Montag, 21. September 2015

Sprache hat eine Seele?

Jede Seele hat ihre Sprache. Auch jede Sprache?
Was Weltgleichmacher nicht verstehen
Haben Sprachen eine Seele?

Dass die Seele eine Sprache hat, darüber sind sich die Seelenärzte einig. Aber was ist die Seele? Vielleicht das Rätsel einer Wirklichkeit, die uns am Leben hält.
Iso Camartin, NZZ, 19.9.2015

(Foto Handl)

Bin ich ein Weltgleichmacher, weil ich verneine, dass eine Sprache eine Seele eignen könne? Bin ich geistig berschränkt oder materialistisch borniert, dass mir der metaphorische Sprachgebrauch hier zu kurz greift, ins vermeintlich Verbindliche des Religiösen abdriftet? Wenn irgendetwas Nichtorganisches, ein Symbolsystem wie die Sprache z. B., die Schachspielregeln als Spielgrammatik, ebenfalls ein Symbolsystem, keine Seele hat, keine EIGENE Sprache, stellt dies keine Abwertung dar. Denn eine gewisse Sprache schreiben wir als Menschen dem Schach und seinen Regeln zu, der Sprache und ihrer Komplexität usw. usf. Aber kein solches System, wie ausgefeilt auch immer, wird selbstagierend aktiv, spricht. Wir bringen oder vermeinen Dinge und Ereignisse zum Sprechen zu bringen. Keine Historie spricht, keine Natur, kein Kosmos. Wir legen Sinn in alles, wir holen heraus und betten ein in Sinngefüge für UNSERE Orientierung, unser Wohlbefinden, unsere Sicherheit.

Auch wenn Experten (Camartin zitiert den bekannten Schweizer Psychiater Daniel Hell) von einer Sprache der Seele schreiben, gibt es sie konkret nicht. Nur indirekt als Zu- und Abschreibung.

Iso Camartin ist Autor, Übersetzer, Moderator und ehemaliger Literaturprofessor. Er kehrt die Frage um: "Haben auch Sprachen eine Seele?" Er führt dazu aus:

"Dass die Seele eine Sprache hat, die es zu verstehen gilt, sagen uns Psychiater, Psychotherapeuten und Anhänger einer psychosomatischen Medizin.". Nun, auch Hohepriester, Yogis, Gurus und Gesundbeter versichern, dass Seelen sprechen und wandern. Und weiter?
"Man kennt einigermassen den materiellen Körper einer Sprache, bestehend aus Wörtern, aus Regeln ihres Gebrauches, aus Redewendungen, die den Sprechern eigen sind und ihnen besonders passend und originell vorkommen. Dieser Sprachkörper, zu dem jeder Native Speaker einen natürlichen Zugang hat, besteht zusätzlich aus Akzenten und Klangfarben, die einem vertraut sind, die man aber nie ganz zu fassen bekommt. Natürlich gehört zu einem Sprachkorpus auch das Schrifttum, etwa die Gedichte und Erzählungen, die man liest und liebt und niemals missen möchte"
Zuerst fällt auf, dass der erfahrene, ausgewiesene Experte von einem NATÜRLICHEN Zugang des "Native Speaklers" (auch in der Schweiz das obligate Denglish!) zum Sprachkörper spricht. Das ist ein Irrtum, denn die Bezüge sind nicht natürlich, sondern kulturell. Nicht nach meiner Natur, sondern nach der Kultur, in die ich hineingeboren werde, in welcher ich aufwachse und mich soziualisiere, lerne ich die Sprache(n).

Er betont, dass zu diesem natürlichen Sprachkorpus "auch das Schrifttum, etwa die Gedichte und Erzählungen, die man liest und liebt und niemals missen möchte." gehöre. Heute zeichnet sich die Un- und Halbbildung doch gerade dadurch aus, dass viele wenig oder nichts lieben, schon gar nicht vermissen, was sie in der Schule lesen mussten. Ist dieser Mehrheit die Natürlichkeit ihrer Kultürlichkeit abzusprechen? Nein, es ist nur eine andere Kultur.

Es kommt jedoch noch stärker.
"Wenn Philosophen von der Seele reden, meinen sie meistens etwas Geistiges, schwer zu Umschreibendes, jedenfalls kein festzumachendes «Organ» im Innern des Menschen. Vielleicht eine Art von Lebensenergie und Gestaltungskraft, welche jede einzelne Person prägt und durchdringt."
Das klingt so, als ob andere Experten die Seele als etwas Festmachbares sehen. Vielleicht die modisch gewordenen Neurobiologen oder gewisse klinische Psychologen? Im Ernst, wer meint in der Seele nicht etwas Geistiges sehen zu sollen?

Doch dann nimmt er Rekurs auf die Philosophen und Philosophien und schreibt:
"Die Seele ist – in der Ansicht der Philosophen über die Jahrhunderte – das Gehauchte, der Lebensatem, das Bewegende, das Verstehende in uns, die Spinne, welche die Verletzungen ihres Netzes selbst zu heilen und auszubessern vermag. Sie ist das, was in uns träumt, aber auch die Gesinnung, die uns zu Taten anleitet, das Vermögen zu urteilen, das, was uns die Fähigkeit zur Orientierung verleiht. Seele ist, was in uns nicht sterben soll, was zum Körperlichen und Unbeseelten unseres Lebens Sorge trägt."
Dass die Seele das VERSTEHENDE in uns sei, ist bemerkenswert. Von welcher Art Verstehen redet Camartin? Von einem religiösen, mystischen, gläubigen? Die Seele als Geistwesen, ohne welches es kein Verstehen gibt? Also alle Unverständigen als Seelenkranke. Wie werden da die Vernunftbereiche von den anderen Verstehensbereichen unterschieden, getrennt, bewertet?  Weshalb Wissenschaften und Aufklärung, da doch die Seele alles innehat und bietet?

Hier werden einfach abendländische, christliche Erbschaften und Traditionen so gefasst, als ob sie als Generalerklärung taugten. Und wenn Seele Geistiges ist, werden sie keine Mauern halten. Der Brauch der "Seelenfenster" ist anrührig und nett, ist Ausdruck einer Frömmigkeit, die viel für sich hat. Aber mehr nicht. Wer nicht ans Weiterleben und die Unsterblichkeit glaubt, der braucht weder Seelenfenster noch die "Ansicht der Philosophen über die Jahrhunderte" davon. Immerhin hat der Psychologe Sigmund Freud NICHT von einer Unsterblichkeit gesprochen und in "Das Unbehagen in der Kultur" notiert:

"So sinkt mir der Mut, vor meinen Mitmenschen als Prophet aufzustehen, und ich beuge mich ihrem Vorwurf, daß ich ihnen keinen Trost zu bringen weiß, denn das verlangen sie im Grunde alle, die wildesten Revolutionäre nicht weniger leidenschaftlich als die bravsten Frommgläubigen."
Freud wollte den Trost des Glaubens, der Religion nicht offerieren. Er selbst bedürfte seiner nicht, und er wollte den allzuvielen, die danach dürsteten, nicht Falsches bieten. Ob jetzt Camartin zu den Revolutionären gehört oder braven Frommen, ist nebensächlich. Er und seinesgleichen bedürfen der  Seelensprache im Doppelsinn: sie wollen die Seele der Sprache und die Sprache der Seele.

Ein Prosaist von besonderem Format, Adalbert Stifter, leitet seinen Text "Brigitta" (Erstfassung 1844, Überarbeitung 1847) wie folgt ein (und berührt damit auch das Thema "Seelenkunde"):


Es gibt oft Dinge und Beziehungen in dem menschlichen Leben, die uns nicht sogleich klar sind, und deren Grund wir nicht in Schnelligkeit hervor zu ziehen vermögen. Sie wirken dann meistens mit einem gewissen schönen und sanften Reize des Geheimnißvollen auf unsere Seele. In dem Angesichte eines Häßlichen ist für uns oft eine innere Schönheit, die wir nicht auf der Stelle von seinem Werthe herzuleiten vermögen, während uns oft die Züge eines andern kalt und leer sind, von denen alle sagen, daß sie die größte Schönheit besitzen. Eben so fühlen wir uns manchmal zu einem hingezogen, den wir eigentlich gar nicht kennen, es gefallen uns seine Bewegungen, es gefällt uns seine Art, wir trauern, wenn er uns verlassen hat, und haben eine gewisse Sehnsucht, ja eine Liebe zu ihm, wenn wir oft noch in späteren Jahren seiner gedenken: während wir mit einem Andern, dessen Werth in vielen Thaten vor uns liegt, nicht ins Reine kommen können, wenn wir auch Jahre lang mit ihm umgegangen sind. Daß zuletzt sittliche Gründe vorhanden sind, die das Herz heraus fühlt, ist kein Zweifel, allein wir können sie nicht immer mit der Wage des Bewußtseins und der Rechnung hervor heben, und anschauen. Die Seelenkunde hat manches beleuchtet und erklärt, aber vieles ist ihr dunkel und in großer Entfernung geblieben. Wir glauben daher, daß es nicht zu viel ist, wenn wir sagen, es sei für uns noch ein heiterer unermeßlicher Abgrund, in dem Gott und die Geister wandeln. Die Seele in Augenblicken der Entzückung überfliegt ihn oft, die Dichtkunst in kindlicher Unbewußtheit lüftet ihn zuweilen; aber die Wissenschaft mit ihrem Hammer und Richtscheite steht häufig erst an dem Rande, und mag in vielen Fällen noch gar nicht einmal Hand angelegt haben.
 





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