Unabhängig davon, dass es mehr Lyrikerinnen und Lyriker gibt als Leser (viele Lyriker lesen keine andere Lyrik als ihre eigene!), dass allgemein beklagt wird, wie gering die Publikationsmöglichkeiten sind etc., fällt auf, dass doch beurteilt, kritisiert und gelobt wird. Gut so. Aber wie wird argumentiert? Wonach wird bemessen, bewertet?
In Gesprächen mit einigen Autoren habe ich keine allgemeinen Kriterien herausgehört. In der Lyrik gelten weder die Grammatikregeln, noch die der passenden oder schiefen Metapher. Alles ist möglich. Anything goes. Die grenzenlose Freiheit verbietet ein Festlegen, ein Fordern, ein Bewerten. Es scheint nur noch das Geschmacksurteil möglich, die bloße Annahme oder Ablehnung. Wie beim Glauben: Man kann nicht argumentieren, nur gläubig sein oder ungläubig.
Es gibt zwar Plausibilitäten, Zeitbezüge, Trefflichkeit, Kürze und Würze, Düsternis und bedeutungsschwangere Schwere. Aber ein Test beweist, dass alles, wirklich alles, so oder so deutbar wird oder ist, und deshalb Auf- oder Abwertungen sich zum persönlichen Ausdruck verdünnen, der darüber hinaus keinerlei Bedeutung aufweist. Jemand anderer kann das erhellend finden oder völlig daneben, falsch oder sonst etwas. Es gibt keine Verbindlichkeiten.
Liest man Lyrikkritiken genauer nach, scheinen sie mehr über die Rezensentin auszusagen, als über das Besprochene. In einem Test habe ich in den Medien mehrheitlich gepriesene Autoren und ihre lyrischen Produktionen lesen und bewerten lassen: Es zeigt sich, dass es fast keine Deckung der Urteile gibt. Es scheint, die Bewertungen sind so verschieden wie es Leser und Meinende sind. Die Bewertung ist zur Meinungssache geworden.
Die Meinung ist frei. Klar. Das Denken ist frei. Die Lyrik ist frei. Was soll man noch dazu sagen? Jemand verreißt etwas, jemand anderer lobt es. Beides aus nachvollziehbaren Gründen. Oder nicht nachvollziehbaren. Aber in beiden Fällen kann nicht argumentiert werden. Es bleibt beim Meinen, beim Vertreten von Meinungen, die als Positionen positioniert werden.
Jene Gedichte, aus denen man Ideologisches herauslesen kann, bieten mehr Angriffsfläche oder Belobigungsgründe, weil es um Gesinnung geht. Die Rezeptionshaltungen orientieren sich stark an Gesinnungen. Das war früher schon so, das ist heute noch extremer.
Die große Freiheit und dadurch bedingte Unverbindlichkeit ist nicht per se zu beklagen. Aber dann soll man Farbe bekennen und nicht so tun, als ob man nach allgemeinen oder übers Subjektive hinausgehenden Kriterien urteilt. Oder die Kritikerin, der Kritiker macht deutlich, nach welchen Maßstäben er urteilt. Das wäre interessant...
2009 gab Thomas Geiger die Anthologie "Laute Verse. Gedichte aus der Gegenwart" heraus. Die Reaktionen illustrieren deutlich das Dilemma.
Laute Verse.
Gedichte der Gegenwart
hg. von Thomas Geiger., dtv 2009
ISBN: 978-3-423-24692-7
- Rezension in Read Me
- Rezension in Fixpoety
- Rezension in Culturmag
- Rezension im Deutschlandfunk
- Rezension in Buchinformationen.de
- Rezension in der WELT
- Rezension in Lyrikkritik
Dazu allgemein in der ZEIT:
Wo Poeten laut werden. Lyrik im Internet
Ach, wer liest schon Gedichte!
Leseproben als Übungsbewertungsbeispiele, völlig aus dem Kontext des jeweiligen Buches gerissen, ohne Nennung der Autorin oder des Autors, damit ja keine Vorurteiligkeit entstehe, zur köstlichen Lektüre und kundigen Bewertung:
1)
Gedankenaustausch
Als wir uns schon lange nicht mehr begegneten
Begegneten sich manchmal noch unsre Gedanken
Es fuhr dann meist ein Lüftchen durch die laue
Nacht oder es tropfte Honig von der Decke
Dann wussten wir, sie hatten's wieder mal geschafft
Die Trägheit unsrer Körper zu umgehen
Und sich zu treffen ohne unsre Hüllen zu bemühen
Die ihrem Einklang stets im Wege standen
2)
4. Strophe eines fünfstrophigen Gedichts:
Ohne Drogen läuft nichts
Hier im Irrgang der Zeichen
Wo du umkommst gesichts-
Los in blinden Vergleichen.
Träumend ... Rate für Rate
Von den Bildern beäugt.
Wer ist Herr der Opiate
Die das Hirn selbst erzeugt?
3)
Ausschnitt aus einem längeren Text:
10. januar, tag des hl paulus.
erkennen sich! (wunder) und lassen sich in seiner wohnung
auf einem steine nieder: "da siehst du:
einem menschen / der
am ende seiner laufbahn / in weißen haaren
bald zu staube / werden soll." So still. Aßen sie's rabenbrot,
und tranken die quelle (schallz) / die hörbare unterm palmbaum.
tieridyllen dazu im hintergrund, sagen wir: mehrerender, sanft
das Aug' niederschlagend - darüber gehen sie
4)
Die letzte eines sechstrophigen Gedichts:
Bittrer Becher, sei uns gesegnet! Ach, wer
Leidet denn genügend - und wer denn wurde
Je zu tief gehöhlt, dem die streng gespannte
Saite erbebte?
5)
Der Tisch, aus Stundenholz, mit
dem Reisgericht und dem Wein.
Es wird
geschwiegen, gegessen, getrunken.
Eine Hand, die ich küßte,
leuchtet den Mündern.
6)
Ausschnitt aus einem längeren Gedicht ohne Strophen
tischig & stuhlig & wohlig & wuhlig & brünstig das licht des metallnen weins als verschmierte mäuler zungen leckten reckten steckten verbissen im geschmack der gestrigen vergangenheit im keller im keller als das kind weglief weg und muttern das glas nahm wieder und wieder bis vater nicht mehr konnte
7)
Zwei von einem dreistrophigen Gedicht:
In dem Meer der goldnen Stoppeln segeln
Kleine Schiffe, weiß und leicht erbaut;
Und in Träumen seiner leichten Weite
Sinkt der Himmel wolkenüberblaut.
Weit gerückt in unbewegter Ruhe
Steht der Wald wie eine rote Stadt.
Und des Herbstes goldne Flaggen hängen
Von den höchsten Türmen schwer und matt.
lyrik ist ein minderheitenprogramm, ein orchideenthema. das erstellen nachvollziehbarer kriterien nun erst recht etwas für spezialisten. und trotzdem notwendig, unausweichlich - fühlt sich doch eine beachtliche anzahl von menschen gedrängt, ihre gedanken und empfindungen in so etwas wie lyrische form zu kleiden.
AntwortenLöschendas bewerten von gedichten ist durch die große freiheit des "anything goes" nicht gerade einfacher geworden. es existieren im ästhetischen bereich nun einmal keine beweisführungen im objektivierbar mathematisch-wissenschaftlichen sinne. aber vielleicht gibt es doch jenseits aller meinungsbeliebigkeit, unverbindlichkeit und subjektivität und auch jenseits von ideologischen - oder glaubensfragen die möglichkeit, plausibel und schlüssig zu argumentieren.
"um prosa zu schreiben, muss man etwas zu sagen haben. wer aber nichts zu sagen hat, der kann doch verse und reime machen, wo denn ein wort das andre gibt und zuletzt was herauskommt, das zwar nicht ist, aber doch aussieht, als wäre es was."
sich hinter diesen ausspruch zurückzuziehen und sicheres land zu gewinnen, scheint nur auf den ersten blick verführerisch, denn mit ihm drängt sich unmittelbar die frage auf: woran erkennt man denn, wer etwas zu sagen hat?
gar nicht, eigentlich - oder jedenfalls nicht sofort (man mag noch hinzusetzen: muss man überhaupt etwas zu sagen haben?). gute lyrik besitzt, denke ich, eine form von "nachhaltigkeit", eine art "nachbrenner", bleibt als tonfall oder rhythmisches geschehen im gedächtnis haften. was natürlich auch wiederum ausschließlich den subjektiven bereich berührt. allgemeinere, objektivere kriterien mögen sein, dass ein gutes gedicht prägnanz und präzision des ausdrucks, eine art innerer ökonomie besitzen sollte, weiters ein möglichst nahtloses verschmelzen von form, ausdruck und inhalt (wenn man sich denn darauf verständigt, dass so etwas wie inhalt überhaupt stattfinden muss) - dass konstruierte, gesuchte wendungen vermieden werden sollten, und gerade durch das aufgeben des reims und grammatiaklischer regeln dem textrhythmus, der benutzung stimmiger metaphern besondere bedeutung zukommt.
solch ein versuch zur erstellung etwaiger kriterien kann natürlich immer nur unvollständig sein und eine annäherung darstellen.