Sonntag, 27. Januar 2019

Spießer


Haimo L. Handl

Spießer

Das Spießertum hat Saison. Es korrespondiert zur Angsthaltung der Abschottung, des bornierten Nationalismus bzw. Rassismus. In Wikipedia lautet die Definition: „Als Spießbürger, Spießer oder Philister werden in abwertender Weise engstirnige Personen bezeichnet, die sich durch geistige Unbeweglichkeit, ausgeprägte Konformität mit gesellschaftlichen Normen und Abneigung gegen Veränderungen der gewohnten Lebensumgebung auszeichnen.“ Diese Definition ist sprachlich ungenau bzw. unsauber, weil sie ein Manko, eine Schädigung, ein Negativum mit dem positiv konnotierten Begriff „auszeichnet“ verbindet, was von der Aussagelogik falsch ist. Das klingt, als ob die Unbeweglichkeit ausgezeichnet wäre, obwohl sie nur ein Kennzeichen darstellt, neben anderen, das typisch ist, aber nicht auszeichnet. Gleichwie, das bestimmende Merkmal der ängstlichen Engstirnigkeit und Unbeweglichkeit und der daraus folgenden Konformität definieren die Haltung.

Der Begriff hat seine eigene Geschichte, war sogar einmal positiv verstanden, änderte sich aber schon früh eben in die Abwertung oder verächtliche Aburteilung der ängstlichen, extrem auf (vermeintliche) Sicherheit bedachten Haltung. Angst ist eine Eigenschaft, die wir in allen Kulturen und Gesellschaften finden. Das Entscheidende ist der Umgang mit ihr. Spießer neigen, wie die früheren Spießbürger, dazu, dass sie ihre Angst in unüberprüften Abwehrhaltungen ausdrücken, die nicht nur der Boden für Intoleranz bilden, sondern auch für Ausgrenzung und Verfolgung bzw. für Hemmungen gesellschaftlicher Innovationen. Auch moralisch zeigt sich das in der typischen Verurteilung von allem, was der Mehrheitshaltung der Braven nicht entspricht (soziale und religiöse Intoleranz bzw. Hass). Im Kulturellen äußert sie sich im Philistertum der Kulturbanausen. Spießer gibt es auch in modernen, westlichen Gesellschaften. In den USA äußert sich die Prüderie der Puritaner, der engstirnig Rechtgläubigen im Rassismus, politischen Nationalismus, den erstarkten Rechtsbewegungen und im Widerstand gegen moderne Kunst (was dafür gilt). Bei uns in Europa korrespondieret das Spießertum mit dem wiedererstarkten Rechtsruck, dem dumpfen Nationalismus Geängstigter, die meinen, im Rückbezug auf Kategorien wie Rasse oder Ethnie und Religion (ewige Werte) sich nicht nur abgrenzen, sondern auch wiederfinden (Identität) zu können.

Durch die seit Jahren andauernde Wertekrise hat sich nicht nur das Rechtsempfinden verschoben, sondern auch der gesellschaftliche Wertstandard. Einmal erreichte Rechte werden in Frage gestellt bzw. attackiert oder gar aufgehoben. Das zeigt sich besonders in der Rolle der Frauen, in der Beschneidung ihrer mühsam erkämpften Rechte (Schwangerschaftsabbruch, Recht auf den eigenen Körper etc.), aber auch in Errungenschaften wie der Menschenrechte, die auch in Österreich neuerdings offen zurückgewiesen und in Frage gestellt werden. Die Forderung des faschistoiden Innenministers Kickl, dass „das Recht der Politik zu folgen hat und nicht die Politik dem Recht“ führte nur zu einigen Verbalkritiken seitens der Opposition oder des Bundespräsidenten, wurde und wird aber von der FPÖ bzw. der ÖVP unterstützt. Was früher unmöglich schien, hat sich wegen des geänderten Rechtsverständnisses geändert. Fast tagtäglich reizen die sogenannten „Freiheitlichen“ als Rechtsextreme aus, wie weit sie mit Angriffen gegen Rechtsgrundsätze unserer Republik gehen können. Hinter der ÖVP, die das als führender Koalitionspartner absegnet und ermöglicht, steht eine Wählerschaft, die das ebenfalls als ungefährlich und akzeptierbar hinnimmt. Hier treffen sich Spießerhaltungen der ganz Rechten mit Rechten, die sich vordergründig „modern“ geben, im Kern aber mit den Rechtsextremen den Abbau des Rechtsstaates westlicher Façon betreiben.

Dass dies so leicht möglich ist, liegt wahrscheinlich auch daran, dass viele Wähler bereit wären, „weniger Demokratie“ in Kauf zu nehmen, wenn es der politisch-wirtschaftlichen Entwicklung helfe, wie man aus einigen Befragungen erfahren hat müssen. Ich sehe auch darin ein Wiedererstarken des Spießertums als Abwehrhaltung gegen die mühsamen Erfordernisse und Herausforderungen einer freien Gesellschaft, die Partizipation verlangt. Das ist den meisten zu anstrengend. Sie wollen versorgt und betreut werden bzw. ihre Sicherheiten und Sicherungen haben. Wird das versprochen, zahlen sie offenbar fast jeden Preis. Wie weit dieses „fast“ reicht, muss sich herausstellen. Betrachten wir die Entwicklungen in einigen europäischen Ländern, scheint der Rechtsruck wie eine Form der erfolgreichen Refaschistisierung, welche in Kürze noch radikaler rechtsstaatliche Grundsätze außer Kraft setzten wird.

Die Propagandafeldzüge gegen die sogenannte „Lügenpresse“ bzw. generell gegen den unabhängigen bzw. kritischen Journalismus sind nicht nur Randerscheinungen einiger Extremer. Sie sind taktische Manöver in der präzise ausgearbeiteten Strategie des Rechtsumschwungs und des antieuropäischen Kurses in der Betonung des Nationalen.

Ein wesentliches Moment kommt bei all dem hinzu: der Hass. Bliebe es bei Argumenten, könnte man debattieren bzw. sich gesittet auseinandersetzen. Aber es bleibt nicht bei Argumenten. Es regiert ein eigentümlicher Hass, der die sozialen Auseinandersetzungen im Regionalen wie Nationalen und Internationalen bestimmt. Es wird eine Art Kriegsstimmung erzeugt, die fatal an die Geisteshaltungen vor dem Ersten Weltkrieg gemahnt, als das chauvinistische Denken die Vernunft außer Kraft setzte und das Vernichtungswerk des Krieges vorbereitete und dann durchführte. Gewöhnlich sagt man, der Krieg sei „ausgebrochen“. Das ist eine Falschaussage und Irreführung, ähnlich der Sprachunempfindsamen, die den Wikipedia-Eintrag, wie oben erwähnt, schrieben. Kein Krieg brach oder bricht aus wie eine Krankheit. Jeder Krieg wurde und wird gemacht. Dass heute, nach der historischen Erfahrung von zwei Weltkriegen, Krieg wieder als ultima ratio gilt, überall, im Norden wie im Süden, im Westen wie im Osten, beweist nicht nur, dass die meisten nichts aus der Geschichte gelernt haben, sondern dass der Hass, gepaart mit dem dummen Spießertum nur darauf lauert, wieder losschlagen, vernichten zu können. Deshalb ist es wichtig, Spießer und Spießertum nicht einfach hinzunehmen.

Auf einigen Nebenfronten gibt es anscheinend Erfolge. So freuen sich Gender-Aktivistinnen, dass jetzt z.B. in Hannover die Verwaltung auf gendergerechte Sprache umgestellt wird. Dieser Erfolg ist ein Pyrrhussieg, und belegt in meiner Sicht eher die Untauglichkeit gegenwärtiger emanzipatorischer Politik: Während die Rechte es z.B. in Deutschland geschafft hat, dass eine Ärztin oder ein Arzt nicht einmal informieren darf, dass sie oder er Abtreibungen vornehmen, weil dies verbotene Werbung sei, während der Schwangerschaftsabbruch stark bekämpft wird, feiert man Erfolge im Überbau, in der Sprachpolitik. Das ist eine Politik der Täuschung. Sie korrespondiert mit den verbalen Forderungen nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit, welche durch die Rechtslage aber in den meisten Fällen verhindert wird. Ein Abspeiseprogramm. Damit die Rechtsextremen aber nicht in die Lage versetzt werden, ihren Forderungen entsprechende Taten folgen zu lassen (Recht muss der Politik folgen), müsste die Diskrepanz zwischen Anspruch, Forderung und politischer Erfüllung durch Gesetze verringert, wenn nicht aufgehoben werden. Doch DAS scheint niemanden, der die politische Macht hält, zu interessieren. Das Interesse liegt dagegen offensichtlich bei den Spießern und der Erfüllung IHRER politischen Realisierung.

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