Dienstag, 8. September 2015

Buchempfehlung: Gesammelte Gedichte von Christa Reinig

2008 ist die aus der DDR gebürtige Dichterin Christa Reinig in München  gestorben. Geboren wurde sie 1926 in Berlin. In der DDR konnte sie nur wenig publizieren. Ihr Werk erschien in westdeutschen Verlagen; sie erhielt viele Preise und Auszeichnungen. 1964 siedelte sie um in die BRD.

Für das Buch [liegt in unserer Bibliothek auf!]

Christa Reinig: Gesammelte Gedichte 1960-1979
Luchterhand, Darmstadt 1985 (SL 583)

steuerte der Schriftsteller Horst Bienek (1930-1990) ein Vorwort bei, auf das hier von Haimo L. Handl eingegangen wird:

(Bienek wörtlich zitiert; Handls Anmerkungen eingerückt.)



Außer ein paar Gedichten und zwei, drei Prosastücken wurde in der DDR von ihr nichts gedruckt.

Das waren keine politischen Gedichte, die man hätte verbieten müssen. Aber es waren Gedeichte, die trotzig auf ihrer individuellen Aussage beharrten.

[Die Hervorhebung indiziert, dass die (meisten) anderen Gedichte keine individuelle Aussage hatten, auch nicht trotzig waren, sondern an- und eingepasst. Trotz der individuellen Aussage der Gedichte von Reinig waren sie „zahm“, so „bieder“, dass man sie aber nicht hätte verbieten müssen. Das wiederum wertet entweder die Flexibilität der DDR auf oder die Unverbindlichkeit der Individualität von Reinig: Sie und ihre Gedichte störten nicht, waren gleich-gültig.]

Da war nicht von Aufbau die Rede und nicht vom verordneten Optimismus, da war weder Klage noch Anklage.

[Also Weder-noch-Gedichte, ohne klare Kritik oder Position, einfach – was?]

Jedes dieser Gedichte sprach, auf ganz verschiedene Weise, von Trauer, von der Verlorenheit, von der Stille, von den Verwundungen, vom Tod.

[Immerhin, im Arbeiter- und Bauernstaat gab es auch Stille. Bemerkenswert. Dass es alles angeführte Andere auch gab, ist nur normal.]

Das waren – schon damals – Endzeit-Gedichte.

[Wieso „damals“? Wieso „waren“? Wann hörten diese Poems auf „Endzeit-Gedichte“ zu sein? Als die Endzeit vorüberging, als die Zeit einfach weiter ging? Wie lang dauerte der Zustand „Endzeit-Gedicht“ an? Sind sie heute keine solchen mehr? Was sind die frühen Gedichte Reinigs heute? Historische Dokumente? Zur Klassifikation: Endzeit klingt ein wenig nach Samuel Becket („Endspiel“), Oswald Spengler und Nazijargon (Endsieg). Was soll die Untergangsstimmung im Sozialismus? War das Reinigs Trauer? Dann überrascht es nicht, dass ihre Texte nicht gedruckt wurden.]


Und es war der ganz und gar unübliche Ton, der auffiel. Ein kalter, genauer gesagt: ein gekälteter Ton, eine einfache, lapidare Sprache, eine strenge klassische Form. Das Gedicht: ein makelloses Gefäß. Aber innen (der Inhalt), da brannte und rebellierte es. Das ist es, was ihre Leser gleich empfunden haben, hinter der Schönheit: Verzweiflung.

[Kälte und lapidare Sprache waren also in der DDR so unüblich, dass dies bei Reinig sofort als GANZ UND GAR unüblich auffiel. War das wirklich unüblich? Aber es fiel ja wegen etwas Anderem noch auf, wegen der Verzweiflung, die die Leser sogleich empfanden, wie Horst Bienek behauptet. Woher mag er das wissen? Wen hat er gefragt, wessen Antworten vertraut er so einfach? Oder imaginiert er, legt er sein Deutungsdenken in Leser hinein, weil es ihm ja offensichtlich ist?
Wie geht das zusammen, die lapidare, EINFACHE Sprache mit der STRENGEN klassischen Form? Verlangte so eine Form nicht nach nicht-einfacher Sprache? War Hölderlin „einfach und lapidar“? Welche einfache, lapidare Sprache welch anderer Autorinnen weist zugleich strenge klassische Form auf?
Das Gedicht war ein makelloses Gefäß. Herr Bienek kontrastiert davon den Inhalt. Dieser Inhalt war, der rebellisch brannte. Doch wie trennen er und der Leser diesen Inhalt von der Form? Wie kommt er über die Form, die ja zuerst vorliegt und den Einstieg ermöglicht, zum rebellischen Inhalt? Welche Qualität hat ein Gedicht, dessen Form sekundär gegenüber dem Inhalt ist, weil nur dieser rebelliert, nur dieser brannte? Bei einem Lautgedicht oder bei konkreter Poesie, wo es nicht um sinnvolle Sätze geht, wo der Pseudoinhalt eins wurde mit der Form, wäre keine Unterscheidung von Inhalt und Form möglich. Bei allen anderen Poems schon. Trotzdem gibt es, anders als in der Prosa, einen hohen Grad von förmlicher Bedingtheit, von Formeneinfluss auf die Sprache, eben nicht nur „formal“, sondern auch inhaltlich. Das heißt nicht, die Poetin hätte ihre Worte und ihren intendierten Sinn nach der Sprachform gestaltet, der Form also notgedrungen nachgegeben (obwohl es das auch gibt), sondern dass nach dem Schreiben, nach dem Ausdrücken des Gewollten, sich das Gewollte als Denken nun in gewählter sprachlicher Form bestimmend anders gibt als zuvor: der Leser kann nur die Form und Inhalt rezipieren in der Erscheinung der Textgestalt, er sieht einen Wechselbezug, ohne sagen zu können (oder zu müssen), was primär war, was sekundär, was „eigentlich“ intendiert war usw.
Einen Absatz vorher hob Bienek hervor, dass ihre Gedichte weder Klage noch Ankalge waren. Jetzt konstatiert er Kälte bzw. gekälteten Ton. Ist so ein Ton nicht „klagend“? Wenn er nicht eisig scharf ist, zynisch-aggressiv, was ist er dann? Scharf kann er nicht gewesen sein, weil eine einfache, lapidare Sprache keine Schärfe produziert. Aggressivität gab oder gibt es auch nicht, weil Stille und Trauer vorherrschen. Wie ist der gekältete Ton also zu deuten?]

Die Form ist gebändigt, doch die Wörter zeigen schon ihre Widerhaken.

[Wenn eine Form gebändigt ist, heißt das, dass sie als Kraft wirkt, die die Dichterin bändigen muss. Die Form als wildes Tier. Aber die Dichterin gestaltet doch, gibt Form und kämpft nicht mit bereits existierenden Formen, die sie erst nach der Bändigung übernimmt! In Bieneks Anmerkung zeigt sich die Auffassung von einem Eigenleben der Form, der Sprache. Aber keine Sprache spricht, es ist der Mensch, der spricht, mittels der Sprache. Er unterliegt zwar Einflüssen, aber er gestaltet. Was wie eine Bändigung aussehen mag, falls einem solche Bilder hochkommen, hängen mit dem Sprachvermögen der Dichterin zusammen, und nicht mit der behaupteten Eigenkraft der Form oder der Sprache.]

In den kurzen, lapidaren Gedichten … wird die Form, wird das Schöne zerfetzt.

[Etwas, das zerfetzt wird, bleibt nicht, was es war. Aber die Sprache bedarf immer ihrer Form, gleich welcher. Formlos kann nichts Gestaltetes oder Rezipierbares existieren. Auch das Unschöne hat Form. Welche Form blieb nach der Zerfetzung übrig?]

Das Gorgo-Gesicht kommt zum Vorschein, für Sekunden. Dann wird es wieder verhüllt. Nur für die Dauer von ein paar Wörtern zeigt da jemand seine Verwundungen, die Foltermale. Solche Verse sind Aufrisse der Wahrheit.

[Horst Bienek nimmt hier den Mund sehr voll. Bedeutungsschwanger. Dass, für Augenblicke nur, aber doch, Gorgo ihr Gesicht zeigt, rührt nicht nur asn den griechischen Mythos, sondern insinuiert damit eine tiefe oder tiefere Wahrheit, die aber so schmerzlich ist, dass sie Foltermalen gleicht, dass man froh sein muss, wenn man nur für Sekundenbruchteile den Aufriss ersah und nicht, wie der Mythos sagt, einen zu Stein erstarren lässt. Die Gleichsetzung von Wahrheit und Höllenfolterqualen, existentieller Gefahr bzw. Vernichtung, entspricht einer gottesfürchtigen Haltung, mit einem Begriff von ewiger, universeller Wahrheit, die man entdecken kann, aber, wohlweislich, nur in Kleinstdosen, weil tödlich. Was für eine schreckliche Ideologie äußert da Horst Bienek?]

Das liest sich wie das Stenogramm einer Poetik; ein kurzgefaßtes Selbstporträt jener Zeit. (…) Man spürte einfach, da macht nicht jemand nur gute Gedeichte. Da werden einem Menschen, der die Zähne zusammenbeißt, Wörter abgetrotzt, herausgerissen. Da war jemand, der leben, lieben und auch leiden wollte. Aber da man ihn nicht leben ließ, schrie er. Mit blutigem Mund.

[Es werden der Reinig, der Dichterin, also die Wörter abgetrotzt, herausgerissen. Dichtung als Folter. Ein Suhlen im Leiden. Töter-Opfer-Kult. Jemand wollte nicht nur leben und lieben, sondern auch leiden. Aber siehe da, man ließ ihn nicht leben, weshalb er mit blutigem Mund schrie. Wie? Reinig konnte in westdeutschen Verlagen publizieren, sie erhielt viele Preise und Auszeichnungen. Wer ließ sie nicht leben? Das ZK der DDR, die Stasi? Sie verließ ihre Heimat DDR 1964 und starb in München 2008.
Das Bild ist schief. Bienek formuliert, als ob äußere Kräfte ihr, dem leidenden Menschen, Wörter herausreißen, sie foltern und quälen, wie wenn man ihr Organe herausrisse. Aber als Schriftstellerin und Dichterin hat sie selber vielleicht sich etwas abgetrotzt, weil es ihr nicht leicht viel, kreierend zu schreiben. Warum sie dann bei der Passion als Beruf blieb, mag verwundern. War sie Masochistin, die gern litt. Hier wird eine Opferikone gemalt als Mosaikbildchen für einen Mythos. Es kann ja sein, dass das Leben in der DDR ihr wie eine Folter erschien und sie aufschrie, worauf einige andere dann einen blutigen Mund sahen einer Untergehenden.]

Christa Reinig hat danach noch einige großartige Gedichte geschrieben. Aber die Prägnanz, die Kraft, die Radikalität, auch die Originalität von früher hat sie nicht mehr erreicht. Das muß man kritisch sagen. Und das hing nicht mit der Zelle zusammen, die für sie das Leben in der DDR bedeutete. Das wäre eine politische und wohl auch zu einfache Deutung. Es war ihre eigene, ihre biographische Zelle, ihre private Unterdrückung, die Foltern der Kindheit im Krieg und vor allem Nachkrieg.

[Gut, dass Horst Bienek noch einen klärenden Satz hinzufügt. Christa Reinig hat sich selbst unterdrückt, trainiert durch die Foltern der Kindheit im Krieg (zu Kriegsbeginn 1939 war sie 13 Jahre alt) und vor allem Nachkrieg. Im Nachkrieg müssen es andere Foltern gewesen sein, weil sie dann kein Kind mehr war. – Insgesamt also doch eine Leidensgeschichte, eine Passion, eine Vi(t)a Dolorosa.] 



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