Gustav phantasiert ein Krankheitsbild
Haimo L. Handl
Gustav litt diesmal, wie
viele andere auch, ein einem heftigen grippalen Infekt, der ihn ans Bett
fesselte, ihm jeden Appetit genommen hatte und derart ermüdete, dass sogar
seine Wahrnehmung sich verlangsamte bzw. er nicht mehr in der Lage war, die
Fernsehbilder des Apparats, der im Hintergrund lief, von Phantasiefetzen in
seinem gemarterten Hirn zu unterscheiden, die Töne, gerade weil sie
unaufdringlich leise waren, von eigenen Tonvorstellungen zu trennen bzw. zu
identifizieren. Er glitt, momentweise zumindest, in einen verwirrten Zustand,
eine nebulose Mischung aus Erinnerungsresten, die sich ungefragt mit dem jetzt
Wahrgenommenen mischten bzw. ein Bild entstehen ließen, das nicht nur ein
Krankenbild oder Krankheitsbild war, sondern, trotz seiner eigentümlichen
Fremdheit, eine Vision, eine „wahre Geschichte“, eine verbürgende Ahnung einer
tieferen Wahrheit, die er im „normalen“ Wachzustand, eben aufgrund der alerten
Vernunft, um jede unvernünftige Dimension gekappt hatte, so dass nur die
annehmbare, sozusagen approbationsreife Version sich durchzusetzen vermochte.
Jetzt waren diese
Vernunftwächter, ähnlich den unbeugsamen Traumwächtern, geschwächt, und die
Kehrseiten, die Schattenwelten, das Dunkle, gewannen an Boden und Gestalt.
Gedanken kamen in ihm hoch, mischten sich mit Farben, Linien und Bildgehalten
zu neuen Formen, die ihn schreckten. Gedanken, die er sich eigentlich verbieten
wollte, weil sie un-vor-sichtig sich einstellten in einer Deutlichkeit, die
allen Konventionen widersprach und damit zu einem Affront, einer Provokation
wurden, allein schon durch ihre Existenz, geschweige denn in ihrem Fortleben,
wenn er sie denkend-sinnend weiterspann, wie einen unendlichen Faden, den er
nie zuvor zu gesponnen hatte.
Ohne jede schützende Zensur,
eben ohne jede Vernunft, bloß und bar, gaben sich die Gedanken, die ihn
verraten haben würden, hätte er sie kommuniziert oder hätte jemand anderer
ihrer teilhaftig werden können. Da folgte nichts dem herrschenden Diskurs, den
geschriebenen und ungeschriebenen Regeln: keine Berücksichtigung von gender
politics, mit allen Implikationen, eine widerliche Abwertung der Massen, wie er
sie immer an den elitären Besserwissern kritisiert hatte, eine ungeschminkte
Betrachtung der gegenwärtigen Politiken. Er wählte aus. Es war gerade die Zeit
der Gedenken Europas an die Kernländer Frankreich und Deutschland, an die
Gefahr der Nationalismen. Es war die Zeit der schönen Worte über europäische
Werte. Angela Merkel traf Emmanuel Macron, beide beschwörten Europa, seine
Geschichte, seine Zukunft. Man war sich, wie seit Jahren, einig und bestärkte
sich in dieser Einigkeit. Es galt dem rassistischen Barbaren im Weißen Haus zu
widerstehen, die Briten zu bedanken für den Exodus und aus dem Brexit ein
Geschäft zu machen, es galt den Egomanen am Bosporus besser zu
instrumentalisieren und den Ostländern endlich mal klar zu machen, was Europa
ist. Es mussten die bewährten Sprachregelungen gefestigt, es musste die
Korruption so verfeinert werden, dass die Umverteilung zugunsten der Reichen
etwas verdeckter erfolgte, damit die darauf folgenden, unvermeidlichen Sozialunruhen
kalkulierbar unter Kontrolle gehalten werden konnten.
Emmanuel, der gewiefte Banker
und Schönredner, küsste die Hand Angelas, räusperte sich und bemerkte trocken,
er habe Befehl gegeben, dass wichtige Militärbasen der Türkei mit Raketen
angegriffen werden, jetzt, während sie konferieren, um den Kriegslüstling
Erdogan in die Schranken zu weisen. Er habe zudem klar gemacht, dass, sollte
der Türkfaschist nicht nachgeben, drei hierarchisch unterschiedene Ziele ins
Visier genommen werden: a) sein Palast in Ankara, b) wichtige Flugplätze und
Hafenanlagen und c), falls das nicht zur Kapitulation führen sollte, wichtige
Brücken über den Bosporus in Istanbul bzw. die Untergrundtunnels.
Weiters sei die Türkei vom
freien Handel jetzt ausgeschlossen, alle türkischen Werte, vor allem Banken und
dergleichen, seien konfisziert und türkisches Vermögen eingefroren. Jeder
Handelsverkehr Europas mit der Türkei sei eingestellt und jene Staaten, die die
Türkei dennoch unterstützten, werden selbst einem Boykott und Strafmaßnahmen
unterworfen.
Natürlich sei die Türkei als
Kriegsgegner aus der NATO entfernt. Die USA wurden gewarnt, diesbezüglich falsche
politische Schritte zu unternehmen. Europa besänne sich seiner Position und er,
Emmanuel, wolle den Élysée-Vertrag gemeinsam mit Deutschland würdig feiern und
es nicht nur bei leeren Worten belassen. Der Islamofaschismus der türkischen
Barbaren sowie die erratische Politik der USA unter dem Ungebildeten hätten die
nötigen Voraussetzungen geboten, endlich zu handeln. Die alte Übung, nicht von
der force de frappe zu reden, sondern nur diplomatisch verklausuliert
anzudeuten, dass Frankreich ja auch Atommacht sei, habe ein Ende; er setze
bewusst auf die nukleare Karte und spiele sie bei Bedarf auch aus.
Angela wurde fast ohnmächtig,
denn sie war durch und durch auf Worte trainiert und nicht auf Handeln. Angst
kroch in ihr hoch und Beklemmnis: die neue Situation ließ sich nicht mehr nur
aussitzen. Der charmante Emmanuel lächelte und genoss sichtlich seine virile
Entschlusskraft. Die französischen Maßnahmen überraschten wirklich alle. Vor
kurzem noch war der Pascha vom Bosporus in Paris, hatte innerlich gejubelt,
dass er die Europäer, diese elenden Weicheier, einfach in den jeden Winkel
stellen konnte, den er aussuchte: seinem Kriegs- und Folterprogramm stellte
sich nichts, absolut nichts in den Weg, sogar Moskau und Teheran machten mit,
und der Blondschopf überm großen Teich, der ihn ja insgeheim bewunderte,
ähnlich wie den gelben Raketenmann, so und so. (Er wusste, dass der Blondschopf
eigentlich den Koreaner beneidete und ihn, Erdogan, den Großen Führer, auch,
weil in seinem Land die Verfassung ihn doch etwas bremste in seinen
Führerambitionen.)
Jetzt hagelte es Raketen und
die Generäle der erfolgsverwöhnten Armee wussten nicht wirklich, wie sie einen
Mehrfrontenkrieg führen sollten, wie die Logistik zu meistern war. Erdogan
schickte sich an, alles auf eine Karte zu setzen und einen Großkrieg zu
beginnen. Aber Emmanuel kam ihm zuvor. Die Iraner erkannten die einmalige
Chance, gegen den Erzfeind losziehen zu können, die Kurden mobilisierten mit
letzter Kraft Terrorkommandos, und die trotzig jubelnden Türken mussten eine
Niederlage nach der andern hinnehmen.
Macron hatte natürlich auch
eine Seeblockade errichtet und in einem neuen Seekrieg alle Schiffe, die
Ladungen für die Türkei transportierten, zur Versenkung freigegeben. Einige
kleinere Staaten meinten, sich dem Krieg der Franzosen widersetzen zu sollen,
um als Kriegsgewinnler doppelt zu verdienen. Die Verwüstungen und Verheerungen,
denen sie folgerichtig ausgesetzt wurden, wirkten ganz wundersam.
Die europäischen
Fernsehanstalten sendeten anfangs weiter ihr Ablenkungspropagandafernsehen,
konnten aber die Realitätsleugnungen nicht lange aufrecht erhalten. Nach und
nach sickerten die unretouchierten Bilder durch, getrauten sich die
zensurgeübten Schönredner unter den Journalisten doch wieder alte Worte und
Wörter in den Mund zu nehmen und A a und B b zu nennen, wie man es seit
Jahrzehnten nicht mehr gehört hatte.
Gustav war wieder
eingeschlafen. Als er erwachte, war er etwas verwirrt. Er wartete auf die
Nachrichten und überzeugte sich vom realen Verlauf der Dinge, der wie immer,
wie gewohnt, ablief. Alles war in Ordnung:
ARD – Die Nachrichten. Wie
immer zur vollen Stunde die Minute der Wahrheit. Die Nachrichtensprecherin
berichtete vom erfolgreichen Treffen von Angela Merkel und Emmanuel Macron, von
den europäischen Festlichkeiten und einer Galavorführung der Freiheitsoper
FIDELIO von Beethoven auf
französisch als Auftakt für die Élysée-Vertragsgedenkfeierlichkeiten, zu denen
sogar Donald Trump sich angekündigt habe, um die tiefe Verbundenheit der USA
mit dem alten Kontinent zu bekunden. Es folgten Berichte von der Frankfurter
Börse und der Fortführung der Koalitionsverhandlungen zwischen CDU, CSU und
SPD.
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