Freitag, 2. Juni 2017

Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft, 4. Buch, 277

277.

Persönliche Providenz. — Es giebt einen gewissen hohen Punct des Lebens: haben wir den erreicht, so sind wir mit all unserer Freiheit, und so sehr wir dem schönen Chaos des Daseins alle fürsorgende Vernunft und Güte abgestritten haben, noch einmal in der grössten Gefahr der geistigen Unfreiheit und haben unsere schwerste Probe abzulegen. Jetzt nämlich stellt sich erst der Gedanke an eine persönliche Providenz mit der eindringlichsten Gewalt vor uns hin und hat den besten Fürsprecher, den Augenschein, für sich, jetzt wo wir mit Händen greifen, dass uns alle, alle Dinge, die uns treffen, fortwährend zum Besten gereichen. Das Leben jedes Tages und jeder Stunde scheint Nichts mehr zu wollen, als immer nur diesen Satz neu beweisen; sei es was es sei, böses wie gutes Wetter, der Verlust eines Freundes, eine Krankheit, eine Verleumdung, das Ausbleiben eines Briefes, die Verstauchung eines Fusses, ein Blick in einen Verkaufsladen, ein Gegenargument, das Aufschlagen eines Buches, ein Traum, ein Betrug: es erweist sich sofort oder sehr bald nachher als ein Ding, das „nicht fehlen durfte“, — es ist voll tiefen Sinnes und Nutzens gerade für uns! Giebt es eine gefährlichere Verführung, den Göttern Epikur’s, jenen sorglosen Unbekannten, den Glauben zu kündigen und an irgend eine sorgenvolle und kleinliche Gottheit zu glauben, welche selbst jedes Härchen auf unserem Kopfe persönlich kennt und keinen Ekel in der erbärmlichsten Dienstleistung findet? Nun — ich meine trotzalledem! wir wollen die Götter in Ruhe lassen und die dienstfertigen Genien ebenfalls und uns mit der Annahme begnügen, dass unsere eigene practische und theoretische Geschicklichkeit im Auslegen und Zurechtlegen der Ereignisse jetzt auf ihren Höhepunct gelangt sei. Wir wollen auch nicht zu hoch von dieser Fingerfertigkeit unserer Weisheit denken, wenn uns mitunter die wunderbare Harmonie allzusehr überrascht, welche beim Spiel auf unserem Instrumente entsteht: eine Harmonie, welche zu gut klingt, als dass wir es wagten, sie uns selber zuzurechnen. In der That, hier und da spielt Einer mit uns — der liebe Zufall: er führt uns gelegentlich die Hand, und die allerweiseste Providenz könnte keine schönere Musik erdenken, als dann dieser unserer thörichten Hand gelingt.

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