Die Freiheit der Interpretation
Stalinisten, die Puschkin lesen, neben Gorki auch Tolstoi, Nazis die ergriffen Bach, Mozart oder Beethoven lauschen, auch wenn auf ihren Bühnen nicht Fidelio gebracht wird...
Werke gehören der Allgemeinheit und sind nicht reserviert für Auserwählte. Der freie Zugang erlaubt auch jenen, die die Freiheit zerstör(t)en, die Reproduktion, die Interpretation.
Woran soll eine „Schändung“ bemessen werden? Zur falschen Zeit, an falschem Ort von falschen Menschen? Welches sind die richtigen, korrekten Zeiten, Orte und Menschen, die dieses oder jenes wiedergeben dürfen?
Missbrauch! Ist die Vergewaltigung durch die Kulturindustrie von geringerem Übel als der offensichtlichere durch Gewaltmenschen diktatorischer Regimes? Wie tief reicht der Abgrund? Und welchen Schaden fügt er dem missbrauchten Werk zu?
Kehrseite: Aufwertung durch Gesinnung, durch den historischen Kontext. Welchen Qualitätskriterien hält solches Urteilen stand?
„Der Tod fürs Vaterland“ des letzten deutschen Jakobiners Friedrich Hölderlin. Die Politisierung Hölderlins, der lange Zeit als Schwärmer, Träumer, Umnachteter gehandelt wurde, setzte in den späten Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts ein. Aber die Indienstnahme durch die Nazis war auch schon eine Politisierung. Eine, der man sich ungern erinnert. Damals die Nazis, später Peter Weiss und die Linken. Gepasst hat es immer im entsprechenden Kontext. Dann aber gilt das auch für das esoterische Lesen und Deuten. Es gibt keine allgemeingültigen, verbindlichen Deutungen. Es gibt nur plausible oder plausiblere.
Sind Gedichte des jetzt in Den Haag angeklagten Kriegsverbrechers Radovan Karadžić zu negieren? Dürfen sie nicht gelesen und vielleicht sogar als literarisch gut befunden werden? Wird der Wert von Lyrik an der Person und ihrem Verhalten gemessen? MUSS danach bemessen werden? Welche Werke müsste man dann aber aus dem Verkehr ziehen, weil ihre Autoren Kinderschänder, Frauenprügler, Säufer, Drogenabhängige, Vergewaltiger, unverantwortliche Väter, betrügerische Mafiosi, verbrecherische Asoziale, haltlose Labile, gemeine Diebe waren?
In Youtube hat jemand einen Filmausschnitt aus einem Nazifilm gestellt, in dem aus einem Hölderlingedicht (Der Tod fürs Vaterland) zitiert wird.
Friedrich Hölderlin
Der Tod fürs Vaterland
Du kömmst, o Schlacht! schon wogen die Jünglinge Hinab von ihren Hügeln, hinab ins Tal, Wo keck herauf die Würger dringen, Sicher der Kunst und des Arms, doch sichrer Denn die Gerechten schlagen, wie Zauberer, Und ihre Vaterlandsgesänge Lähmen die Kniee den Ehrelosen. O nehmt mich, nehmt mich mit in die Reihen auf, Damit ich einst nicht sterbe gemeinen Tods! Umsonst zu sterben, lieb ich nicht, doch Lieb ich, zu fallen am Opferhügel! Fürs Vaterland, zu bluten des Herzens Blut Fürs Vaterland – und bald ists geschehn! Zu euch, Ihr Teuern! komm ich, die mich leben Lehrten und sterben, zu euch hinunter! Wie oft im Lichte dürstet' ich euch zu sehn, Ihr Helden und ihr Dichter aus alter Zeit! Nun grüßt ihr freundlich den geringen Fremdling, und brüderlich ists hier unten; Und Siegesboten kommen herab: Die Schlacht Ist unser! Lebe droben, o Vaterland, Und zähle nicht die Toten! Dir ist, Liebes! nicht Einer zu viel gefallen. Hier das Video (Stukas: Holderlin Poem "Der Tod fürs Vaterland" as Nazi propaganda): Dass nichts nur EINES ist, sondern alles oder jedes mehrere Seiten oder Aspekte hat, mindestens eine "Kehrseite", ist eigentlich bekannt, wird aber oft übersehen. Zur Doppel- oder Mehrseitigkeit, ja Mehrdimensionalität, auch im Bereich der Sprache oder der Künste, findet sich bei George Steiner eine Bemerkung in seinem Buch "Real Presences": ""In words, as in particle physics, there is matter and anti-matter. There is construction and annihilation. Parents and children, men and women, when facing each other in exchange of speech, are at ultimate risk. One word can cripple a human relation, can do dirt on hope. The knives of saying cut deepest. Yet the identical instrument, lexical, syntactic, semantic, is that of revelation, of ecstasy, of the wonder of understanding that is communion. Reciprocally, speech that can articulate the ethics of Socrates, the parables of Christ, the master-building of being in Shakespeare or Hölderlin, can, by exactly the same virtue of unconstrained potentiality, blueprint and legislate the death camps and chronicle the torture chamber. The mountebank's virtuosity with words of a Hitler is anti-matter, it realizes a counter-Logos which conceptualizes and then enacts the deconstruction of the humane." (pp.58f) |
Die Dichtung erleidet keinen Schaden. Wenn das so einfach und fix wäre, könnte man alles Hochwertige entwerten, indem Unmenschen kundtun, wie sehr sie das auch schätzen, lesen, hören, spielen usw. - und aus wäre es! Aber dankenswerterweise nehmen die Werke nichts an von dieser oder jener Seite der Rezeption und Interpretation. Das gilt eher für die Rezipienten, die sich leicht täuschen lassen, die kurz rückschließen und meinen, wenn das einem Naz, Stalinisten oder Islamisten gefallen hat oder gefällt, dann DARF es mir NICHT (mehr) gefallen. Ein klassischer Fall von negativer Konterdependenz.
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