zeichens (Wort, Begriff), der Denotation, die Nebenbedeutung, das
Bedeutungsumfeld, die Konnotation, sich hinzugesellt, wird die Komplexität
gesteigert. Wir verarbeiten keine pure Information und nie nur Denotationen.
Immer schwingt die Konnotation mit, immer haben wir mehr oder weniger
Redundanzen, sozusagen Füllzeichen, die den Austausch der Zeicheneinheiten
erleichtern.
Die Farbe Rot hat, um ein einfaches Beispiel zu nennen,
mehrere mögliche Bedeutungen: „Stop“ als Ampellicht im Verkehr, entsprechend
der Straßenverkehrsordnung. Als Himmelsfärbung mit jeweils etwas anderer
Bedeutung einmal im „Morgenrot“ oder „Morgenröte“ bzw. als „Abendrot“. Das Rot
einer Blutorange mag ähnlich klingen wie das Rot des Blutes, aber das
Bedeutungsumfeld, die Konnotation wird von einem zum andern stark abweichen.
„Lieber rot als tot.“ sagt viel über Geschichte und Politik, über die Wertung
aus: eigentlich will ich nicht rot sein, wenn ich aber wählen müsste, zöge ich
es doch dem Tod vor, also: lieber rot, als tot. Die Abwertung ist ausgedrückt
allein durch die Wendung „lieber, als“.
Frühere oder ganz früh wurde viel langsamer gelesen, weil
meist laut. Lesen Lernende murmeln manchmal noch, wie sie auch mit dem Finger
in den Zeilen den Buchstaben folgen, weil sie noch ungeübt sind im Erfassen der
Schriftbilder. Wir haben gelernt, rasch, stumm lesend, die Zeichen entweder
innerlich hörbar zu machen bzw. sie zu „übersetzen“. Geht es nicht nur um
Informationsverarbeitung, sondern um Ästhetik der Sprache, verliert man
allerdings eine Dimension, wenn man es beim stummen Lesen belässt. Gedichte
erschließen sich fast immer übers Gehör, erst recht, wenn sie in einer anderen
Sprache als der eigenen geschrieben sind.
Worauf es beim Lesen ankommt, ist also, soviel ist deutlich
geworden, nicht nur die Fähigkeit der Zeichenerkennung, sondern die rasche
adäquate Verarbeitung. Und die hängt mit dem Wissen zusammen. Jemand, der zwar
lesen kann, aber ungebildet kein Wissen hat, wird sich ziemlich bald schwer
tun, weil ihm der Sinn der Bedeutungen, den die Zeichen vermitteln,
verschlossen bleibt. Da helfen dann auch keine technischen Geräte. Im
Gegenteil.
Wenn ich spreche, bin ich aktiv. Ein Gespräch ist ein
Austausch: ich rede, ich höre zu, ich antworte, ich erwidere, ich höre wieder
usw. Es ist ein Prozess, der in einer bestimmten Geschwindigkeit abrollt und
von mir mitbestimmt wird. Bei gewissen Abhängigkeiten gelten strenge Regeln: im
Verhör darf oder muss ich nach Fragen antworten, ich werde gemaßregelt, wenn
ich nicht folge oder abschweife, wenn ich verzögere usw. Ein Vortrag verlangt eine
gewisse Redeweise. Vermag ich die nicht zu liefern, verliere ich die
Aufmerksamkeit der Hörer, erlebe einen Misserfolg usw. Ein Verkaufsgespräch
verläuft anders als ein Tratsch. Ähnlich lese ich verschiedene Texte
spezifisch: ein Memo, eine Notiz, eine Verlautbarung, einen fachkundigen
Artikel, ein Buch, und da wiederum unterschiedlich eine leichte
Unterhaltungserzählung, einen anspruchsvollen Roman oder ein Sachbuch.
Ob ich nun am Smart Phone lese, vom Monitor oder aus einem
Buch ist hinsichtlich des Leseprozesses einerlei. Oder doch nicht? Was den
Lesevorgang betrifft, gibt es keine wesentlichen Unterschiede. Aber was die
Lesesozialisation betrifft, sehr wohl. Diese Unterschiede sind nicht nur
technischer Art, wohl aber durch die Technik begünstigt. Sie hängt auch mit der
Betreuerhaltung von vielen kurzdenken, kurzsichtigen Pädagogen zusammen, die
meinen, jede Anforderung von den Lernenden, die fast als Opfer angesehen
werden, denen man zuviel zumutet, fernzuhalten. In der Sucht der Vereinfachung
bzw. der „Hilfe“, ufert man aber aus und lenkt ab, nimmt zuviel ab, trägt zur
Verkümmerung bei.
Ich bin kein Anhänger der Theorie der Reizüberflutung. Das
ist ein ideologisch bedingtes Konstrukt jener, die einseitig gewisse
Anforderungen ablehnen bzw. in Verruf bringen, eine Art Generalentschuldigung.
Immer war die Welt, die Umwelt in der jemand lebt und sich bewegt, als aktive
Umwelt eine Fülle von Reizen, die der Lebende als Agierender, als Aktiver eben,
erwiderte. Alles, was zuviel ist, kommt gar nicht heran, prallt ab, perlt ab,
gelangt nicht ins Sehfeld, wird nicht aktiv gehört, weil ich nicht zuhöre, wird
zum Geräusch, zum Hintergrund. Nie bin ich in einer leeren, hintergrundlosen,
stillen Welt. Immer ist mehr Licht, wenn die Sonne scheint, als ich verarbeiten
kann, immer selektiere ich in der Wahrnehmung, weil ich nie ALLES wahrnehmen
kann und auch nicht soll. Information ist Auswahl.
Wie wollte ich auch das Zuviel messen? Man stelle sich ein
Gefäß vor. Es kann nur voll werden, nie übervoll. Denn alles, was das
Fassungsvermögen übersteigt, fließt über. Das Gefäss kann nur bis zum
Fassungsvermögen gefüllt werden. Die sozialen Opfer der beanspruchenden
Industriegesellschaft sind dankbar, wenn Coaches und andere Helfer ihnen
versichern, dass sie einer „Flut“ ausgesetzt seien, dass sie an einer
Reizüberflutung litten usw. Das ist Humbug und reines ideologisches Geschwätz.
Vielleicht soll es helfen, die Leseverweigerung dieser armen Opfer zu
legitimieren: als ob ein Buch mit 1000 Seiten eher eine Reizüberflutung
darstellte als eines mit 100 Seiten. Das wäre so dumm, wie eine lange Reise,
die auch mit ersten Bewegungen beginnt, wie alles, als überfordernd oder
überflutend zu sehen, und den Kurzgang zum Schrebergartenzaun schon als Maximum
zu sehen, hinter den man nicht gelangen soll, um sich nicht zu überfordern,
denn die weite Welt holt man sich ja heim im Nahsehen (wird irrtümlicherweise
als fernsehen hingestellt) bzw. aufs Smart Phone, das einem alles hereinbringt
und die Welt ortlos, grenzenlos macht, als ob alles sich im Vorgarten oder auf
dem Vorplatz ereigne.
Tatsächlich führt aber die Aufbereitung über die neuen
Medien, die erfolgt, um die Kids oder Kunden abzuholen, wo sie sind, dazu, die
Reizintensivierung zu steigern, womit allerdings die eh schon strapazierte
Aufmerksamkeitsspanne weiter reduziert wird. Beim Lesen konventioneller Bücher
bestimmt der Leser das Tempo bzw. die Dichte der Sprachverarbeitung. Was als
Hilfe über die neuen Medien gedacht war, wird nun zur Ablenkung und Wegführung
anstatt zur Hinführung. Die Netzkommunikation bzw. das Lesen am Smart Phone
oder Tablett ist ja nicht nur ein „gewöhnliches“ Lesen, sondern ein dichtes
Angebot von Reizen wie Hören, rhythmisierte Geräusche, Kommentare oder
illustrierende Fotos und Videos. Was beim regulären Lesen der Leser durch seine
Fantasie schafft, indem er sein Vorstellungsvermögen aktiviert und verfeinert,
muss im modernen, neuen Lesen nicht mehr geleistet werden: der Apparat
übernimmt sozusagen die Aufgabe der Vorstellung. Bald wird er auch das Denken
übernehmen und die Neuleser müssen nur noch „folgen“. Weil die Reize nicht
immerfort oder unendlich erhöht oder verstärkt werden können, ergeben sich viel
rascher Ermüdungen. Die zeigen sich dann in der Abnahme der Aufmerksamkeit. Die
Kinder und Jugendlichen haben nicht gelernt, selbständig auch Pausen zu
ertragen bzw. Strecken ohne gesteigerte Handlungsabläufe. Immer muss „action“
sein, muss was los sein. Es ist wie mit den fatalen UNIVERSUM-Filmen, die die
Natur auf- und eingerichtet für ein sensationsgeiles Publikum darstellen, wo,
wie im Zeitraffer, dauernd etwas dramatisch geschieht, wie es sich in der
Natur, in der Realität nie und nimmer vollzieht. Man kann sagen, die oft
preisgekrönten Dokumentation verfälschen das Naturbild, unterstützen
Fehlsichten der Realität, helfen also zur Realitätsverkennung. Sie sind KEIN
Beitrag zur Bildung, sondern unterhaltsame Verbildung. Auch viele Dokumentation
der HISTORY-Reihen entsprechen diesen schlimmen Zurichtungen und
Simplifikationen. Unternehmen derart trainierte Schülerinnen und Schüler mal
einen Ausflug in die wirkliche Natur, sind sie enttäuscht und vielleicht
erstaunt, dass sie nichts sehen und finden, was ihnen die actionreichen Filme
gezeigt haben. Sie haben nämlich nie gelernt, was Anschaulichkeit bedeutet,
Kontemplation. Das könnte nämlich zu leicht mit Müßiggang verwechselt werden,
wäre zu nahe am unnützen Luxus, der nichts bringt, der sich nicht lohnt. Es
zählen „action“ und das handlungsstarke „Event“.
Gewisse Wirkungen ergeben sich nur über Dauer und
Konzentration. Das Programm ist aber ausgerichtet auf starke Reize, Kürze und
Wechsel. Entschleunigungen werden nur toleriert oder sogar gesucht als geplante
Kuren im verordneten Wellnessprogramm. Das Regelprogramm ist hohes Tempo, Hektik,
Spannung. Entspannung nur unter kontrollierten Bedingungen. Das äußert sich in
der gleichförmigen Literatur, die nach einem einheitlichen Strickmuster einer
nervösen Gesellschaft abgefasst erscheint, das klingt noch drastischer in der
immergleichen Musik, die lokale oder regionale Eigenheiten nur in ganz
begrenzten Bereichen, dem Tourismuskonzept folgenden Merkmalen, zeigen. So, wie
in der Wirtschaft die heimischen Standorte der globalisierten Ausbeutung sich
anpassen müssen, so soll der Rest an Kultur, ob in Musik oder Literatur, wie
der Sport, sich der Globalisierung anpassen. Die neuen Medien bilden die
Instrumente dafür.
Das verringerte und dadurch verkümmerte Vorstellungsvermögen
MUSS daher verstärkt und vermehrt auf die Medienangebote der angereicherten
Massenkommunikation, des betreuten, geleiteten Lesens zurückgreifen, so, wie
man für einfachste Additionen das Smart Phone als Rechner benutzt, weil man 2
und 2 nicht mehr zusammenzählen kann.
Damit wird auch das allgemeine Denkvermögen geschwächt. Da
die kognitiven Fakultäten vernachlässigt werden, drückt die neue
instrumentalisierte Selbstzufriedenheit eine fatale Infantilisierung aus: die
neuen Bürger werden immer mehr bedürftig ihrer Coaches und Psychologen, um
einfachste Aufgaben im Alltag erfüllen zu können. Das von unseren Experten im
Bildungsbereich besorgte Programm ist ein aktiver Beitrag zur Entmündigung und
zur Herrichtung von Funktionaltypen, wie ihn die Unternehmer heute in ihrer
Kurzsichtigkeit als Human Capital ihrer geschätzten Art, als Menschenmaterial
wünschen. Mit dem Nichtlesenkönnen fängt es an, geht weiter über die
Vernachlässigung des Musischen und wird enden in einer neuen Barbarei.
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