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Christa Reinig: Gesammelte Gedichte 1960-1979
Luchterhand, Darmstadt 1985 (SL 583)
steuerte der Schriftsteller Horst Bienek (1930-1990) ein Vorwort bei, auf das hier von Haimo L. Handl eingegangen wird:
(Bienek wörtlich zitiert; Handls Anmerkungen eingerückt.)
Außer ein paar Gedichten und zwei, drei Prosastücken wurde
in der DDR von ihr nichts gedruckt.
Das waren keine politischen Gedichte, die man hätte
verbieten müssen. Aber es waren Gedeichte, die trotzig auf ihrer individuellen
Aussage beharrten.
[Die Hervorhebung indiziert, dass
die (meisten) anderen Gedichte keine individuelle Aussage hatten, auch nicht
trotzig waren, sondern an- und eingepasst. Trotz der individuellen Aussage der
Gedichte von Reinig waren sie „zahm“, so „bieder“, dass man sie aber nicht
hätte verbieten müssen. Das wiederum wertet entweder die Flexibilität der DDR
auf oder die Unverbindlichkeit der Individualität von Reinig: Sie und ihre
Gedichte störten nicht, waren gleich-gültig.]
Da war nicht von Aufbau die Rede und nicht vom verordneten
Optimismus, da war weder Klage noch Anklage.
[Also Weder-noch-Gedichte, ohne
klare Kritik oder Position, einfach – was?]
Jedes dieser Gedichte sprach, auf ganz verschiedene Weise,
von Trauer, von der Verlorenheit, von der Stille, von den Verwundungen, vom
Tod.
[Immerhin, im Arbeiter- und
Bauernstaat gab es auch Stille. Bemerkenswert. Dass es alles angeführte Andere
auch gab, ist nur normal.]
Das waren – schon damals – Endzeit-Gedichte.
[Wieso „damals“? Wieso „waren“?
Wann hörten diese Poems auf „Endzeit-Gedichte“ zu sein? Als die Endzeit
vorüberging, als die Zeit einfach weiter ging? Wie lang dauerte der Zustand
„Endzeit-Gedicht“ an? Sind sie heute keine solchen mehr? Was sind die frühen
Gedichte Reinigs heute? Historische Dokumente? Zur Klassifikation: Endzeit
klingt ein wenig nach Samuel Becket („Endspiel“), Oswald Spengler und
Nazijargon (Endsieg). Was soll die Untergangsstimmung im Sozialismus? War das
Reinigs Trauer? Dann überrascht es nicht, dass ihre Texte nicht gedruckt
wurden.]
Und es war der ganz und gar unübliche Ton, der auffiel. Ein
kalter, genauer gesagt: ein gekälteter Ton, eine einfache, lapidare Sprache,
eine strenge klassische Form. Das Gedicht: ein makelloses Gefäß. Aber innen
(der Inhalt), da brannte und rebellierte es. Das ist es, was ihre Leser gleich
empfunden haben, hinter der Schönheit: Verzweiflung.
[Kälte und lapidare Sprache waren
also in der DDR so unüblich, dass dies bei Reinig sofort als GANZ UND GAR
unüblich auffiel. War das wirklich unüblich? Aber es fiel ja wegen etwas
Anderem noch auf, wegen der Verzweiflung, die die Leser sogleich empfanden, wie
Horst Bienek behauptet. Woher mag er das wissen? Wen hat er gefragt, wessen
Antworten vertraut er so einfach? Oder imaginiert er, legt er sein
Deutungsdenken in Leser hinein, weil es ihm ja offensichtlich ist?
Wie geht das zusammen, die
lapidare, EINFACHE Sprache mit der STRENGEN klassischen Form? Verlangte so eine
Form nicht nach nicht-einfacher Sprache? War Hölderlin „einfach und lapidar“?
Welche einfache, lapidare Sprache welch anderer Autorinnen weist zugleich
strenge klassische Form auf?
Das Gedicht war ein makelloses
Gefäß. Herr Bienek kontrastiert davon den Inhalt. Dieser Inhalt war, der
rebellisch brannte. Doch wie trennen er und der Leser diesen Inhalt von der
Form? Wie kommt er über die Form, die ja zuerst vorliegt und den Einstieg ermöglicht,
zum rebellischen Inhalt? Welche Qualität hat ein Gedicht, dessen Form sekundär
gegenüber dem Inhalt ist, weil nur dieser rebelliert, nur dieser brannte? Bei
einem Lautgedicht oder bei konkreter Poesie, wo es nicht um sinnvolle Sätze
geht, wo der Pseudoinhalt eins wurde mit der Form, wäre keine Unterscheidung
von Inhalt und Form möglich. Bei allen anderen Poems schon. Trotzdem gibt es,
anders als in der Prosa, einen hohen Grad von förmlicher Bedingtheit, von
Formeneinfluss auf die Sprache, eben nicht nur „formal“, sondern auch
inhaltlich. Das heißt nicht, die Poetin hätte ihre Worte und ihren intendierten
Sinn nach der Sprachform gestaltet, der Form also notgedrungen nachgegeben
(obwohl es das auch gibt), sondern dass nach dem Schreiben, nach dem Ausdrücken
des Gewollten, sich das Gewollte als Denken nun in gewählter sprachlicher Form
bestimmend anders gibt als zuvor: der Leser kann nur die Form und Inhalt
rezipieren in der Erscheinung der Textgestalt, er sieht einen Wechselbezug,
ohne sagen zu können (oder zu müssen), was primär war, was sekundär, was
„eigentlich“ intendiert war usw.
Einen Absatz vorher hob Bienek
hervor, dass ihre Gedichte weder Klage noch Ankalge waren. Jetzt konstatiert er
Kälte bzw. gekälteten Ton. Ist so ein Ton nicht „klagend“? Wenn er nicht eisig
scharf ist, zynisch-aggressiv, was ist er dann? Scharf kann er nicht gewesen
sein, weil eine einfache, lapidare Sprache keine Schärfe produziert.
Aggressivität gab oder gibt es auch nicht, weil Stille und Trauer vorherrschen.
Wie ist der gekältete Ton also zu deuten?]
Die Form ist gebändigt, doch die Wörter zeigen schon ihre
Widerhaken.
[Wenn eine Form gebändigt ist,
heißt das, dass sie als Kraft wirkt, die die Dichterin bändigen muss. Die Form
als wildes Tier. Aber die Dichterin gestaltet doch, gibt Form und kämpft nicht
mit bereits existierenden Formen, die sie erst nach der Bändigung übernimmt! In
Bieneks Anmerkung zeigt sich die Auffassung von einem Eigenleben der Form, der
Sprache. Aber keine Sprache spricht, es ist der Mensch, der spricht, mittels
der Sprache. Er unterliegt zwar Einflüssen, aber er gestaltet. Was wie eine
Bändigung aussehen mag, falls einem solche Bilder hochkommen, hängen mit dem
Sprachvermögen der Dichterin zusammen, und nicht mit der behaupteten Eigenkraft
der Form oder der Sprache.]
In den kurzen, lapidaren Gedichten … wird die Form, wird das
Schöne zerfetzt.
[Etwas, das zerfetzt wird, bleibt
nicht, was es war. Aber die Sprache bedarf immer ihrer Form, gleich welcher.
Formlos kann nichts Gestaltetes oder Rezipierbares existieren. Auch das
Unschöne hat Form. Welche Form blieb nach der Zerfetzung übrig?]
Das Gorgo-Gesicht kommt zum Vorschein, für Sekunden. Dann
wird es wieder verhüllt. Nur für die Dauer von ein paar Wörtern zeigt da jemand
seine Verwundungen, die Foltermale. Solche Verse sind Aufrisse der Wahrheit.
[Horst Bienek nimmt hier den Mund
sehr voll. Bedeutungsschwanger. Dass, für Augenblicke nur, aber doch, Gorgo ihr
Gesicht zeigt, rührt nicht nur asn den griechischen Mythos, sondern insinuiert
damit eine tiefe oder tiefere Wahrheit, die aber so schmerzlich ist, dass sie
Foltermalen gleicht, dass man froh sein muss, wenn man nur für
Sekundenbruchteile den Aufriss ersah und nicht, wie der Mythos sagt, einen zu
Stein erstarren lässt. Die Gleichsetzung von Wahrheit und Höllenfolterqualen,
existentieller Gefahr bzw. Vernichtung, entspricht einer gottesfürchtigen
Haltung, mit einem Begriff von ewiger, universeller Wahrheit, die man entdecken
kann, aber, wohlweislich, nur in Kleinstdosen, weil tödlich. Was für eine
schreckliche Ideologie äußert da Horst Bienek?]
Das liest sich wie das Stenogramm einer Poetik; ein
kurzgefaßtes Selbstporträt jener Zeit. (…) Man spürte einfach, da macht nicht
jemand nur gute Gedeichte. Da werden einem Menschen, der die Zähne
zusammenbeißt, Wörter abgetrotzt, herausgerissen. Da war jemand, der leben,
lieben und auch leiden wollte. Aber da man ihn nicht leben ließ, schrie er. Mit
blutigem Mund.
[Es werden der Reinig, der
Dichterin, also die Wörter abgetrotzt, herausgerissen. Dichtung als Folter. Ein
Suhlen im Leiden. Töter-Opfer-Kult. Jemand wollte nicht nur leben und lieben,
sondern auch leiden. Aber siehe da, man ließ ihn nicht leben, weshalb er mit
blutigem Mund schrie. Wie? Reinig konnte in westdeutschen Verlagen publizieren,
sie erhielt viele Preise und Auszeichnungen. Wer ließ sie nicht leben? Das ZK
der DDR, die Stasi? Sie verließ ihre Heimat DDR 1964 und starb in München 2008.
Das Bild ist schief. Bienek
formuliert, als ob äußere Kräfte ihr, dem leidenden Menschen, Wörter
herausreißen, sie foltern und quälen, wie wenn man ihr Organe herausrisse. Aber
als Schriftstellerin und Dichterin hat sie selber vielleicht sich etwas
abgetrotzt, weil es ihr nicht leicht viel, kreierend zu schreiben. Warum sie
dann bei der Passion als Beruf blieb, mag verwundern. War sie Masochistin, die
gern litt. Hier wird eine Opferikone gemalt als Mosaikbildchen für einen
Mythos. Es kann ja sein, dass das Leben in der DDR ihr wie eine Folter erschien
und sie aufschrie, worauf einige andere dann einen blutigen Mund sahen einer
Untergehenden.]
Christa Reinig hat danach noch einige großartige Gedichte
geschrieben. Aber die Prägnanz, die Kraft, die Radikalität, auch die
Originalität von früher hat sie nicht mehr erreicht. Das muß man kritisch
sagen. Und das hing nicht mit der Zelle zusammen, die für sie das Leben in der
DDR bedeutete. Das wäre eine politische und wohl auch zu einfache Deutung. Es
war ihre eigene, ihre biographische Zelle, ihre private Unterdrückung, die
Foltern der Kindheit im Krieg und vor allem Nachkrieg.
[Gut, dass Horst Bienek noch
einen klärenden Satz hinzufügt. Christa Reinig hat sich selbst unterdrückt,
trainiert durch die Foltern der Kindheit im Krieg (zu Kriegsbeginn 1939 war sie
13 Jahre alt) und vor allem Nachkrieg. Im Nachkrieg müssen es andere Foltern
gewesen sein, weil sie dann kein Kind mehr war. – Insgesamt also doch eine
Leidensgeschichte, eine Passion, eine Vi(t)a Dolorosa.]
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