Mittwoch, 3. Januar 2018

Reminiszenz

Louis Christian Wolff publizierte vor 14 Jahren, 2004, während drei Monaten, Jänner bis März, eine Art Tagebuch in ZITIG.net (er war später auch Beiträger für unsere Literaturzeitschrift DRIESCH). Hier als Erinnerung der immer gleich sich wiederholenden Ereignisse, die nur an der Oberfläche anders oder "eigen-artig" erscheinen, doch im Kern eine dauernde Wiederholung sind, die Notiz zum 1. Jänner 2004.

Es ist schon erstaunlich, wie im Immergleichen die kleinen und kleinsten Unterschiede als einzigartig fokussiert werden und alle in der Übung ALS OB sich erschöpfen – und dabei glücklich sind (soweit die Menschen Glück noch zu empfinden vermögen).

Was haben wir erreicht, wer ist gestorben, wer war bedeutend, was ist geschehen, wohin werden wir gelangen? Das alles wird weniger bedacht als kurz anvisiert, subsummiert, registriert und abgehakt. Ein Erfolgs- und Sicherheitsdenken, wie im Sport: alles unter Kontrolle und auf klarem Rekordkurs.



1. Jänner 2004

Ein Festtag. Kein Regeltag. Ein aussergewöhnlicher Tag. Ein Feiertag. Ein Tag zum Feiern? So ist es gewöhnlich. Das heisst, für gewöhnlich wird der Tag als aussergewöhnlich, nämlich feiertäglich begangen. Das darf nicht wortwörtlich genommen werden. (Wieso "wort-wörtlich"? Reicht nicht "wörtlich"?) Tradition. Traditionellerweise ist der Jahresbeginn ein Feiertag, auch wenn einzelne ihn nicht feiern. Die meisten feiern ja den Vorabend, den Silvester. Sie treiben es bunt. Besonders in geografischen Breiten der Kälte. Früher war das Bunte ein Kontrast zum weissen Schnee. Jetzt gibt es Schnee nur noch hoch oben im Norden. Hier, in Mitteleuropa, keinen mehr. Nur hie und da. Nicht am Feiertag oder dessen Vorabend. Manchmal doch. Jetzt aber nicht.

Sie beglückwünschen sich. Ich beglückwünsche andere. Nähere und Fernere. Es ist so nett. Freundlich. Ist es gesellig? Ein Rauchfangkehrer wird kommen, ein Feuerwehrmann, ein Rotkreuzmitarbeiter (immer sind es Männer, die kommen!), die Kinder als Sternsinger, verkleidet in orientalische, heilige Könige. Da darf sich das Kindergemüt ausleben und der Kirche für Ihre Mission Geld sammeln. So nett, so freundlich, so lieb. Christlich. Aber das wird erst kommen. Heute noch nicht. Heute stehen die meisten spät auf, weil es gestern nicht Abend wurde in der langen Nacht, die bis in die Früh dauerte.

Irgendwo wird Musik gespielt. In einigen Städten gibt es Neujahrskonzerte. In Wien haben sie es geschafft damit weltbekannt zu werden. Das freut die Wiener. Das hilft dem Geschäft. Also fast allen. Ist das nicht fein? Die Konkurrenz mit anderen Weltstätten ist ein ernstes Spiel.

In Paris räumen sie die Strassen auf. Nicht nur dort. Auch in Berlin. Da wurde gestern besonders viel gesoffen und gegrölt. Die Deutschen übertreiben gerne. Auch beim Festen. Aber so schlimm wie am 1. Mai, dem Tag der Arbeit, war es nicht. Silvester und Anarchokrawalle passen weniger gut zusammen. Die Jungen, die sonst für fast alle Schlägerspässe zu haben sind, pflegen am Silvester andere Präferenzen. Einmal im Jahr muss die Politik öffentlich zurücktreten. Das stimmt natürlich auch nicht wörtlich. Aber im übertragenen Sinn. Vielleicht. Oder doch nicht: denn das betont Nicht-Politische ist als solches hochpolitisch: lasst uns jauchzen und grölen, saufen und fröhlich sein. Wenn das kein politisches Programm ist!

Heute, am 1. Tag des Neuen Jahres, machen sich die wenigstens klar, wie bedingt diese Neuheit ist, wie fragil die kalendarische Ordnung, wie kurz der Zeitbegriff, wie verschwommen die Aussicht, wie unklar die Einsicht.

Es wird alles viel schlimmer, als je erwartet. 

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Soweit LCW.

Anmerkung:
"Es wird alles viel schlimmer, als je erwartet"? Damit das nicht ins Bewusstsein gelangt, arbeitet die Bewusstseinsindustrie auf Hochtouren. Wir pflegen die Hoffnung. Manche zitieren Klassiker ("Die Hoffnung stirbt zuletzt"), andere Christmarxisten (Prinzip Hoffnung), niemand aber Nietzsche, der die Hoffnung nicht nur positiv sah, sondern als Droge und Trugbild, als schlimmstes Übel:

Friedrich Nietzsche

Menschliches, Allzumenschliches I

71

D i e H o f f n u n g. ‑ Pandora brachte das Fass mit den Uebeln und öffnete es. Es war das Geschenk der Götter an die Menschen, von Aussen ein schönes verführerisches Geschenk und "Glücksfass" zubenannt. Da flogen all die Uebel, lebendige beschwingte Wesen heraus: von da an schweifen sie nun herum und thun den Menschen Schaden bei Tag und Nacht. Ein einziges Uebel war noch nicht aus dem Fass herausgeschlüpft: da schlug Pandora nach Zeus' Willen den Deckel zu und so blieb es darin. Für immer hat der Mensch nun das Glücksfass im Hause und meint Wunder was für einen Schatz er in ihm habe; e
 steht ihm zu Diensten, er greift darnach: wenn es ihn gelüstet; denn er weiss nicht, dass jenes Fass, welches Pandora brachte, das Fass der Uebel war, und hält das zurückgebliebene Uebel für das grösste Glücksgut, ‑ es ist die Hoffnung. ‑ Zeus wollte nämlich, dass der Mensch, auch noch so sehr durch die anderen Uebel gequält, doch das Leben nicht wegwerfe, sondern fortfahre, sich immer von Neuem quälen zu lassen. Dazu giebt er dem Menschen die Hoffnung: sie ist in Wahrheit das übelste der Uebel, weil sie die Qual der Menschen verlängert.

(KSA 2:82)

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Der Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein meinte hingegen, sozusagen als Selbstvergewisserung, wir seien gar nicht in der Lage einen Zustand wie Hoffnungslosigkeit zu erkennen:

Der Abgrund der Hoffnungslosigkeit kann sich im Leben nicht zeigen. Wir können nur bis zu gewisser Tiefe in ihn hineinschauen, denn "wo Leben ist, da ist Hoffnung".
Ludwig Wittgenstein


Das klingt so vertraut wie Nietzsches Satz:

Das "Sein'" – wir haben keine andere Vorstellung davon als 
"l e b e n". – Wie kann also etwas Todtes "sein"?      
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Also alles eine Frage der Wahrnehmungs- und Vorstellungskraft, der Sprache, der Grammatik? 



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