Sonntag, 30. September 2012

Freud: Zwangshandlungen und Religionsübungen

Anlässlich des Internationalen Blasphemie-Tages hier ein Aufsatz des österreichischen Psychoanalytikers und Nervenarztes Sigmund Freud, publiziert 1907 in der Zeitschrift für Religionspsychologie,

Abbildung aus Wikipedia (Foto von Max Halberstadt, 1921) 

Sigmund Freud

Zwangshandlungen und Religionsübungen

(1907)*)

Ich bin gewiß nicht der erste, dem die Ähnlichkeit der sogenannten Zwangshandlungen Nervöser mit den Verrichtungen aufgefallen ist, durch welche der Gläubige seine Frömmigkeit bezeugt. Der Name "Zeremoniell" bürgt mir dafür, mit dem man gewisse dieser Zwangshandlungen belegt hat. Doch scheint mir diese Ähnlichkeit eine mehr als oberflächliche zu sein, so daß man aus einer Einsicht in die Entstehung des neurotischen Zeremoniells Analogieschlüsse auf die seelischen Vorgänge des religiösen Lebens wagen dürfte.

Die Leute, die Zwangshandlungen oder Zeremoniell ausüben, gehören nebst jenen, die an Zwangsdenken, Zwangsvorstellungen, Zwangsimpulsen u. dgl. leiden, zu einer besonderen klinischen Einheit, für deren Affektion der Name "Zwangsneurose" gebräuchlich ist.1) Man möge aber nicht versuchen, die Eigenart dieses Leidens aus seinem Namen abzuleiten, denn strenggenommen haben andersartige krankhafte Seelenerscheinungen den gleichen Anspruch auf den sogenannten "Zwangscharakter". An Stelle einer Definition muß derzeit noch die Detailkenntnis dieser Zustände treten, da es bisher nicht gelungen ist, das wahrscheinlich tiefliegende Kriterium der Zwangsneurose aufzuzeigen, dessen Vorhandensein man doch in ihren Äußerungen allenthalben zu spüren vermeint.
Das neurotische Zeremoniell besteht in kleinen Verrichtungen, Zutaten, Einschränkungen, Anordnungen, die bei gewissen Handlungen des täglichen Lebens in immer gleicher oder gesetzmäßig abgeänderter Weise vollzogen werden. Diese Tätigkeiten machen uns den Eindruck von bloßen "Formalitäten"; sie erscheinen uns völlig bedeutungslos. Nicht anders erscheinen sie dem Kranken selbst, und doch ist er unfähig, sie zu unterlassen, denn jede Abweichung von dem Zeremoniell straft sich durch unerträgliche Angst, die sofort die Nachholung des Unterlassenen erzwingt. Ebenso kleinlich wie die Zeremoniellhandlungen selbst sind die Anlässe und Tätigkeiten, welche durch das Zeremoniell verziert, erschwert und jedenfalls auch verzögert werden, z. B. das Ankleiden und Auskleiden, das Zubettegehen, die Befriedigung der körperlichen Bedürfnisse. Man kann die Ausübung eines Zeremoniells beschreiben, indem man es gleichsam durch eine Reihe ungeschriebener Gesetze ersetzt, also z. B. für das Bettzeremoniell: der Sessel muß in solcher, bestimmter Stellung vor dem Bette stehen, auf ihm die Kleider in gewisser Ordnung gefaltet liegen; die Bettdecke muß am Fußende eingesteckt sein, das Bettuch glatt gestrichen; die Polster müssen so und so verteilt liegen, der Körper selbst in einer genau bestimmten Lage sein; dann erst darf man einschlafen. In leichten Fällen sieht das Zeremoniell so der Übertreibung einer gewohnten und berechtigten Ordnung gleich. Aber die besondere Gewissenhaftigkeit der Ausführung und die Angst bei der Unterlassung kennzeichnen das Zeremoniell als "heilige Handlung". Störungen derselben werden meist schlecht vertragen; die Öffentlichkeit, die Gegenwart anderer Personen während der Vollziehung ist fast immer ausgeschlossen.

Zu Zwangshandlungen im weiteren Sinne können alle beliebigen Tätigkeiten werden, wenn sie durch kleine Zutaten verziert, durch Pausen und Wiederholungen rhythmiert werden. Eine scharfe Abgrenzung des "Zeremoniells" von den "Zwangshandlungen" wird man zu finden nicht erwarten. Meist sind die Zwangshandlungen aus Zeremoniell hervorgegangen. Neben diesen beiden bilden den Inhalt des Leidens Verbote und Verhinderungen (Abulien), die ja eigentlich das Werk der Zwangshandlungen nur fortsetzen, indem dem Kranken einiges überhaupt nicht erlaubt ist, anderes nur unter Befolgung eines vorgeschriebenen Zeremoniells.

Merkwürdig ist, daß Zwang wie Verbote (das eine tun müssen, das andere nicht tun dürfen) anfänglich nur die einsamen Tätigkeiten der Menschen betreffen und deren soziales Verhalten lange Zeit unbeeinträchtigt lassen; daher können solche Kranke ihr Leiden durch viele Jahre als ihre Privatsache behandeln und verbergen. Auch leiden viel mehr Personen an solchen Formen der Zwangsneurose, als den Ärzten bekannt wird. Das Verbergen wird ferner vielen Kranken durch den Umstand erleichtert, daß sie sehr wohl imstande sind, über einen Teil des Tages ihre sozialen Pflichten zu erfüllen, nachdem sie eine Anzahl von Stunden in melusinenhafter Abgeschiedenheit ihrem geheimnisvollen Tun gewidmet haben.

Es ist leicht einzusehen, worin die Ähnlichkeit des neurotischen Zeremoniells mit den heiligen Handlungen des religiösen Ritus gelegen ist, in der Gewissensangst bei der Unterlassung, in der vollen Isolierung von allem anderen Tun (Verbot der Störung) und in der Gewissenhaftigkeit der Ausführung im kleinen. Aber ebenso augenfällig sind die Unterscheidungen, von denen einige so grell sind, daß sie den Vergleich zu einem sakrilegischen werden lassen. Die größere individuelle Mannigfaltigkeit der Zeremoniellhandlungen im Gegensatze zur Stereotypie des Ritus (Gebet, Proskynesis usw.), der Privatcharakter derselben im Gegensatze zur Öffentlichkeit und Gemeinsamkeit der Religionsübung; vor allem aber der eine Unterschied, daß die kleinen Zutaten des religiösen Zeremoniells sinnvoll und symbolisch gemeint sind, während die des neurotischen läppisch und sinnlos erscheinen. Die Zwangsneurose liefert hier ein halb komisches, halb trauriges Zerrbild einer Privatreligion. Indes wird gerade dieser einschneidendste Unterschied zwischen neurotischem und religiösem Zeremoniell beseitigt, wenn man mit Hilfe der psychoanalytischen Untersuchungstechnik zum Verständnis der Zwangshandlungen durchdringt.2) Bei dieser Untersuchung wird der Anschein, als ob Zwangshandlungen läppisch und sinnlos wären, gründlich zerstört und die Begründung dieses Scheines aufgedeckt. Man erfährt, daß die Zwangshandlungen durchwegs und in all ihren Einzelheiten sinnvoll sind, im Dienste von bedeutsamen Interessen der Persönlichkeit stehen und fortwirkende Erlebnisse sowie affektbesetzte Gedanken derselben zum Ausdrucke bringen. Sie tun dies in zweierlei Art, entweder als direkte oder als symbolische Darstellungen; sie sind demnach entweder historisch oder symbolisch zu deuten.

Einige Beispiele, die diese Behauptung erläutern sollen, darf ich mir hier wohl nicht ersparen. Wer mit den Ergebnissen der psychoanalytischen Forschung bei den Psychoneurosen vertraut ist, wird nicht überrascht sein zu hören, daß das durch die Zwangshandlungen oder das Zeremoniell Dargestellte sich aus dem intimsten, meist aus dem sexuellen Erleben der Betroffenen ableitet:

a) Ein Mädchen meiner Beobachtung stand unter dem Zwange, nach dem Waschen die Waschschüssel mehrmals herumzuschwenken. Die Bedeutung dieser Zeremoniellhandlung lag in dem sprichwörtlichen Satze: Man soll schmutziges Wasser nicht ausgießen, ehe man reines hat. Die Handlung war dazu bestimmt, ihre geliebte Schwester zu mahnen und zurückzuhalten, daß sie sich von ihrem unerfreulichen Manne nicht eher scheiden lasse, als bis sie eine Beziehung zu einem besseren angeknüpft habe.

b) Eine von ihrem Manne getrennt lebende Frau folgte beim Essen dem Zwange, das Beste stehenzulassen, z. B. von einem Stück gebratenen Fleisch nur die Ränder zu genießen. Dieser Verzicht erklärte sich durch das Datum seiner Entstehung. Er war am Tage aufgetreten, nachdem sie ihrem Manne den ehelichen Verkehr gekündigt, d. h. aufs Beste verzichtet hatte.

c) Dieselbe Patientin konnte eigentlich nur auf einem einzigen Sessel sitzen und konnte sich nur mit Schwierigkeit von ihm erheben. Der Sessel symbolisierte ihr mit Beziehung auf bestimmte Details ihres Ehelebens den Mann, dem sie die Treue hielt. Sie fand zur Aufklärung ihres Zwanges den Satz: "Man trennt sich so schwer von einem (Manne, Sessel), auf dem man einmal gesessen ist."

d) Sie pflegte eine Zeit hindurch eine besonders auffällige und sinnlose Zwangshandlung zu wiederholen. Sie lief dann aus ihrem Zimmer in ein anderes, in dessen Mitte ein Tisch stand, rückte die auf ihm liegende Tischdecke in gewisser Art zurecht, schellte dem Stubenmädchen, das an den Tisch herantreten mußte, und entließ sie wieder mit einem gleichgültigen Auftrag. Bei den Bemühungen, diesen Zwang aufzuklären, fiel ihr ein, daß die betreffende Tischdecke an einer Stelle einen mißfarbigen Fleck hatte und daß sie jedesmal die Decke so legte, daß der Fleck dem Stubenmädchen in die Augen fallen mußte. Das Ganze war dann eine Reproduktion eines Erlebnisses aus ihrer Ehe, welches ihren Gedanken später ein Problem zu lösen gegeben hatte. Ihr Mann war in der Brautnacht von einem nicht ungewöhnlichen Mißgeschick befallen worden. Er fand sich impotent und "kam viele Male im Laufe der Nacht aus seinem Zimmer in ihres gerannt", um den Versuch, ob es nicht doch gelänge, zu wiederholen. Am Morgen äußerte er, er müsse sich ja vor dem Hotelstubenmädchen schämen, welches die Betten in Ordnung bringen werde, ergriff darum ein Fläschchen mit roter Tinte und goß dessen Inhalt über das Bettuch aus, aber so ungeschickt, daß der rote Fleck an einer für seine Absicht sehr ungeeigneten Stelle zustande kam. Sie spielte also Brautnacht mit jener Zwangshandlung. "Tisch und Bett" machen zusammen die Ehe aus.

e) Wenn sie den Zwang angenommen hatte, die Nummer jeder Geldnote zu notieren, ehe sie dieselbe aus ihren Händen gab, so war dies gleichfalls historisch aufzuklären. Zur Zeit, als sie sich noch mit der Absicht trug, ihren Mann zu verlassen, wenn sie einen anderen, vertrauenswürdigeren fände, ließ sie sich in einem Badeorte die höflichen Bemühungen eines Herrn gefallen, über dessen Bereitschaft, Ernst zu machen, sie doch im Zweifel blieb. Eines Tages um Kleingeld verlegen, bat sie ihn, ihr ein Fünfkronenstück zu wechseln. Er tat es, steckte das große Geldstück ein und äußerte galant, er gedenke sich von diesem nie wieder zu trennen, da es durch ihre Hand gegangen sei. Bei späterem Beisammensein war sie nun oft in Versuchung, ihn aufzufordern, er möge ihr das Fünfkronenstück vorzeigen, gleichsam um sich so zu überzeugen, ob sie seinen Huldigungen Glauben schenken dürfe. Sie unterließ es aber mit der guten Begründung, daß man gleichwertige Münzen nicht voneinander unterscheiden könne. Der Zweifel blieb also ungelöst; er hinterließ ihr den Zwang, die Nummern der Geldnoten, durch welche jede einzelne von allen ihr gleichwertigen individuell unterschieden ist, zu notieren.

Diese wenigen Beispiele, aus der Fülle meiner Erfahrung herausgehoben, sollen nur den Satz, daß alles an den Zwangshandlungen sinnvoll und deutbar ist, erläutern. Das gleiche gilt für das eigentliche Zeremoniell, nur daß hier der Beweis umständlichere Mitteilung erfordern würde. Ich verkenne es keineswegs, wie sehr wir uns bei den Aufklärungen der Zwangshandlungen vom Gedankenkreise der Religion zu entfernen scheinen.

Es gehört zu den Bedingungen des Krankseins, daß die dem Zwange folgende Person ihn ausübe, ohne seine Bedeutung - wenigstens seine Hauptbedeutung - zu kennen. Erst durch die Bemühung der psychoanalytischen Therapie wird ihr der Sinn der Zwangshandlung und damit die zu ihr treibenden Motive bewußtgemacht. Wir sprechen diesen bedeutsamen Sachverhalt in den Worten aus, daß die Zwangshandlung unbewußten Motiven und Vorstellungen zum Ausdruck diene. Darin scheint nun ein neuerlicher Unterschied gegen die Religionsübung zu liegen; aber man muß daran denken, daß auch der einzelne Fromme in der Regel das religiöse Zeremoniell ausübt, ohne nach dessen Bedeutung zu fragen, während allerdings der Priester und der Forscher mit dem meist symbolischen Sinn des Ritus bekannt sein mögen. Die Motive, die zur Religionsübung drängen, sind aber allen Gläubigen unbekannt oder werden in ihrem Bewußtsein durch vorgeschobene Motive vertreten.

Die Analyse der Zwangshandlungen hat uns bereits eine Art von Einsicht in die Verursachung derselben und in die Verkettung der für sie maßgebenden Motive ermöglicht. Man kann sagen, der an Zwang und Verboten Leidende benimmt sich so, als stehe er unter der Herrschaft eines Schuldbewußtseins, von dem er allerdings nichts weiß, eines unbewußten Schuldbewußtseins also, wie man es ausdrücken muß mit Hinwegsetzung über das Sträuben der hier zusammentreffenden Worte. Dies Schuldbewußtsein hat seine Quelle in gewissen frühzeitigen Seelenvorgängen, findet aber eine beständige Auffrischung in der bei jedem rezenten Anlaß erneuerten Versuchung und läßt anderseits eine immer lauernde Erwartungsangst, Unheilserwartung, entstehen, die durch den Begriff der Bestrafung an die innere Wahrnehmung der Versuchung geknüpft ist. Zu Beginn der Zeremoniellbildung wird dem Kranken noch bewußt, daß er dies oder jenes tun müsse, sonst werde Unheil geschehen, und in der Regel wird die Art des zu erwartenden Unheils noch seinem Bewußtsein genannt. Der jedesmal nachweisbare Zusammenhang zwischen dem Anlasse, bei dem die Erwartungsangst auftritt, und dem Inhalte, mit dem sie droht, ist dem Kranken bereits verhüllt. Das Zeremoniell beginnt so als Abwehr- oder Versicherungshandlung, Schutzmaßregel.
Dem Schuldbewußtsein der Zwangsneurotiker entspricht die Beteuerung der Frommen, sie wüßten, daß sie im Herzen arge Sünder seien; den Wert von Abwehr- und Schutzmaßregeln scheinen die frommen Übungen (Gebete, Anrufungen usw.) zu haben, mit denen sie jede Tätigkeit des Tages und zumal jede außergewöhnliche Unternehmung einleiten.

Einen tieferen Einblick in den Mechanismus der Zwangsneurose gewinnt man, wenn man die ihr zugrunde liegende erste Tatsache in Würdigung zieht: diese ist allemal die Verdrängung einer Triebregung (einer Komponente des Sexualtriebes), welche in der Konstitution der Person enthalten war, im kindlichen Leben derselben sich eine Weile äußern durfte und darauf der Unterdrückung verfiel. Eine spezielle, auf die Ziele dieses Triebes gerichtete Gewissenhaftigkeit wird bei der Verdrängung desselben geschaffen, aber diese psychische Reaktionsbildung fühlt sich nicht sicher, sondern von dem im Unbewußten lauernden Triebe beständig bedroht. Der Einfluß des verdrängten Triebes wird als Versuchung empfunden, beim Prozeß der Verdrängung selbst entsteht die Angst, die sich als Erwartungsangst der Zukunft bemächtigt. Der Verdrängungsprozeß, der zur Zwangsneurose führt, ist als ein unvollkommen gelungener zu bezeichnen, der immer mehr zu mißlingen droht. Er ist daher einem nicht abzuschließenden Konflikt zu vergleichen; es werden immer neue psychische Anstrengungen erfordert, um dem konstanten Andrängen des Triebes das Gleichgewicht zu halten. Die Zeremoniell- und Zwangshandlungen entstehen so teils zur Abwehr der Versuchung, teils zum Schutze gegen das erwartete Unheil. Gegen die Versuchung scheinen die Schutzhandlungen bald nicht auszureichen; es treten dann die Verbote auf, welche die Situation der Versuchung fernelegen sollen. Verbote ersetzen Zwangshandlungen, wie man sieht, ebenso wie eine Phobie den hysterischen Anfall zu ersparen bestimmt ist. Anderseits stellt das Zeremoniell die Summe der Bedingungen dar, unter denen anderes, noch nicht absolut Verbotenes erlaubt ist, ganz ähnlich wie das kirchliche Ehezeremoniell dem Frommen die Gestattung des sonst sündhaften Sexualgenusses bedeutet. Zum Charakter der Zwangsneurose wie aller ähnlichen Affektionen gehört noch, daß ihre Äußerungen (Symptome, darunter auch die Zwangshandlungen) die Bedingung eines Kompromisses zwischen den streitenden seelischen Mächten erfüllen. Sie bringen also auch immer etwas von der Lust wieder, die sie zu verhüten bestimmt sind, dienen dem verdrängten Triebe nicht minder als den ihn verdrängenden Instanzen. Ja, mit dem Fortschritte der Krankheit nähern sich die ursprünglich eher die Abwehr besorgenden Handlungen immer mehr den verpönten Aktionen an, durch welche sich der Trieb in der Kindheit äußern durfte. Von diesen Verhältnissen wäre etwa folgendes auch auf dem Gebiete des religiösen Lebens wiederzufinden: Auch der Religionsbildung scheint die Unterdrückung, der Verzicht auf gewisse Triebregungen zugrunde zu liegen; es sind aber nicht wie bei der Neurose ausschließlich sexuelle Komponenten, sondern eigensüchtige, sozialschädliche Triebe, denen übrigens ein sexueller Beitrag meist nicht versagt ist. Das Schuldbewußtsein in der Folge der nicht erlöschenden Versuchung, die Erwartungsangst als Angst vor göttlichen Strafen sind uns ja auf religiösem Gebiete früher bekannt geworden als auf dem der Neurose. Vielleicht wegen der beigemengten sexuellen Komponenten, vielleicht infolge allgemeiner Eigenschaften der Triebe erweist sich die Triebunterdrückung auch im religiösen Leben als eine unzureichende und nicht abschließbare. Volle Rückfälle in die Sünde sind beim Frommen sogar häufiger als beim Neurotiker und begründen eine neue Art von religiösen Betätigungen, die Bußhandlungen, zu denen man in der Zwangsneurose die Gegenstücke findet.

Einen eigentümlichen und entwürdigenden Charakter der Zwangsneurose sahen wir darin, daß das Zeremoniell sich an kleine Handlungen des täglichen Lebens anschließt und sich in läppischen Vorschriften und Einschränkungen derselben äußert. Man versteht diesen auffälligen Zug in der Gestaltung des Krankheitsbildes erst, wenn man erfährt, daß der Mechanismus der psychischen Verschiebung, den ich zuerst bei der Traumbildung 3) aufgefunden, die seelischen Vorgänge der Zwangsneurose beherrscht. In den wenigen Beispielen von Zwangshandlungen ist bereits ersichtlich, wie durch eine Verschiebung vom Eigentlichen, Bedeutsamen, auf ein ersetzendes Kleines, z. B. vom Mann auf den Sessel, die Symbolik und das Detail der Ausführung zustande kommen. Diese Neigung zur Verschiebung ist es, die das Bild der Krankheitserscheinungen immer weiter abändert und es endlich dahin bringt, das scheinbar Geringfügigste zum Wichtigsten und Dringendsten zu machen. Es ist nicht zu verkennen, daß auf dem religiösen Gebiete eine ähnliche Neigung zur Verschiebung des psychischen Wertes, und zwar in gleichem Sinne, besteht, so daß allmählich das kleinliche Zeremoniell der Religionsübung zum Wesentlichen wird, welches deren Gedankeninhalt beiseite gedrängt hat. Darum unterliegen die Religionen auch ruckweise einsetzenden Reformen, welche das ursprüngliche Wertverhältnis herzustellen bemüht sind.

Der Kompromißcharakter der Zwangshandlungen als neurotischer Symptome wird an dem entsprechenden religiösen Tun am wenigsten deutlich zu erkennen sein. Und doch wird man auch an diesen Zug der Neurose gemahnt, wenn man erinnert, wie häufig alle Handlungen, welche die Religion verpönt - Äußerungen der von der Religion unterdrückten Triebe -, gerade im Namen und angeblich zugunsten der Religion vollführt werden.

Nach diesen Übereinstimmungen und Analogien könnte man sich getrauen, die Zwangsneurose als pathologisches Gegenstück zur Religionsbildung aufzufassen, die Neurose als eine individuelle Religiosität, die Religion als eine universelle Zwangsneurose zu bezeichnen. Die wesentlichste Übereinstimmung läge in dem zugrunde liegenden Verzicht auf die Betätigung von konstitutionell gegebenen Trieben; der entscheidendste Unterschied in der Natur dieser Triebe, die bei der Neurose ausschließlich sexueller, bei der Religion egoistischer Herkunft sind.

Ein fortschreitender Verzicht auf konstitutionelle Triebe, deren Betätigung dem Ich primäre Lust gewähren könnte, scheint eine der Grundlagen der menschlichen Kulturentwicklung zu sein. Ein Stück dieser Triebverdrängung wird von den Religionen geleistet, indem sie den einzelnen seine Trieblust der Gottheit zum Opfer bringen lassen. "Die Rache ist mein", spricht der Herr. An der Entwicklung der alten Religionen glaubt man zu erkennen, daß vieles, worauf der Mensch als "Frevel" verzichtet hatte, dem Gotte abgetreten und noch im Namen des Gottes erlaubt war, so daß die Überlassung an die Gottheit der Weg war, auf welchem sich der Mensch von der Herrschaft böser, sozialschädlicher Triebe befreite. Es ist darum wohl kein Zufall, daß den alten Göttern alle menschlichen Eigenschaften - mit den aus ihnen folgenden Missetaten - in uneingeschränktem Maße zugeschrieben wurden, und kein Widerspruch, daß es doch nicht erlaubt war, die eigenen Frevel durch das göttliche Beispiel zu rechtfertigen.

______________________
*) [Erstveröffentlichung: Zeitschrift für Religionspsychologie, Bd. 1 (1), 1907, S. 4-12. - Gesammelte Werke, Bd. 7, S. 129-39.]
1) Vgl. Löwenfeld (1904).
2) Vgl. Freud: Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre, Wien 1906 (3. Aufl., 1920).
3) Vgl. Freud: Die Traumdeutung (1900 a).




Zu Sigmund Freud (Wikipedia)

Sigmund Freuds Werke online

International Blasphemy Day

30. September: Internationaler Blasphemie-Tag

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Names of Gods and Goddesses, list and links

Hate speech (entry Wikipedia)

Wir leben wieder in dunklen Zeiten. Eigentlich dürfte es in keiner freien Republik einen Blasphemieparagraphen geben. Es gibt ihn aber in vielen Staaten, die sich zu den "freien" zählen. Vom Menschenrecht der freien Religionswahl pervertierte das Wertverständnis zum Schutz der Religion, die jede Kritik ahndet bzw., je nach Formulierung und Rechtsauslegung, strafbar macht. Diese Umkehrung widerspiegelt sich auch im Straftatbestand der sogenannten "hate speech", die es Beleidigten leicht macht, Strafverfolgung einzufordern.

Mit dieser Praxis wäre keine Aufkärung möglich gewesen, keine Wissenschaft, keine Pluralität. Die Befürworter dieser Praxis sind Feinde der offenen, freien Republik, der grundlegenden Bürgerrechte, der freien Meinungsäußerung bzw. der Freiheit der Wissenschaft (Forschung, Lehre, Kritik).

Der Internationale Blasphemie-Tag ist ein Tag der Trauer und Besinnung, wie in dieser schweren Zeit des Terrors die Reste der Aufklärung bewahrt werden können, um sie einstens wiederzubeleben.


Hermann Sudermanns 155. Geburtstag


Hermann Sudermann, 30.9.1857 - 21.11.1928, war ein deutscher Schriftsteller und Bühnenautor.

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Abbildung aus Wikipedia

Hermann Sudermann Stiftung













 

 



Was Nietzsche über große Menschen schrieb, die in Deutschland litten

In Zusammenhang mit dem Text von Hölderlin über die Deutschen hier einer von Nietzsche, der über die Hölderlins, Kleists, Goethes, Beethovens und Wagners spricht und, natürlich, die Deutschen:

Friedrich Nietzsche

Schopenhauer als Erzieher: § 3. (Erste Veröff. 1874)


3.


Ich mache mir aus einem Philosophen gerade so viel als er im Stande ist ein Beispiel zu geben. Dass er durch das Beispiel ganze Völker nach sich ziehen kann, ist kein Zweifel; die indische Geschichte, die beinahe die Geschichte der indischen Philosophie ist, beweist es. Aber das Beispiel muss durch das sichtbare Leben und nicht bloss durch Bücher gegeben werden, also dergestalt, wie die Philosophen Griechenlands lehrten, durch Miene, Haltung, Kleidung, Speise, Sitte mehr als durch Sprechen oder gar Schreiben. Was fehlt uns noch alles zu dieser muthigen Sichtbarkeit eines philosophischen Lebens in Deutschland; ganz allmählich befreien sich hier die Leiber, wenn die Geister längst befreit scheinen; und doch ist es nur ein Wahn, dass ein Geist frei und selbständig sei, wenn diese errungene Unumschränktheit - die im Grunde schöpferische Selbstumschränkung ist - nicht durch jeden Blick und Schritt von früh bis Abend neu bewiesen wird. Kant hielt an der Universität fest, unterwarf sich den Regierungen, blieb in dem Scheine eines religiösen Glaubens, ertrug es unter Collegen und Studenten: so ist es denn natürlich, dass sein Beispiel vor allem Universitätsprofessoren und Professorenphilosophie erzeugte. Schopenhauer macht mit den gelehrten Kasten wenig Umstände, separirt sich, erstrebt Unabhängigkeit von Staat und Gesellschaft - dies ist sein Beispiel, sein Vorbild - um hier vom Äusserlichsten auszugehen. Aber viele Grade in der Befreiung des philosophischen Lebens sind unter den Deutschen noch unbekannt und werden es nicht immer bleiben können. Unsre Künstler leben kühner und ehrlicher; und das mächtigste Beispiel, welches wir vor uns sehn, das Richard Wagners, zeigt, wie der Genius sich nicht fürchten darf, in den feindseligsten Widerspruch mit den bestehenden Formen und Ordnungen zu treten, wenn er die höhere Ordnung und Wahrheit, die in ihm lebt, an's Licht herausheben will. Die "Wahrheit" aber, von welcher unsre Professoren so viel reden, scheint freilich ein anspruchloseres Wesen zu sein, von dem keine Unordnung und Ausserordnung zu befürchten ist: ein bequemes und gemüthliches Geschöpf, welches allen bestehenden Gewalten wieder und wieder versichert, niemand solle ihrethalben irgend welche Umstände haben; man sei ja nur "reine Wissenschaft". Also: ich wollte sagen, dass die Philosophie in Deutschland es mehr und mehr zu verlernen hat, "reine Wissenschaft" zu sein: und das gerade sei das Beispiel des Menschen Schopenhauer.
Es ist aber ein Wunder und nichts Geringeres, dass er zu diesem menschlichen Beispiel heranwuchs: denn er war von aussen und von innen her durch die ungeheuersten Gefahren gleichsam umdrängt, von denen jedes schwächere Geschöpf erdrückt oder zersplittert wäre. Es gab, wie mir scheint, einen starken Anschein dafür, dass der Mensch Schopenhauer untergehen werde, um als Rest, besten Falls, "reine Wissenschaft" zurück zu lassen: aber auch dies nur besten Falls; am wahrscheinlichsten weder Mensch noch Wissenschaft.
Ein neuerer Engländer schildert die allgemeinste Gefahr ungewöhnlicher Menschen, die in einer an das Gewöhnliche gebundenen Gesellschaft leben, also: "solche fremdartige Charaktere werden anfänglich gebeugt, dann melancholisch, dann krank und zuletzt sterben sie. Ein Shelley würde in England nicht haben leben können, und eine Rasse von Shelley's würde unmöglich gewesen sein". Unsere Hölderlin und Kleist und wer nicht sonst verdarben an dieser ihrer Ungewöhnlichkeit und hielten das Clima der sogenannten deutschen Bildung nicht aus; und nur Naturen von Erz wie Beethoven, Goethe, Schopenhauer und Wagner vermögen Stand zu halten. Aber auch bei ihnen zeigt sich die Wirkung des ermüdendsten Kampfes und Krampfes an vielen Zügen und Runzeln: ihr Athem geht schwerer und ihr Ton ist leicht allzu gewaltsam. Jener geübte Diplomat, der Goethe nur überhin angesehen und gesprochen hatte, sagte zu seinen Freunden: Voilà un homme, qui a eu de grands chagrins! - was Goethe so verdeutscht hat "das ist auch einer, der sich's hat sauer werden lassen!" "Wenn sich nun in unsern Gesichtszügen, fügt er hinzu, die Spur überstandenen Leidens, durchgeführter Thätigkeit nicht auslöschen lässt, so ist es kein Wunder, wenn alles, was von uns und unserem Bestreben übrig bleibt, dieselbe Spur trägt". Und das ist Goethe, auf den unsre Bildungsphilister als auf den glücklichsten Deutschen hinzeigen, um daraus den Satz zu beweisen, dass es doch möglich sein müsse unter ihnen glücklich zu werden - mit dem Hintergedanken, dass es keinem zu verzeihen sei, wenn er sich unter ihnen unglücklich und einsam fühle. Daher haben sie sogar mit grosser Grausamkeit den Lehrsatz aufgestellt und praktisch erläutert, dass in jeder Vereinsamung immer eine geheime Schuld liege. Nun hatte der arme Schopenhauer auch so eine geheime Schuld auf dem Herzen, nämlich seine Philosophie mehr zu schätzen als seine Zeitgenossen; und dazu war er so unglücklich, gerade durch Goethe zu wissen, dass er seine Philosophie, um ihre Existenz zu retten, um jeden Preis gegen die Nichtbeachtung seiner Zeitgenossen vertheidigen müsse; denn es giebt eine Art Inquisitionscensur, in der es die Deutschen nach Goethes Urtheil weit gebracht haben; es heisst: unverbrüchliches Schweigen. Und dadurch war wenigstens so viel bereits erreicht worden, dass der grösste Theil der ersten Auflage seines Hauptwerks zu Makulatur eingestampft werden musste. Die drohende Gefahr, dass seine grosse That einfach durch Nichtbeachtung wieder ungethan werde, brachte ihn in eine schreckliche und schwer zu bändigende Unruhe; kein einziger bedeutsamer Anhänger zeigte sich. Es macht uns traurig, ihn auf der Jagd nach irgend welchen Spuren seines Bekanntwerdens zu sehen; und sein endlicher lauter und überlauter Triumph darüber, dass er jetzt wirklich gelesen werde ("legor et legar") hat etwas Schmerzlich-Ergreifendes. Gerade alle jene Züge, in denen er die Würde des Philosophen nicht merken lässt, zeigen den leidenden Menschen, welchen um seine edelsten Güter bangt; so quälte ihn die Sorge, sein kleines Vermögen zu verlieren und vielleicht seine reine und wahrhaft antike Stellung zur Philosophie nicht mehr festhalten zu können; so griff er in seinem Verlangen nach ganz vertrauenden und mitleidenden Menschen oftmals fehl, um immer wieder mit einem schwermüthigen Blicke zu seinem treuen Hunde zurückzukehren. Er war ganz und gar Einsiedler; kein einziger wirklich gleichgestimmter Freund tröstete ihn - und zwischen einem und keinem liegt hier, wie immer zwischen ichts und nichts, eine Unendlichkeit. Niemand, der wahre Freunde hat, weiss was wahre Einsamkeit ist, und ob er auch die ganze Welt um sich zu seinen Widersachern hätte. - Ach ich merke wohl, ihr wisst nicht, was Vereinsamung ist. Wo es mächtige Gesellschaften, Regierungen, Religionen, öffentliche Meinungen gegeben hat, kurz wo je eine Tyrannei war, da hat sie den einsamen Philosophen gehasst; denn die Philosophie eröffnet dem Menschen ein Asyl, wohin keine Tyrannei dringen kann, die Höhle des Innerlichen, das Labyrinth der Brust: und das ärgert die Tyrannen. Dort verbergen sich die Einsamen: aber dort auch lauert die grösste Gefahr der Einsamen. Diese Menschen, die ihre Freiheit in das Innerliche geflüchtet haben, müssen auch äusserlich leben, sichtbar werden, sich sehen lassen; sie stehen in zahllosen menschlichen Verbindungen durch Geburt, Aufenthalt, Erziehung, Vaterland, Zufall, Zudringlichkeit Anderer; ebenfalls zahllose Meinungen werden bei ihnen vorausgesetzt, einfach weil sie die herrschenden sind; jede Miene, die nicht verneint, gilt als Zustimmung; jede Handbewegung, die nicht zertrümmert, wird als Billigung gedeutet. Sie wissen, diese Einsamen und Freien im Geiste - dass sie fortwährend irgend worin anders scheinen als sie denken: während sie nichts als Wahrheit und Ehrlichkeit wollen, ist rings um sie ein Netz von Missverständnissen; und ihr heftiges Begehren kann es nicht verhindern, dass doch auf ihrem Thun ein Dunst von falschen Meinungen, von Anpassung, von halben Zugeständnissen, von schonendem Verschweigen, von irrthümlicher Ausdeutung liegen bleibt. Das sammelt eine Wolke von Melancholie auf ihrer Stirne: denn dass das Scheinen Nothwendigkeit ist, hassen solche Naturen mehr als den Tod; und eine solche andauernde Erbitterung darüber macht sie vulkanisch und bedrohlich. Von Zeit zu Zeit rächen sie sich für ihr gewaltsames Sich-Verbergen, für ihre erzwungene Zurückhaltung. Sie kommen aus ihrer Höhle heraus mit schrecklichen Mienen; ihre Worte und Thaten sind dann Explosionen, und es ist möglich, dass sie an sich selbst zu Grunde gehen. So gefährlich lebte Schopenhauer. Gerade solche Einsame bedürfen Liebe, brauchen Genossen, vor denen sie wie vor sich selbst offen und einfach sein dürfen, in deren Gegenwart der Krampf des Verschweigens und der Verstellung aufhört. Nehmt diese Genossen hinweg und ihr erzeugt eine wachsende Gefahr; Heinrich von Kleist ging an dieser Ungeliebtheit zu Grunde, und es ist das schrecklichste Gegenmittel gegen ungewöhnliche Menschen, sie dergestalt tief in sich hinein zu treiben, dass ihr Wiederherauskommen jedesmal ein vulkanischer Ausbruch wird. Doch giebt es immer wieder einen Halbgott, der es erträgt, unter so schrecklichen Bedingungen zu leben, siegreich zu leben; und wenn ihr seine einsamen Gesänge hören wollt, so hört Beethoven's Musik.
Das war die erste Gefahr, in deren Schatten Schopenhauer heranwuchs: Vereinsamung. Die zweite heisst: Verzweiflung an der Wahrheit. Diese Gefahr begleitet jeden Denker, welcher von der Kantischen Philosophie aus seinen Weg nimmt, vorausgesetzt dass er ein kräftiger und ganzer Mensch in Leiden und Begehren sei und nicht nur eine klappernde Denk- und Rechenmaschine. Nun wissen wir aber alle recht wohl, was es gerade mit dieser Voraussetzung für eine beschämende Bewandtniss hat; ja es scheint mir, als ob überhaupt nur bei den wenigsten Menschen Kant lebendig eingegriffen und Blut und Säfte umgestaltet habe. Zwar soll, wie man überall lesen kann, seit der That dieses stillen Gelehrten auf allen geistigen Gebieten eine Revolution ausgebrochen sein; aber ich kann es nicht glauben. Denn ich sehe es den Menschen nicht deutlich an, als welche vor Allem selbst revolutionirt sein müssten, bevor irgend welche ganze Gebiete es sein könnten. Sobald aber Kant anfangen sollte, eine populäre Wirkung auszuüben, so werden wir diese in der Form eines zernagenden und zerbröckelnden Skepticismus und Relativismus gewahr werden; und nur bei den thätigsten und edelsten Geistern, die es niemals im Zweifel ausgehalten haben, würde an seiner Stelle jene Erschütterung und Verzweiflung an aller Wahrheit eintreten, wie sie zum Beispiel Heinrich von Kleist als Wirkung der Kantischen Philosophie erlebte. "Vor Kurzem, schreibt er einmal in seiner ergreifenden Art, wurde ich mit der Kantischen Philosophie bekannt - und dir muss ich jetzt daraus einen Gedanken mittheilen, indem ich nicht fürchten darf, dass er dich so tief, so schmerzhaft erschüttern wird als mich. - Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist oder ob es uns nur so scheint. Ist's das Letztere, so ist die Wahrheit, die wir hier sammeln, nach dem Tode nichts mehr, und alles Bestreben, ein Eigenthum zu erwerben, das uns auch noch in das Grab folgt, ist vergeblich. - Wenn die Spitze dieses Gedankens dein Herz nicht trifft, so lächle nicht über einen andern, der sich tief in seinem heiligsten Innern davon verwundet fühlt. Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken und ich habe keines mehr." Ja, wann werden wieder die Menschen dergestalt Kleistisch-natürlich empfinden, wann lernen sie den Sinn einer Philosophie erst wieder an ihrem "heiligsten Innern" messen? Und doch ist dies erst nöthig um abzuschätzen, was uns, nach Kant, gerade Schopenhauer sein kann - der Führer nämlich, welcher aus der Höhle des skeptischen Unmuths oder der kritisirenden Entsagung hinauf zur Höhe der tragischen Betrachtung leitet, den nächtlichen Himmel mit seinen Sternen endlos über uns, und der sich selbst, als der erste, diesen Weg geführt hat. Das ist seine Grösse, dass er dem Bilde des Lebens als einem Ganzen sich gegenüberstellte, um es als Ganzes zu deuten; während die scharfsinnigsten Köpfe nicht von dem Irrthum zu befreien sind, dass man dieser Deutung näher komme, wenn man die Farben, womit, den Stoff, worauf dieses Bild gemalt ist, peinlich untersuche; vielleicht mit dem Ergebniss, es sei eine ganz intrikat gesponnene Leinewand und Farben darauf, die chemisch unergründlich seien. Man muss den Maler errathen, um das Bild zu verstehen, - das wusste Schopenhauer. Nun ist aber die ganze Zunft aller Wissenschaften darauf aus, jene Leinewand und jene Farben, aber nicht das Bild zu verstehen; ja man kann sagen, dass nur der, welcher das allgemeine Gemälde des Lebens und Daseins fest in's Auge gefasst hat, sich der einzelnen Wissenschaften ohne eigene Schädigung bedienen wird, denn ohne ein solches regulatives Gesammtbild sind sie Stricke, die nirgends an's Ende führen und unsern Lebenslauf nur noch verwirrter und labyrinthischer machen. Hierin, wie gesagt, ist Schopenhauer gross, dass er jenem Bilde nachgeht wie Hamlet dem Geiste, ohne sich abziehn zu lassen, wie Gelehrte thun, oder durch begriffliche Scholastik abgesponnen zu werden, wie es das Loos der ungebändigten Dialektiker ist. Das Studium aller Viertelsphilosophen ist nur deshalb anziehend, um zu erkennen, dass diese sofort auf die Stellen im Bau grosser Philosophien gerathen, wo das gelehrtenhafte Für und Wider, wo Grübeln, Zweifeln, Widersprechen erlaubt ist und dass sie dadurch der Forderung jeder grossen Philosophie entgehen, die als Ganzes immer nur sagt: dies ist das Bild alles Lebens, und daraus lerne den Sinn deines Lebens. Und umgekehrt: lies nur dein Leben und verstehe daraus die Hieroglyphen des allgemeinen Lebens. Und so soll auch Schopenhauers Philosophie immer zuerst ausgelegt werden: individuell, vom Einzelnen allein für sich selbst, um Einsicht in das eigne Elend und Bedürfniss, in die eigne Begrenztheit zu gewinnen, um die Gegenmittel und Tröstungen kennen zu lernen: nämlich Hinopferung des Ich's, Unterwerfung unter die edelsten Absichten, vor allem unter die der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Er lehrt uns zwischen den wirklichen und scheinbaren Beförderungen des Menschenglücks unterscheiden: wie weder Reichwerden, noch Geehrtsein, noch Gelehrtsein den Einzelnen aus seiner tiefen Verdrossenheit über den Unwerth seines Daseins heraus heben kann und wie das Streben nach diesen Gütern nur Sinn durch ein hohes und verklärendes Gesammtziel bekommt: Macht zu gewinnen, um durch sie der Physis nachzuhelfen und ein wenig Corrector ihrer Thorheiten und Ungeschicktheiten zu sein. Zunächst zwar auch für sich selbst; durch sich aber endlich für Alle. Es ist freilich ein Streben, welches tief und herzlich zur Resignation hinleitet: denn was und wie viel kann überhaupt noch verbessert werden, am Einzelnen und am Allgemeinen!
Wenden wir gerade diese Worte auf Schopenhauer an, so berühren wir die dritte und eigenthümlichste Gefahr, in der er lebte und die im ganzen Bau und Knochengerüste seines Wesens verborgen lag. Jeder Mensch pflegt in sich eine Begrenztheit vorzufinden, seiner Begabung sowohl als seines sittlichen Wollens, welche ihn mit Sehnsucht und Melancholie erfüllt; und wie er aus dem Gefühl seiner Sündhaftigkeit sich hin nach dem Heiligen sehnt, so trägt er, als intellectuelles Wesen, ein tiefes Verlangen nach dem Genius in sich. Hier ist die Wurzel aller wahren Cultur; und wenn ich unter dieser die Sehnsucht der Menschen verstehe, als Heiliger und als Genius wiedergeboren zu werden, so weiss ich, dass man nicht erst Buddhaist sein muss, um diesen Mythus zu verstehen. Wo wir Begabung ohne jene Sehnsucht finden, im Kreise der Gelehrten oder auch bei den sogenannten Gebildeten, macht sie uns Widerwille und Ekel; denn wir ahnen, dass solche Menschen, mit allem ihrem Geiste, eine werdende Cultur und die Erzeugung des Genius - das heisst das Ziel aller Cultur - nicht fördern, sondern verhindern. Es ist der Zustand einer Verhärtung, im Werthe gleich jener gewohnheitsmässigen, kalten und auf sich selbst stolzen Tugendhaftigkeit, welche auch am weitesten von der wahren Heiligkeit entfernt ist und fern hält. Schopenhauers Natur enthielt nun eine seltsame und höchst gefährliche Doppelheit. Wenige Denker haben in dem Maasse und der unvergleichlichen Bestimmtheit empfunden, dass der Genius in ihnen webt; und sein Genius verhiess ihm das Höchste - dass es keine tiefere Furche geben werde als die, welche seine Pflugschar in den Boden der neueren Menschheit reisst. So wusste er die eine Hälfte seines Wesens gesättigt und erfüllt, ohne Begierde, ihrer Kraft gewiss, so trug er mit Grösse und Würde seinen Beruf als siegreich Vollendeter. In der andern Hälfte lebte eine ungestüme Sehnsucht; wir verstehen sie, wenn wir hören dass er sich mit schmerzlichem Blicke von dem Bilde des grossen Stifters der la Trappe, Rancé, abwandte, unter den Worten: "das ist Sache der Gnade". Denn der Genius sehnt sich tiefer nach Heiligkeit, weil er von seiner Warte aus weiter und heller geschaut hat als ein andrer Mensch, hinab in die Versöhnung von Erkennen und Sein, hinein in das Reich des Friedens und des verneinten Willens, hinüber nach der andern Küste, von der die Inder sagen. Aber hier gerade ist das Wunder: wie unbegreiflich ganz und unzerbrechlich musste Schopenhauers Natur sein, wenn sie auch nicht durch diese Sehnsucht zerstört werden konnte und doch auch nicht verhärtet wurde. Was das heissen will, wird jeder nach dem Maasse dessen verstehen, was und wie viel er ist: und ganz, in aller seiner Schwere, wird es keiner von uns verstehen.
Jemehr man über die geschilderten drei Gefahren nachdenkt, um so befremdlicher bleibt es, mit welcher Rüstigkeit sich Schopenhauer gegen sie vertheidigte und wie gesund und gerade er aus dem Kampfe heraus kam. Zwar auch mit vielen Narben und offnen Wunden; und in einer Stimmung, die vielleicht etwas zu herbe, mitunter auch all zu kriegerisch erscheint. Auch über dem grössten Menschen erhebt sich sein eignes Ideal. Dass Schopenhauer ein Vorbild sein kann, das steht trotz aller jener Narben und Flecken fest. Ja man möchte sagen: das was an seinem Wesen unvollkommen und allzu menschlich war, führt uns gerade im menschlichsten Sinne in seine Nähe, denn wir sehen ihn als Leidenden und Leidensgenossen und nicht nur in der ablehnenden Hoheit des Genius.
Jene drei Gefahren der Constitution, die Schopenhauer bedrohten, bedrohen uns Alle. Ein Jeder trägt eine productive Einzigkeit in sich, als den Kern seines Wesens; und wenn er sich dieser Einzigkeit bewusst wird, erscheint um ihn ein fremdartiger Glanz, der des Ungewöhnlichen. Dies ist den Meisten etwas Unerträgliches: weil sie, wie gesagt, faul sind und weil an jener Einzigkeit eine Kette von Mühen und Lasten hängt. Es ist kein Zweifel, dass für den Ungewöhnlichen, der sich mit dieser Kette beschwert, das Leben fast Alles, was man von ihm in der Jugend ersehnt, Heiterkeit, Sicherheit, Leichtigkeit, Ehre, einbüsst; das Loos der Vereinsamung ist das Geschenk, welches ihm die Mitmenschen machen; die Wüste und die Höhle ist sofort da, er mag leben, wo er will. Nun sehe er zu, dass er sich nicht unterjochen lasse, dass er nicht gedrückt und melancholisch werde. Und deshalb mag er sich mit den Bildern guter und tapferer Kämpfer umstellen, wie Schopenhauer selbst einer war. Aber auch die zweite Gefahr, die Schopenhauern bedrohte, ist nicht ganz selten. Hier und da ist einer von Natur mit Scharfblick ausgerüstet, seine Gedanken gehen gern den dialektischen Doppelgang; wie leicht ist es, wenn er seiner Begabung unvorsichtig die Zügel schiessen lässt, dass er als Mensch zu Grunde geht und fast nur noch in der "reinen Wissenschaft" ein Gespensterleben führt: oder dass er gewohnt daran, das Für und Wider in den Dingen aufzusuchen, an der Wahrheit überhaupt irre wird und so ohne Muth und Zutrauen leben muss, verneinend, zweifelnd, annagend, unzufrieden, in halber Hoffnung, in erwarteter Enttäuschung: "es möchte kein Hund so länger leben!" Die dritte Gefahr ist die Verhärtung, im Sittlichen oder im Intellectuellen; der Mensch zerreisst das Band, welches ihn mit seinem Ideal verknüpfte; er hört auf, auf diesem oder jenem Gebiete, fruchtbar zu sein, sich fortzupflanzen, er wird im Sinne der Cultur schwächlich oder unnütz. Die Einzigkeit seines Wesens ist zum untheilbaren, unmittheilbaren Atom geworden, zum erkalteten Gestein. Und so kann einer an dieser Einzigkeit ebenso wie an der Furcht vor dieser Einzigkeit verderben, an sich selbst und im Aufgeben seiner selbst, an der Sehnsucht und an der Verhärtung: und Leben überhaupt heisst in Gefahr sein.
Ausser diesen Gefahren seiner ganzen Constitution, welchen Schopenhauer ausgesetzt gewesen wäre, er hätte nun in diesem oder jenem Jahrhundert gelebt - giebt es nun noch Gefahren, die aus seiner Zeit an ihn heran kamen; und diese Unterscheidung zwischen Constitutionsgefahren und Zeitgefahren ist wesentlich, um das Vorbildliche und Erzieherische in Schopenhauers Natur zu begreifen. Denken wir uns das Auge des Philosophen auf dem Dasein ruhend: er will dessen Werth neu festsetzen. Denn das ist die eigenthümliche Arbeit aller grossen Denker gewesen, Gesetzgeber für Maass, Münze und Gewicht der Dinge zu sein. Wie muss es ihm hinderlich werden, wenn die Menschheit, die er zunächst sieht, gerade eine schwächliche und von Würmern zerfressene Frucht ist! Wie viel muss er, um gerecht gegen das Dasein überhaupt zu sein, zu dem Unwerthe der gegenwärtigen Zeit hinzuaddiren! Wenn die Beschäftigung mit Geschichte vergangener oder fremder Völker werthvoll ist, so ist sie es am meisten für den Philosophen, der ein gerechtes Urtheil über das gesammte Menschenloos abgeben will, nicht also nur über das durchschnittliche, sondern vor allem auch über das höchste Loos, das einzelnen Menschen oder ganzen Völkern zufallen kann. Nun aber ist alles Gegenwärtige zudringlich, es wirkt und bestimmt das Auge, auch wenn der Philosoph es nicht will; und unwillkürlich wird es in der Gesammtabrechnung zu hoch taxirt sein. Deshalb muss der Philosoph seine Zeit in ihrem Unterschiede gegen andre wohl abschätzen und, indem er für sich die Gegenwart überwindet, auch in seinem Bilde, das er vom Leben giebt, die Gegenwart überwinden, nämlich unbemerkbar machen und gleichsam übermalen. Dies ist eine schwere, ja kaum lösbare Aufgabe. Das Urtheil der alten griechischen Philosophen über den Werth des Daseins besagt so viel mehr als ein modernes Urtheil, weil sie das Leben selbst in einer üppigen Vollendung vor sich und um sich hatten und weil bei ihnen nicht wie bei uns das Gefühl des Denkers sich verwirrt, in dem Zwiespalte des Wunsches nach Freiheit, Schönheit, Grösse des Lebens und des Triebes nach Wahrheit, die nur frägt: was ist das Dasein überhaupt werth? Es bleibt für alle Zeiten wichtig zu wissen, was Empedocles, inmitten der kräftigsten und überschwänglichsten Lebenslust der griechischen Cultur, über das Dasein ausgesagt hat; sein Urtheil wiegt sehr schwer, zumal ihm durch kein einziges Gegenurtheil irgend eines andern grossen Philosophen aus derselben grossen Zeit widersprochen wird. Er spricht nur am deutlichsten, aber im Grunde - nämlich wenn man seine Ohren etwas aufmacht, sagen sie alle dasselbe. Ein moderner Denker wird, wie gesagt, immer an einem unerfüllten Wunsche leiden: er wird verlangen, dass man ihm erst wieder Leben, wahres, rothes, gesundes Leben zeige, damit er dann darüber seinen Richterspruch fälle. Wenigstens für sich selbst wird er es für nöthig halten, ein lebendiger Mensch zu sein, bevor er glauben darf, ein gerechter Richter sein zu können. Hier ist der Grund, weshalb gerade die neueren Philosophen zu den mächtigsten Förderern des Lebens, des Willens zum Leben gehören, und weshalb sie sich aus ihrer ermatteten eignen Zeit nach einer Cultur, nach einer verklärten Physis sehnen. Diese Sehnsucht ist aber auch ihre Gefahr: in ihnen kämpft der Reformator des Lebens und der Philosoph, das heisst: der Richter des Lebens. Wohin sich auch der Sieg neige, es ist ein Sieg, der einen Verlust in sich schliessen wird. Und wie entging nun Schopenhauer auch dieser Gefahr?
Wenn jeder grosse Mensch auch am liebsten gerade als das ächte Kind seiner Zeit angesehen wird und jedenfalls an allen ihren Gebresten stärker und empfindlicher leidet als alle kleineren Menschen, so ist der Kampf eines solchen Grossen gegen seine Zeit scheinbar nur ein unsinniger und zerstörender Kampf gegen sich selbst. Aber eben nur scheinbar; denn in ihr bekämpft er das, was ihn hindert, gross zu sein, das bedeutet bei ihm nur: frei und ganz er selbst zu sein. Daraus folgt, dass seine Feindschaft im Grunde gerade gegen das gerichtet ist, was zwar an ihm selbst, was aber nicht eigentlich er selbst ist, nämlich gegen das unreine Durch- und Nebeneinander von Unmischbarem und ewig Unvereinbarem, gegen die falsche Anlöthung des Zeitgemässen an sein Unzeitgemässes; und endlich erweist sich das angebliche Kind der Zeit nur als Stiefkind derselben. So strebte Schopenhauer, schon von früher Jugend an, jener falschen, eiteln und unwürdigen Mutter, der Zeit, entgegen, und indem er sie gleichsam aus sich auswies, reinigte und heilte er sein Wesen und fand sich selbst in seiner ihm zugehörigen Gesundheit und Reinheit wieder. Deshalb sind die Schriften Schopenhauers als Spiegel der Zeit zu benutzen; und gewiss liegt es nicht an einem Fehler des Spiegels, wenn in ihm alles Zeitgemässe nur wie eine entstellende Krankheit sichtbar wird, als Magerkeit und Blässe, als hohles Auge und erschlaffte Mienen, als die erkennbaren Leiden jener Stiefkindschaft. Die Sehnsucht nach starker Natur, nach gesunder und einfacher Menschheit war bei ihm eine Sehnsucht nach sich selbst; und sobald er die Zeit in sich besiegt hatte, musste er auch, mit erstauntem Auge, den Genius in sich erblicken. Das Geheimniss seines Wesens war ihm jetzt enthüllt, die Absicht jener Stiefmutter Zeit, ihm diesen Genius zu verbergen, vereitelt, das Reich der verklärten Physis war entdeckt. Wenn er jetzt nun sein furchtloses Auge der Frage zuwandte: "was ist das Leben überhaupt werth?" so hatte er nicht mehr eine verworrene und abgeblasste Zeit und deren heuchlerisch unklares Leben zu verurtheilen. Er wusste es wohl, dass noch Höheres und Reineres auf dieser Erde zu finden und zu erreichen sei als solch ein zeitgemässes Leben, und dass Jeder dem Dasein bitter unrecht thue, der es nur nach dieser hässlichen Gestalt kenne und abschätze. Nein, der Genius selbst wird jetzt aufgerufen, um zu hören, ob dieser, die höchste Frucht des Lebens, vielleicht das Leben überhaupt rechtfertigen könne; der herrliche schöpferische Mensch soll auf die Frage antworten: "bejahst denn du im tiefsten Herzen dieses Dasein? Genügt es dir? Willst du sein Fürsprecher, sein Erlöser sein? Denn nur ein einziges wahrhaftiges Ja! aus deinem Munde - und das so schwer verklagte Leben soll frei sein". - Was wird er antworten? - Die Antwort des Empedocles.

Als Hölderlin unter die Deutschen kam

Friedrich Hölderlin

Hyperion

Aus dem 2. Buch


So kam ich unter die Deutschen. Ich forderte nicht viel und war gefaßt, noch weniger zu finden. Demütig kam ich, wie der heimatlose blinde Oedipus zum Tore von Athen, wo ihn der Götterhain empfing; und schöne Seelen ihm begegneten -
Wie anders ging es mir!
Barbaren von alters her, durch Fleiß und Wissenschaft und selbst durch Religion barbarischer geworden, tiefunfähig jedes göttlichen Gefühls, verdorben bis ins Mark zum Glück der heiligen Grazien, in jedem Grad der Übertreibung und der Ärmlichkeit beleidigend für jede gutgeartete Seele, dumpf und harmonielos, wie die Scherben eines weggeworfenen Gefäßes - das, mein Bellarmin! waren meine Tröster.
Es ist ein hartes Wort und dennoch sag ichs, weil es Wahrheit ist: ich kann kein Volk mir denken, das zerrißner wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen - ist das nicht, wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt untereinander liegen, indessen das vergoßne Lebensblut im Sande zerrinnt?
Ein jeder treibt das Seine, wirst du sagen, und ich sag es auch. Nur muß er es mit ganzer Seele treiben, muß nicht jede Kraft in sich ersticken, wenn sie nicht gerade sich zu seinem Titel paßt, muß nicht mit dieser kargen Angst, buchstäblich heuchlerisch das, was er heißt, nur sein, mit Ernst, mit Liebe muß er das sein, was er ist, so lebt ein Geist in seinem Tun, und ist er in ein Fach gedrückt, wo gar der Geist nicht leben darf, so stoß ers mit Verachtung weg und lerne pflügen! Deine Deutschen aber bleiben gerne beim Notwendigsten, und darum ist bei ihnen auch so viele Stümperarbeit und so wenig Freies, Echterfreuliches. Doch das wäre zu verschmerzen, müßten solche Menschen nur nicht fühllos sein für alles schöne Leben, ruhte nur nicht überall der Fluch der gottverlaßnen Unnatur auf solchem Volke. -
Die Tugenden der Alten sei'n nur glänzende Fehler, sagt' einmal, ich weiß nicht, welche böse Zunge; und es sind doch selber ihre Fehler Tugenden, denn da noch lebt' ein kindlicher, ein schöner Geist, und ohne Seele war von allem, was sie taten, nichts getan. Die Tugenden der Deutschen aber sind ein glänzend Übel und nichts weiter; denn Notwerk sind sie nur, aus feiger Angst, mit Sklavenmühe, dem wüsten Herzen abgedrungen, und lassen trostlos jede reine Seele, die von Schönem gern sich nährt, ach! die verwöhnt vom heiligen Zusammenklang in edleren Naturen, den Mißlaut nicht erträgt, der schreiend ist in all der toten Ordnung dieser Menschen.
Ich sage dir: es ist nichts Heiliges, was nicht entheiligt, nicht zum ärmlichen Behelf herabgewürdigt ist bei diesem Volk, und was selbst unter Wilden göttlichrein sich meist erhält, das treiben diese allberechnenden Barbaren, wie man so ein Handwerk treibt, und können es nicht anders, denn wo einmal ein menschlich Wesen abgerichtet ist, da dient es seinem Zweck, da sucht es seinen Nutzen, es schwärmt nicht mehr, bewahre Gott! es bleibt gesetzt, und wenn es feiert und wenn es liebt und wenn es betet und selber, wenn des Frühlings holdes Fest, wenn die Versöhnungszeit der Welt die Sorgen alle löst, und Unschuld zaubert in ein schuldig Herz, wenn von der Sonne warmem Strahle berauscht, der Sklave seine Ketten froh vergißt und von der gottbeseelten Luft besänftiget, die Menschenfeinde friedlich, wie die Kinder, sind - wenn selbst die Raupe sich beflügelt und die Biene schwärmt, so bleibt der Deutsche doch in seinem Fach und kümmert sich nicht viel ums Wetter!
Aber du wirst richten, heilige Natur! Denn, wenn sie nur bescheiden wären, diese Menschen, zum Gesetze nicht sich machten für die Bessern unter ihnen! wenn sie nur nicht lästerten, was sie nicht sind, und möchten sie doch lästern, wenn sie nur das Göttliche nicht höhnten! -
Oder ist nicht göttlich, was ihr höhnt und seellos nennt? Ist besser, denn euer Geschwätz, die Luft nicht, die ihr trinkt? der Sonne Strahlen, sind sie edler nicht, denn all ihr Klugen? der Erde Quellen und der Morgentau erfrischen euern Hain; könnt ihr auch das? ach! töten könnt ihr, aber nicht lebendig machen, wenn es die Liebe nicht tut, die nicht von euch ist, die ihr nicht erfunden. Ihr sorgt und sinnt, dem Schicksal zu entlaufen und begreift es nicht, wenn eure Kinderkunst nichts hilft; indessen wandelt harmlos droben das Gestirn. Ihr entwürdiget, ihr zerreißt, wo sie euch duldet, die geduldige Natur, doch lebt sie fort, in unendlicher Jugend, und ihren Herbst und ihren Frühling könnt ihr nicht vertreiben, ihren Aether, den verderbt ihr nicht.
O göttlich muß sie sein, weil ihr zerstören dürft, und dennoch sie nicht altert und trotz euch schön das Schöne bleibt! -
Es ist auch herzzerreißend, wenn man eure Dichter, eure Künstler sieht, und alle, die den Genius noch achten, die das Schöne lieben und es pflegen. Die Guten! Sie leben in der Welt, wie Fremdlinge im eigenen Hause, sie sind so recht, wie der Dulder Ulyß, da er in Bettlersgestalt an seiner Türe saß, indes die unverschämten Freier im Saale lärmten und fragten, wer hat uns den Landläufer gebracht? Voll Lieb und Geist und Hoffnung wachsen seine Musenjünglinge dem deutschen Volk heran; du siehst sie sieben Jahre später, und sie wandeln, wie die Schatten, still und kalt, sind, wie ein Boden, den der Feind mit Salz besäete, daß er nimmer einen Grashalm treibt; und wenn sie sprechen, wehe dem! der sie versteht, der in der stürmenden Titanenkraft, wie in ihren Proteuskünsten den Verzweiflungskampf nur sieht, den ihr gestörter schöner Geist mit den Barbaren kämpft, mit denen er zu tun hat.
Es ist auf Erden alles unvollkommen, ist das alte Lied der Deutschen. Wenn doch einmal diesen Gottverlaßnen einer sagte, daß bei ihnen nur so unvollkommen alles ist, weil sie nichts Reines unverdorben, nichts Heiliges unbetastet lassen mit den plumpen Händen, daß bei ihnen nichts gedeiht, weil sie die Wurzel des Gedeihns, die göttliche Natur nicht achten, daß bei ihnen eigentlich das Leben schal und sorgenschwer und übervoll von kalter stummer Zwietracht ist, weil sie den Genius verschmähn, der Kraft und Adel in ein menschlich Tun, und Heiterkeit ins Leiden und Lieb und Brüderschaft den Städten und den Häusern bringt.
Und darum fürchten sie auch den Tod so sehr, und leiden, um des Austernlebens willen, alle Schmach, weil Höhers sie nicht kennen, als ihr Machwerk, das sie sich gestoppelt. O Bellarmin! wo ein Volk das Schöne liebt, wo es den Genius in seinen Künstlern ehrt, da weht, wie Lebensluft, ein allgemeiner Geist, da öffnet sich der scheue Sinn, der Eigendünkel schmilzt, und fromm und groß sind alle Herzen und Helden gebiert die Begeisterung. Die Heimat aller Menschen ist bei solchem Volk und gerne mag der Fremde sich verweilen. Wo aber so beleidigt wird die göttliche Natur und ihre Künstler, ach! da ist des Lebens beste Lust hinweg, und jeder andre Stern ist besser, denn die Erde. Wüster immer, öder werden da die Menschen, die doch alle schöngeboren sind; der Knechtsinn wächst, mit ihm der grobe Mut, der Rausch wächst mit den Sorgen, und mit der Üppigkeit der Hunger und die Nahrungsangst; zum Fluche wird der Segen jedes Jahrs und alle Götter fliehn.
Und wehe dem Fremdling, der aus Liebe wandert, und zu solchem Volke kömmt, und dreifach wehe dem, der, so wie ich, von großem Schmerz getrieben, ein Bettler meiner Art, zu solchem Volke kömmt! -
Genug! du kennst mich, wirst es gut aufnehmen, Bellarmin! Ich sprach in deinem Namen auch, ich sprach für alle, die in diesem Lande sind und leiden, wie ich dort gelitten.


Samstag, 29. September 2012

Walther Rathenau (145. Geburtstag)

Walther Rathenau, 29.9,1867 - 24. 6.1922, war ein deutscher Industrieller, Schriftsteller und liberaler Politiker (DDP). Er wurde als Reichsaußenminister Opfer eines politisch motivierten Attentats der Organisation Consul.

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Abbildung aus Wikipedia









Aus: An Deutschlands Jugend (1918)

Zueignung und Aufruf

In dieser feierlichen Zeit des Abschiedes wende zu euch ich mich, Menschen der deutschen Jugend. Nie hat eine Menschheit so bewußt und verantwortungspflichtig an einer Scheide der Zeitalter gestanden. Die Stunde hält ihren Atem an, zu lang für das bangende Herz, zu kurz für das flatternde Gewissen, der Klöppel holt aus. Ist der Schlag verklungen, nach Menschenjahren, Sekunden des Äon, so stehen wir in fremder Welt und Zeit, beladen oder entsühnt, und blicken durch den Tränenschleier des Krieges nach dem entsinkenden Reiche der Gewesenheit.
Unbewußter, zweifelfreier waren die, die vor weniger als hundert Jahren durch den Nebel der Weltkriege das rosenfarbene Jahrhundert verschwimmen sahen. Die Revolution hatte ihnen eine brauntuchene bürgerliche Sicherheit gegeben, der Krieg hatte mehr geschlichtet als genommen, sie fühlten beschäftigt das Nahen von Wissenschaft, Technik und Kapital und konnten sich dem überlassen, was sie Restauration nannten, und was der häßlichste Nutzbau der übervölkerten, mechanisierungsdurstigen Welt war.
Der Bau wuchs; in den höchsten, luftigsten und frechsten Geschossen des Himmelskratzers sind wir geboren und haben wir gelebt; jetzt bricht er nieder, aus Mangel an Gerechtigkeit und organischer Kunst, die man verschmäht hatte, hineinzubauen. Er hatte kein Fundament, stand auf dem Schuttplatz der französischen Revolution, die Raum geschaffen hatte, aber keinen Baugrund. Bis in seine höchsten Zinnen, die Nationalismus und Imperialismus hießen, trug er keine Idee in sich, nur ein empirisches Gleichgewicht der Kräfte; alles was Idee hieß, rankte sich äußerlich empor und zermürbte seine Wände.
Keine neue Revolution kann uns die Arbeit erleichtern, denn die Zerstörung ist da, wir brauchen sie nicht zu rufen. Was gefordert wird, ist Arbeit, langsamer, heiliger Neubau, Dombau. Aus tiefen, geheiligten Herzen und neuem Geist. Nicht aus der Frechheit, die sagt: Laßt mich nur, ich bin schlau und vernünftig, ich will einmal versuchen. Nicht aus satter Interessiertheit, die sagt: Wir werden alles reparieren. Nicht aus Stumpfheit und bürgerlicher Blöde, die sagt: Kommt Zeit, kommt Rat.
Die Schicksalsstunde webt nicht über Schlachten und Konferenzen, Brand und Löschung, sondern über der Bauhütte, über ihren Meistern und Gesellen, dem Geheimnis ihres Grund- und Aufrisses und dem Geist ihrer Gemeinschaft. Der entscheidet die Jahrhunderte, deshalb haben wir vom Geist zu reden.
Mit euch, Deutschlands Jugend, will ich reden. Den Genossen meines Alters habe ich nicht mehr viel zu sagen. Mein Herz habe ich vor ihnen ausgeschüttet, mein Glauben und Schauen, Vertrauen und Sorgen ihnen vor die Seele gehalten. Viele haben meine Schriften gelesen, die Gelehrten, um sie zu belächeln, die Praktiker, um sie zu verspotten, die Interessenten, um sich zu entrüsten und sich ihrer eigenen Güte und Tugend zu erfreuen. Wenn warme Stimmen zu mir drangen, so kamen sie von Einsamen, von Jungen, und von denen, die nicht altern und nicht sterben.
Von den Alten habe ich nichts gewollt als Mitdenken und Mitsorgen, Prüfung, Besinnung. Nichts anderes will ich von euch. Prüft meine Worte an euren Gedanken, in euren Herzen; seid auf eurer Hut, verwerft, was euch nicht innerlich ergreift, die verbohrte Meinung, den bestechenden Einfall. Nicht ein Führer unter euch vermesse ich mich zu sein, nicht ein Berater, ich will mit euch erörtern und erwägen. Auch huldige ich euch nicht; ihr seid ein neues Geschlecht, kein anderes Volk als eure Väter, ihr seid ihnen ähnlicher, als ihr meint. Ihr seid eine Hoffnung; auch wir sind eine Hoffnung gewesen und keine Erfüllung geworden, obgleich es manche unter uns gab, die den Weg sahen und wiesen. Ich huldige auch dafür euch nicht, daß ihr in den Krieg geboren und gewachsen seid. Den Krieg haben unsere Väter verschuldet, also haben wir ihn verschuldet; den Krieg haben wir verschuldet, also habt ihr ihn verschuldet. Derer, die getötet worden sind und getötet werden sollen, gedenkt mein Herz in jeder seiner Nächte, und am heißesten umfaßt es die, denen es schwer wird, und die sich fürchten. Jeder, der mit seiner Seele in den Krieg verstrickt ist, alt oder jung, fürchtet sich und zittert, und weint Tränen, die nach innen fließen und das Herz verbrennen. Auch dafür nicht, daß ihr ungebrochen und stark, voll Anspruch und ohne Zweifel seid, huldige ich euch. In zwanzig Jahren sind eure Verwegensten alt, enttäuscht und philisterhaft, nicht um des Großen, sondern um des Kleinen willen, und es wird viel sein, wenn abermals dereinst einige aufstehen, weil sie ihr Herz warm erhalten haben, um zaghaft und überwältigt zu euren Kindern zu reden. Um des Glaubens willen an unsere deutsche Erde rede ich zu euch, um der Liebe willen zu euren Vätern, euren Kindern und am meisten zu euch, um der Hoffnung willen, die ihr seid und alle, die nach euch kommen. Denn ihr werdet das Reich betreten, das uns verwehrt ist, auf euch liegt die Verantwortung und die erste Entscheidung.
Werdet ihr mich hören? Manche von euch, die ursprünglichsten, sind sorglos, dem Denken abgewendet, mit billigem zufrieden und eng autoritär; manche, die klügsten, sitzen in ihren Schreibstuben und Preßzentralen, pochen auf ihre Vernunft und Abstraktion und warten, daß ihrer geschulten Dialektik zuliebe die Welt sich wie Sankt Hieronymus' Löwentier aufblickend zu ihren Füßen schmiege.
Verschließt ihr euch aber vor mir, so rede ich zu mir selbst und meinem Schöpfer, denn reden muß ich und darf nichts verschweigen, obwohl ich weiß, daß jedes Wort mir neuen Unfrieden schafft bei denen, die mich hassen und verfolgen. Dann werden andere kommen, helleren Geistes, reineren Herzens, edlerer Art, die Glauben erzwingen für das, was sie verkünden und was ich nur stammle. Denn das ist freilich wahr: Nichts ist in mir, das den Willen rechtfertigt, gehört zu werden, außer dem Glauben an die Seele und ihre Verwirklichung.
In mir aber ist nichts verwirklicht, und will ich zu euch reden von unseren gemeinsamen Schwächen, Trübheiten und Klärungen, so muß ich frei vor euch mich zu der Problematik bekennen, die man mir vorwirft, damit ihr ungetäuscht so hart und milde wie ihr wollt urteilt, und muß euch sagen, wer ich bin.
Ich bin ein Deutscher jüdischen Stammes. Mein Volk ist das deutsche Volk, meine Heimat ist das deutsche Land, mein Glaube der deutsche Glaube, der über den Bekenntnissen steht. Doch hat die Natur, in lächelndem Eigensinn und herrischer Güte die beiden Quellen meines alten Blutes zu schäumendem Widerstreit gemischt: den Drang zum Wirklichen, den Hang zum Geistigen. Die Jugend verging in Zweifel und Kampf, denn ich war mir des Widersinns der Gaben bewußt. Das Handeln war fruchtlos und das Denken irrig, und oftmals wünschte ich, der Wagen möchte zerschellen, wenn die feindlichen Gäule auseinanderstürmend sich ins Gebiß legten und die Arme erlahmten. Das Alter sänftigt. Noch immer ist der überschüssige Wille nicht ganz gebrochen, noch immer stehe ich im praktischen Handeln, doch nicht um eigener Ziele willen. Und manchmal scheint es mir, als sei aus diesem Handeln auch etwas in meinem Denken befruchtet worden, als habe die Natur mit mir den Versuch vorgehabt, wie weit betrachtendes und wollendes Leben sich durchdringen können. Ein Zeichen des Friedens wurde mir gegeben. Als ich zum ersten- und zum letztenmal, nicht freiwillig, sondern von Not gezwungen, mich den Getrieben des Staates näherte, da wurde durch das geringe Werkzeug meines Kopfes und meiner Hände vom deutschen Willen aus einem Gusse eines vollbracht, das sonst nicht im Schaffen eines Einzelnen beschlossen ist: die bewußte Schöpfung einer neuen Wirtschaftsordnung, die nicht vergehen kann und alle künftigen Wirtschaftsformen in ihrem Schoße trägt. Das war wohl die sichtbare Frucht, die der alternde Stamm nach auferlegtem Willen tragen durfte; nun schüttet er die verspäteten Knospen und Blätter in euren Schoß.
Grund meines Redens ist nicht der Krieg, sondern der geistige Niederbruch, den er offenbart, nicht die Furchtbarkeit dessen, was ist, sondern dessen, was war und was bevorsteht. Die Stumpfesten glauben ein Gewitter zu sehen, kurz und heftig meinten sie zuerst, heftig und absehbar meinen sie jetzt, und denken bald wieder da anzufangen, wo sie aufgehört haben, am liebsten möchten sie ihn als Mittel betrachten, um einige ihrer alten Zwecke zu erreichen.
Andere trösten sich mit einer Theorie wirtschaftlicher Evolutionen: immer haben Kriege die Übergänge der Wirtschaftsformen begleitet, dieser ist größer, doch nichts anderes; wir werden den Endzustand erwarten und versuchen, ihn nach unserem Willen zu lenken. Sie haben nur zur Hälfte Unrecht, denn dieser ist wahrhaft der Weltbrand des europäischen Sozialgebäudes, das nie wieder erstehen wird. Doch ist nicht jede Brandstätte ein Baugrund, manche ist wüst geblieben und manche zur Spukstätte für Gespenster und Gesindel geworden.
Die wenigen, die das Ereignis kommen sahen, so wie es ist, nicht als mannhaften Zweikampf, nicht als frisch-fröhlichen Reiterkrieg, sondern als Weltgericht: diese wenigen haben es verkündet, nicht als politisch-wirtschaftliche, sondern als sittliche Notwendigkeit, als Blutgericht, um zum letztenmal die Seele und das Gewissen, die Würde und Gerechtigkeit der westlichen Welt zu wecken und zu retten.
Wir gingen zugrunde mit aller Üppigkeit der Technik und mit dem verruchten Stolze unseres banalen Wissens; und wir gehen weiter und unaufhaltsam zugrunde, mit und trotz und wegen aller Opfer, so wir nicht begreifen und uns ermannen.
Noch jetzt, im fünften Jahr, sind die Nationen nicht fertig, ihre Kriegsgründe, Kriegsursachen und Kriegsziele zu erklügeln – freilich, sie wissen sie nicht und werden sie nicht wissen! – Weltanschauungen zu erdichten und zu ertüfteln, die sie nicht haben, Charaktere einander vorzuwerfen, die sie aus Zeitungen oder von mißvergnügten Reisenden erlernt haben. Noch heute beschimpfen sich Staatsleute und strafen sich Lügen, und deuteln an ihren Forderungen. Nüchterne Polizeiideale werden angepriesen, kapitaldurstige Kreuzzüge werden gepredigt, unüberzeugte Gerechtigkeiten werden gefordert. Und im Innern der Völker blüht Kriegswucher, Geschwätz und Roheit, während treuherzige Jugend an den Fronten verblutet.
Was sind alle Zerstörungen und leiblichen Opfer verglichen mit den Zuckungen und Verzerrungen des europäischen Geistes? Dies Leiden ist nicht dem Kriege entsprungen, es lag in uns, und was wir schaudernd sehen und fühlen, ist nur der Paroxysmus des Ausbruchs. Und diese Krankheit geht nicht mit dem Kriege, nicht durch den Krieg zu Ende; in erneuten Schreckensformen, mit inneren Giften und Zersetzungen zehrt sie weiter bis zur tödlichen Erschöpfung. Die Geisteskrankheit, der sittliche Wahnsinn Europas ist heilbar nur durch die Macht des Gewissens, die Gewalt der Umkehr und Einkehr. Die nüchterne Wirtschaftsrechnung verschlägt nichts, sie mag den Apotheker bezahlen.
Ist uns Rettung bestimmt, so dringt sie aus unseren Tiefen. Kein Staatsmann kann helfen, kein Staatsakt, keine Änderung der Einrichtungen. Denn wäre selbst alles aufs beste geschaffen und bestimmt, es zerschellte und zersplitterte am Wust der Interessen, an der Überzeugungslosigkeit, an der Indolenz, an der geistreichen Tüftelei, am falschen, eitlen Individualismus, und sänke zurück ins Chaos. Wurstelei und Gewaltherrschaft sind die einzigen Formen, die den anarchischen Körper im Scheindasein erhalten können, und beide ertöten vollends den Geist.
Dies ist die Frage, die dir, deutsche Jugend, gestellt ist: Kannst du noch einmal den deutschen Geist zur Einheit der Überzeugung, zur Treue der Weltanschauung aufrufen? Es sei nicht die heilige Einheit des Mittelalters, die bleibt uns verloren; es sei eine vielfältige Kraft, doch darin einig, daß sie das Geistige über das Irdische stellt. Dann mag sie vielspältig, mag sie vom Glauben aller Welt verschieden sein, denn zwischen echten Anschauungen gibt es zwar keinen Frieden, doch keinen tötenden Haß und jederzeit die wölbende Synthese. Kannst du Menschen finden und sammeln? Nicht Heilige, nicht Genien, doch Geistige, Aufrechte, frei und weit Blickende, Würdevolle, Spendende, Innerliche, Wirkende; nicht Umhüllte von Interessen, Standesverblendung, Seichtheit, Streberei, Phrase, Liebedienerei, eitler Geschäftigkeit? Denn vergiß nicht: Wäre ein deutsches Paradies auf Erden verwirklicht, wir hätten heute die Menschen nicht, es zu verwalten. Blicke um dich, auf diese Parlamente, diese Ämter, diese Akademien –, überall der gleiche Ton, die gleiche Redensart, die gleiche mechanisierte Sicherheit, bestenfalls hier und da ein wenig weltfremde, spintisierende Grübelei, und nirgends ein Mensch, der auch nur von ferne den alten mannhaft Großen gleicht in allen diesen redenden und schaustellenden Berufen. Die Besten des Landes sind einsam an ihren stillen Werken, einseitig, aufgezehrt, gealtert, dem Treiben abhold. Wir alle müssen abtreten, zurück in Finsternis und Vergessenheit; wir haben das Unsere nicht getan, wir sind nicht die Rechten.
Unter denen, die weitab, hilflos, ihrer Unzulänglichkeit bewußt, der Wende unwürdig das Geschick sich erfüllen sahen, habe auch ich meine Stimme erhoben, das Drohende ausgesprochen, das Geschehene gedeutet und das Kommende dargestellt. Was die Zukunft fordert und dereinst erzwingen wird, die Änderung von Einrichtungen und Gesinnung, den wirtschaftlichen und sozialen Ausgleich, die Durchgeistigung und Versittlichung der Wirtschaft habe ich geschildert und die Vollendung irdischer Ordnung im Reich der Seele. Unverbrüchlich glaube ich an diese Dinge, denn sie sind im Anzuge, ja sie sind unsichtbares Schicksal geworden, denn sie sind erschaut, ausgesprochen, erhört und somit im Geiste verwirklicht.
Doch die Liebe zur Heimat überwiegt alles und verlangt, die kommende Gerechtigkeit und Adelung möchte als ein Werk deutschen Geistes, als ein Geschenk deutschen Herzens an die Völker in die Welt treten, Deutschland möchte nicht zag, spät und verdrossen dem Weltlauf folgen, Deutschland möchte den Anspruch auf Führung und Verantwortung, also den Anspruch auf eigenes Leben nicht mürrisch und verbittert jüngeren Völkern preisgeben, um sich, so lange es geht, feindselig alternd hinter trockenen Rechten und böser Gewalt zu verschanzen.
Und abermals werde ich mutlos und frage: Wo sind die Menschen? Wo sind in dieser Zerfahrenheit der Interessen, der Stumpfheit, der selbstverliebten Geschwätzigkeit, in dieser Unklarheit der Wertungen, in der prüfungslosen Verbohrtheit der Standesmeinungen, in der Verfilzung der Staatseinrichtungen – wo sind noch Ansätze möglich für die Keimkräfte des neuen, reinen, freien Lebens? Kann es außerhalb einer politisch beeinflußten Tagesmeinung überhaupt noch eine geistige deutsche Überzeugung geben? Wenn deutsche Gedanken entständen, wirkliche Gedanken des Geistes und Herzens, Ideen, nicht Forderungen alltäglicher Nützlichkeit noch gehässiger Zeitungs- und Versammlungsdunst –, können solche Gedanken in Deutschland noch Träger und Verwirklicher finden? Ist unser Volk einer nicht bloß herkömmlichen, nicht bloß interessierten, nicht bloß agitatorischen Anschauung noch fähig? Was sind überhaupt die Voraussetzungen für die Möglichkeit einer deutschen Anschauung? Und sind sie verwirklichbar?
Die erste Prüfung endet freilich schlimm. In keinem Lande der Erde wird soviel wie bei uns von Anschauung, Weltanschauung, Kultur und Ideal geredet. Das kommt daher, daß wir in der vormechanistischen Epoche eine wundervolle Blüte des Geistes erlebt haben. Das war in einem kleinen, in den Tiefen kaum emanzipierten Volke mit einer Schicht von knapp fünftausend Gebildeten, einem Volk also, das eigentlich nur aus sichtbarem Geist bestand, oder in dem nur der engverschwisterte, uninteressierte Geist das Wort hatte. In den letzten drei Menschenaltern war die Zahl und Kraft der idealistischen Geister so gering, daß es zweifelhaft erscheint, ob unsere wissenschaftliche, technische und organisatorische Zivilisation noch den Namen einer Kultur verdient.
Als wir in den Krieg zogen, fragten uns die Neutralen nach der Weltanschauung und den Idealen, für die wir kämpften. Wir erklärten ihnen, unsere Feinde seien Händler, wir aber verträten eine heldenhafte Weltanschauung, wobei denn freilich der ganze bei uns herrschende Kapitalismus abgeschaltet werden mußte, der technisch-organisatorische Teil der Kriegführung im Dunkel blieb, und die Gegenfrage abgelehnt wurde, wieweit wir Kellner, Barbiere und Handlungsreisende, die in unserem Namen die Welt versorgten, in das Heldenideal einzubeziehen wünschten.
Dann haben uns Gelehrte ein Ideal der deutschen Freiheit beschieden, das weniger eine Freiheit als eine sympathische Unfreiheit war, das auffällig mit den herrschenden Zuständen übereinstimmte und im Kern auf einen Lobpreis der Professorenlaufbahn hinauslief.
Auch das altliberale Bürgerideal hat man uns anzupreisen versucht, mit schüchterner Loslösung von seinem englisch-französischen Ursprung, das gern auf demokratische Ausgelassenheit verzichtet, sofern es einem jeden freisteht, ungestört und unbekümmert vom Nächsten und vom Staat, seinem förderlichen Beruf nachzugehen.
Die sogenannten Machtideale bedürfen keiner Erwähnung. Sie passen auf jeden, der die Mittel zu haben glaubt oder sucht, um sich auf Kosten anderer Vorteile zu schaffen.
Nun ist es von Weltanschauungen stiller geworden, und wir beschäftigen uns wieder vorwiegend mit Interessen und Tagesfragen. Wo sind die deutschen Ideale, wo sind ihre Träger?
Wir haben sieben Millionen Arbeiter, die zum großen Teil von Schulagitatoren geführt werden. Wir haben acht Millionen unselbständige in der Landwirtschaft Beschäftigte, die sich nicht organisieren dürfen und nicht Träger eigener Gedanken sind. Wir haben zwei bureaukratisch geordnete Kirchen, die dem Austretenden mit Minderung bürgerlicher Rechte drohen dürfen. Wir haben die Stände der Interessierten, die mit der Dialektisierung ihrer Gewerbe befaßt sind. Wir haben eine Beamtenkaste auf Grund eines Gesinnungsnachweises. Wir haben einen selbständigen Mittelstand, der nach den Gründen seines Niederganges sucht. Wir haben ein Großbürgertum, das nach Beziehungen und Beförderungen lechzt. Wir haben einen staatsbeamteten Gelehrtenstand, der zur Verteidigung alles Bestehenden erzogen ist. Wir haben Interessenvertreter und Ortsgrößen, die im politischen Leben stehen und ihre Wünsche und Kritiken mit denen ihrer Auftraggeber in Übereinstimmung zu bringen suchen.
Und dennoch! Solange noch Selbstbewußtsein und Willenskraft in uns ist, lieber in tätigem Glauben und edlem Irrtum vergehen als in kranker Resignation und galliger Verneinung leben. Abermals rufe ich zu dir, deutsche Jugend! Noch haben dich die Kleinheiten des Lebens nicht zermürbt, die wütenden Interessen und giftigen Händel dich nicht verfeindet, ein großes Schicksal hat dich verschmolzen und geläutert, hilf die Quellen des schmachtenden Landes erschließen.
Laßt uns diesen einen Gang gemeinsam gehen. Laßt uns durch die Öde des Zweifels schreiten, laßt uns an das Tor des Glaubens pochen, laßt uns das Schicksal unserer Prüfung befragen und unserer eigenen Seele tief ins Antlitz blicken, und glaubt mir, wir kehren nicht entmutigt heim. Müßten wir auch ein schweres Teil der Völkerschuld auf uns selbst nehmen, müßten wir tiefe Sühne und Einkehr von uns selbst verlangen: Laßt uns hart sein aus Liebe und arg aus Treue. Lassen wir anderen das Behagen der Beschönigung und des Selbstlobes, das seit vier Jahren zur schamlosen Pest der Völker geworden ist, und suchen wir den Weg zur alten Wahrhaftigkeit und Furchtlosigkeit, die unser vornehmstes Erbteil war.
Mag unser Gang beklemmend sein, mag er uns zeigen, wie fern wir dem Lande unserer Verheißung sind, genug, wenn wir heimkehren mit der Botschaft, daß unser Schicksal bei uns selbst steht, daß wir inne geworden sind dessen, was uns von neuer Geistigkeit, von innerer Wiedergeburt und Weltverantwortung trennt.
Was trennt, kann sinken. Den Kampf, den wir kämpfen, und den härteren, den wir kämpfen werden, beendet nur ein Sieg: der Sieg der Einkehr. Und die Nation wird ihn erstreiten, die ihrer eigenen Seele entgegentritt und sie zum Phönixopfer weiht.



Emile Zolas 110. Todestag

Émile François Zola, 2. 4.1840 - 29.9.1902, war ein französischer Schriftsteller und Journalist.

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Henri Guillemin (* 19. März 1903 in Mâcon; † 4. Mai 1992 in Neuenburg) war ein französischer Historiker und Literaturwissenschaftler.
Er besuchte erst die Schulen in Mâcon, dann von 1923 bis 1927 die École normale supérieure in der Pariser Rue d’Ulm, unter anderem mit Raymond Aron, Jean Guitton, Paul Nizan und Jean-Paul Sartre. Gleichzeitig war er als Sekretär für die linkskatholische Bewegung Le Sillon von Marc Sangnier tätig. Mit vielen Anhängern des Renouveau catholique war er befreundet, besonders mit François Mauriac. Sartre bot ihm später mit seiner Zeitschrift Les Temps Modernes ein Forum für seine meist nonkonformistischen Gedanken. (Aus: Wikipedia)



Miguel de Cervantes' 465. Geburtstag

Miguel de Cervantes Saavedra,  vermutlich 29. 9.1547 - 23. 4.1616, war ein spanischer Schriftsteller. Der Autor des Don Quijote gilt als Spaniens Nationaldichter.

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Dienstag, 25. September 2012

Glenn Goulds 80. Geburtstag

Glenn Herbert Gould,  25.9.1932 - 4.10.1982, war ein kanadischer Pianist, Komponist, Organist und Musikautor.

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Er macht nicht nur Erstaunen, er rührt zu Tränen - der Freude.


Freitag, 21. September 2012

Walter Scotts 180. Todestag

Sir Walter Scott, 1. Baronet von Abbotsford, 15.8.1771 - 21.9.1832, schottischer Dichter und Schriftsteller, war einer der – nicht nur in Europa – meistgelesenen Autoren seiner Zeit. Viele seiner historischen Romane sind Klassiker geworden und haben als Vorlage für zahlreiche Schauspiele, Opern und Filme gedient.

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Johann Peter Eckermanns 220. Geburtstag

Johann Peter Eckermann,  21.9.1792 - 3.12.1854, war ein deutscher Dichter und enger Vertrauter Goethes.

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Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
   
Vorrede


Diese Sammlung von Unterhaltungen und Gesprächen mit Goethe ist größtenteils aus dem mir inwohnenden Naturtriebe entstanden, irgendein Erlebtes, das mir wert oder merkwürdig erscheint, durch schriftliche Auffassung mir anzueignen.

Zudem war ich immerfort der Belehrung bedürftig, sowohl als ich zuerst mit jenem außerordentlichen Manne zusammentraf, als auch nachdem ich bereits jahrelang mit ihm gelebt hatte, und ich ergriff gerne den Inhalt seiner Worte und notierte ihn mir, um ihn für mein ferneres Leben zu besitzen.

Wenn ich aber die reiche Fülle seiner Äußerungen bedenke, die während eines Zeitraumes von neun Jahren mich beglückten, und nun das Wenige betrachte, das mir davon schriftlich aufzufassen gelungen ist, so komme ich mir vor wie ein Kind, das den erquicklichen Frühlingsregen in offenen Händen aufzufangen bemüht ist, dem aber das meiste durch die Finger läuft.

Doch wie man zu sagen pflegt, daß Bücher ihre Schicksale haben, und wie dieses Wort ebensowohl auf ihr Entstehen als auf ihr späteres Hinaustreten in die weite und breite Welt anzuwenden ist, so dürfte es auch von der Entstehung des gegenwärtigen Buches gelten. Monate vergingen oft, wo die Gestirne ungünstig standen, und wo Unbefinden, Geschäfte und mancherlei Bemühungen um die tägliche Existenz keine Zeile aufkommen ließen; dann aber traten wieder günstige Sterne ein, und es vereinigten sich Wohlsein, Muße und Lust zu schreiben, um wieder einen erfreulichen Schritt vorwärts zu tun. Und dann, wo tritt bei einem längeren Zusammenleben nicht mitunter einige Gleichgültigkeit ein, und wo wäre derjenige, der die Gegenwart immer so zu schätzen wüßte, wie sie es verdiente!

Dieses alles erwähne ich besonders aus dem Grunde, um die manchen bedeutenden Lücken zu entschuldigen, die der Leser finden wird, im Fall er etwa so geneigt sein sollte, das Datum zu verfolgen. In solche Lücken fällt manches unterlassene Gute sowie besonders manches günstige Wort, was Goethe über seine weitverbreiteten Freunde sowie über die Werke dieses oder jenes lebenden deutschen Autors gesagt hat, während sich anderes ähnlicher Art notiert findet. Doch wie gesagt: Bücher haben ihre Schicksale schon während sie entstehen.

Übrigens erkenne ich dasjenige, was in diesen Bänden mir gelungen ist zu meinem Eigentum zu machen, und was ich gewissermaßen als den Schmuck meines Lebens zu betrachten habe, mit innigem Dank gegen eine höhere Fügung; ja ich habe sogar eine gewisse Zuversicht, daß auch die Welt mir diese Mitteilung danken werde.

Ich halte dafür, daß diese Gespräche für Leben, Kunst und Wissenschaft nicht allein manche Aufklärung und manche unschätzbare Lehre enthalten, sondern daß diese unmittelbaren Skizzen nach dem Leben auch ganz besonders dazu beitragen werden, das Bild zu vollenden, was man von Goethe aus seinen mannigfaltigen Werken bereits in sich tragen mag.

Weit entfernt aber bin ich auch wiederum, zu glauben, daß hiemit nun der ganze innere Goethe gezeichnet sei. Man kann diesen außerordentlichen Geist und Menschen mit Recht einem vielseitigen Diamanten vergleichen, der nach jeder Richtung hin eine andere Farbe spiegelt. Und wie er nun in verschiedenen Verhältnissen und zu verschiedenen Personen ein anderer war, so kann ich auch in meinem Falle nur in ganz bescheidenem Sinne sagen: dies ist mein Goethe.

Und dieses Wort dürfte nicht bloß davon gelten, wie er sich mir darbot, sondern besonders auch davon, wie ich ihn auf zufassen und wiederzugeben fähig war. Es geht in solchen Fällen eine Spiegelung vor, und es ist sehr selten, daß bei dem Durchgange durch ein anderes Individuum nichts Eigentümliches verloren gehe und nichts Fremdartiges sich heimische. Die körperlichen Bildnisse Goethes von Rauch, Dawe, Stieler und David sind alle in hohem Grade wahr, und doch tragen sie alle mehr oder weniger das Gepräge der Individualität, die sie hervorbrachte. Und wie nun ein solches schon von körperlichen Dingen zu sagen ist, um wie viel mehr wird es von flüchtigen, untastbaren Dingen des Geistes gelten! Wie dem nun aber in meinem Falle auch sei, so werden alle diejenigen, denen aus geistiger Macht oder aus persönlichem Umgange mit Goethe ein Urteil dieses Gegenstandes zusteht, mein Streben nach möglichstes Treue hoffentlich nicht verkennen.

Nach diesen größtenteils die Auffassung des Gegenstandes betreffenden Andeutungen bleibt mir über des Werkes Inhalt selber noch folgendes zu sagen.

Dasjenige, was man das Wahre nennt, selbst in betreff eines einzigen Gegenstandes, ist keineswegs etwas Kleines, Enges, Beschränktes; vielmehr ist es, wenn auch etwas Einfaches, doch zugleich etwas Umfangreiches, das, gleich den mannigfaltigen Offenbarungen eines weit- und tiefgreifenden Naturgesetzes, nicht so leicht zu sagen ist. Es ist nicht abzutun durch Spruch, auch nicht durch Spruch und Spruch, auch nicht durch Spruch und Widerspruch, sondern man gelangt durch alles dieses zusammen erst zu Approximationen, geschweige zum Ziele selber.

So, um nur ein Beispiel anzuführen, tragen Goethes einzelne Äußerungen über Poesie oft den Schein der Einseitigkeit und oft sogar den Schein offenbarer Widersprüche. Bald legt er alles Gewicht auf den Stoff, welchen die Welt gibt, bald alles auf das Innere des Dichters; bald soll alles Heil im Gegenstande liegen, bald alles in der Behandlung; bald soll es von einer vollendeten Form kommen, bald, mit Vernachlässigung aller Form, alles vom Geiste.

Alle diese Aus- und Widersprüche aber sind sämtlich einzelne Seiten des Wahren und bezeichnen zusammen das Wesen und führen zur Annäherung der Wahrheit selber, und ich habe mich daher sowohl in diesen als ähnlichen Fällen wohl gehütet, dergleichen scheinbare Widersprüche, wie sie durch verschiedenartige Anlässe und den Verlauf ungleicher Jahre und Stunden hervorgerufen worden, bei dieser Herausgabe zu unterdrücken. Ich vertraue dabei auf die Einsicht und Übersicht des gebildeten Lesers, der sich durch etwas Einzelnes nicht irren lassen, sondern das Ganze im Auge halten und alles gehörig zurechtlegen und vereinigen werde.

Ebenso wird man vielleicht auf manches stoßen, was beim ersten Anblick den Schein des Unbedeutenden hat. Sollte man aber tiefer blickend bemerken, daß solche unbedeutende Anlässe oft Träger von etwas Bedeutendem sind, auch oft etwas Spätervorkommendes begründen, oder auch dazu beitragen irgendeinen kleinen Zug zur Charakterzeichnung hinzuzutun, so dürften sie, als eine Art von Notwendigkeit, wo nicht geheiliget, doch entschuldiget werden.

Und somit sage ich nun diesem lange gehegten Buche zu seinem Hinaustritt in die Welt das beste Lebewohl, und wünsche ihm das Glück, angenehm zu sein und mancherlei Gutes anzuregen und zu verbreiten.

Weimar, den 31. Oktober 1835.