Sonntag, 26. August 2012

Otto Gildemeisters 110. Todestag

Otto Gildemeister, 13.3.1823 - 26.8.1902, war Journalist, Schriftsteller, Übersetzer, liberal-konservativer Politiker, Senator und Bremer Bürgermeister.

Wikipedia


Aus den Essays:


Jargon

(1890)
Im vorigen Jahrhundert gehörte das Wort Tugend zum Jargon; heute belächeln wir die überschwengliche Rührung, mit der gefühlvolle Herzen damals diesem Worte lauschten, und die Häufigkeit, mit der beliebte Schriftsteller es gebrauchten. Ist unsere Zeit frei von solchem Jargon? Ich zweifle daran. Tugend ist nicht mehr Mode, aber man spricht sehr viel von Sittlichkeit. Für den Hausgebrauch erscheint der Unterschied, ob es tugendhaft oder ob es sittlich sei, nicht eben erheblich, aber wer heutzutage sich ans Publikum wendet, muß seine Rede mit Sittlichkeit würzen oder salben. Früher sagte man Moral, aber Sittlichkeit klingt vornehmer, und vollends Ethik!
Wo man von sittlichen Problemen spricht, ist das Wort Sittlichkeit einwandsfrei. Aber man findet es seit einiger Zeit in wuchernder Fülle an Stellen, wo es keinen Sinn hat, z. B. wo es sich um wirtschaftliche Probleme handelt. Mit den Worten national, deutsch, patriotisch geht es ähnlich. Wie die Wulste, Tressen und Bänder der Schneidermode verhüllen sie irgend eine Dürftigkeit der Natur; wie sie, sind sie vom Übel, wo es aus Erkenntnis der Wirklichkeit vor allem ankommt. Man entkleidet den Körper, den der Wundarzt untersuchen soll, mag der Anblick noch so unschön sein.
Auf einem kürzlich abgehaltenen evangelisch-sozialen Kongreß ist das Wort Tugend (was ich durchaus billige) gar nicht, das Wort Sittlichkeit sehr oft vorgekommen. Nichts ist nämlich leichter, als die sozialen Fragen, denen auf wirtschaftlichem Wege äußerst schwer beizukommen ist, vom Standpunkte der Sittlichkeit aus zu beleuchten. Und wie die Elektrizität, um sich zu entladen, immer den leichtesten Ausweg sucht, so macht es auch der soziale Tatendrang, der sich in solchen Kongressen verdichtet. An der Stange des sittlichen Pathos gleitet das Fluidum bequem in den Erdboden. Zu den zahlreichen sonoren Resolutionen des Kongresses hat ein Generalsuperintendent eine feierliche Einleitung augenscheinlich mit Sorgfalt redigiert, und die Resolutionen sind mit dieser Ouvertüre in die Welt gegangen. Darin wird unter anderem nun folgendes als Aufgabe der Versammlung bezeichnet:
»Dahin zu wirken, daß auf dem Grunde einer neuen, aus dem Evangelium geborenen Gesinnung die einzelnen Stände sich ihrer Verpflichtungen gegeneinander bewußt und denselben gerecht werden; daß insonderheit die Arbeitgeber den sittlich ebenbürtigen Wert der Arbeit anerkennen, die Arbeiter aber in derselben einen sittlichen Beruf erblicken lernen.«
Was heißt das? Daß es gut wäre, wenn alle Menschen ihre Pflichten, einschließlich der sozialen, erfüllten, z. B. ehrlich hielten, was sie versprochen haben, und einer dem andern anständig, gerecht und hilfreich begegnete, bestreitet natürlich niemand. Diesen Teil des Satzes, der nur überflüssig, aber nicht irreleitend ist, lasse ich auf sich beruhen. Aber über »den sittlich ebenbürtigen Wert der Arbeit,« den der Arbeitgeber anerkennen soll, möchte ich mir Auskunft erbitten. Wieso hat denn die Arbeit als Arbeit sittlichen Wert? (an den pädagogischen ist doch in diesem Zusammenhange nicht zu denken). Und wem soll er ebenbürtig sein? Und endlich, wenn nun der Arbeitgeber sagt: »Jawohl, ich erkenne den ebenbürtigen sittlichen Wert der Arbeit an,« was folgt daraus? Was wird damit genützt? Wird er für Arbeit, weil sie sittlichen Wert hat, höheren Lohn zahlen, oder sie angenehmer machen können?
Arbeit als solche ist weder sittlich noch unsittlich. Ich habe immer gehört, daß die Sittlichkeit einer Handlung lediglich von den Motiven abhänge, und ich glaube, daß das die allgemeine Ansicht ist. Nun wird man nicht sehr fehlgehen, wenn man annimmt, daß neunundneunzig von hundert Arbeitern sich von dem Wunsche, ihren Lebensunterhalt zu gewinnen, bestimmen lassen. Sie wissen, daß sie ohne Arbeit entweder hungern und frieren oder betteln und stehlen müssen. Sie ziehen die Arbeit vor, weil sie das bei weitem geringere Übel ist. Daß sie so handeln, ist verständig und untadelhaft, aber es als sittlich zu rühmen, sehe ich keinen besonderen Grund. Man müßte denn die Sittlichkeit als etwas Negatives auffassen, als bloße Abwesenheit des Lasters. Die positive Sittlichkeit beginnt für mich erst da, wo einer freiwillig stöhnt und schwitzet unter Lebensmühen, um anderen zu helfen, oder einem idealen Interesse zuliebe, wo einer arbeitet, um die Schulden eines Freundes zu tilgen, den Hunger eines Fremdlings zu stillen oder einer gerechten Sache zum Siege zu verhelfen. Mit Hilfe einer subtilen chemischen Analyse wird man vielleicht auch in der gewöhnlichen Erwerbstätigkeit des gewöhnlichen Arbeiters positive Sittlichkeit entdecken wie in einer Tonne Gesteins ein Milligramm Goldes. Zum Beispiel eine Mitwirkung des Gerechtigkeitssinnes, der uns verbietet, eine Last, die wir selbst tragen sollten, auf andere abzuwälzen. Aber man denkt nicht zu niedrig von der menschlichen Natur, wenn man als das eigentliche, praktisch wirksame Motiv der menschlichen Arbeit – von dem Zwange der Sklaverei abgesehen – das wohlverstandene und übrigens vollkommen berechtigte Interesse der Arbeitenden ansieht. Das Wort sittlich ist deshalb bloß Phrase.
Die Phrase aber ist irreleitend, weil sie den Arbeiter in einem Wahne bestärkt, zu dem er, von seinen Schmeichlern verführt, ohnehin nur allzusehr neigt, in dem Wahne nämlich, daß seine Erwerbstätigkeit an sich etwas ausnahmsweise Verdienstliches sei, bekleidet mit einer ihr eigentümlichen Würde, die allen anderen menschlichen Tätigkeiten abgehe. Er glaubt schon jetzt, daß er der alleinige Schöpfer aller irdischen Güter sei; er glaubt, daß ein ungerechtes Schicksal nur ihn allein zu Anstrengungen, Entbehrungen und Leiden verdamme; er wird es sich gern gesagt sein lassen, daß er mit jedem Hammerschlag und Spatenstich eine Tat der Sittlichkeit vollbringe, die ihn von den rechnenden Bourgeois vorteilhaft unterscheide.
Vielleicht wird der Herr Generalsuperintendent einwenden, er habe es so gar nicht gemeint: er habe nur sagen wollen, daß die Arbeitgeber ihre Arbeiter human behandeln, in ihnen stets die menschliche Würde, das menschliche Recht und die menschliche Schwäche anerkennen und schonen sollten. Den Arbeitern aber habe er nur empfehlen wollen, daß sie die übernommene Leistung gewissenhaft erfüllen und ihr gegebenes Wort halten möchten. Ich selbst glaube beinahe, daß etwas Ähnliches ihm vorgeschwebt hat, und daß nur der heute übliche sozialistische Jargon schuld ist, wenn er das Einfache und Richtige so dunkel ausgedrückt hat. Ohne den Jargon hätte sich aber vielleicht der Zweifel bei ihm geregt, ob es sich der Mühe lohne, so einfache Dinge so feierlich zu verkünden.

* * *

Otto Gildemeister übersetzte u. a. aus Shakespeares und Lord Byrons Werken.

Hier die Vertonung des Poems "Sun of the sleepless" von George Gordon Byron (Lord Byron) in der Übersetzung "Sonne der Schlummerlosen" von Otto Gildemeister durch Hugo Wolf (1860-1903). Es singt der Bariton Dietrich Fischer-Dieskau, am Klavier begleitet von Gerald Moore:


Sun of the Sleepless

Sun of the sleepless! melancholy star!
Whose tearful beam glows tremulously far!
That shows the darkness thou canst not dispel,
How like art thou to joy remember'd well!
So gleams the past, the light of other days,
Which shines, but warms not with its powerless rays;
A nightbeam Sorrow watcheth to behold,
Distinct, but distant - clear - but, oh how cold!

George Gordon Lord Byron (1788-1824)


Sonne der Schlummerlosen

Sonne der Schlummerlosen, bleicher Stern!
Wie Tränen zittern, schimmerst du von fern;
Du zeigst die Nacht, doch scheuchst sie nicht zurück,
Wie ähnlich bist du dem entschwundnen Glück,
Dem Licht vergangner Tage, das fortan nur leuchten,
Aber nimmer wärmen kann!
Die Trauer wacht, wie es durchs Dunkel wallt,
Deutlich doch fern, hell, aber o wie kalt!

German translation by Otto Gildemeister (1823-1902)


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