Haimo L. Handl
Spießer
Das Spießertum hat Saison. Es korrespondiert zur
Angsthaltung der Abschottung, des bornierten Nationalismus bzw. Rassismus. In
Wikipedia lautet die Definition: „Als Spießbürger, Spießer oder Philister
werden in abwertender Weise engstirnige Personen bezeichnet, die sich durch
geistige Unbeweglichkeit, ausgeprägte Konformität mit gesellschaftlichen Normen
und Abneigung gegen Veränderungen der gewohnten Lebensumgebung auszeichnen.“
Diese Definition ist sprachlich ungenau bzw. unsauber, weil sie ein Manko, eine
Schädigung, ein Negativum mit dem positiv konnotierten Begriff „auszeichnet“
verbindet, was von der Aussagelogik falsch ist. Das klingt, als ob die
Unbeweglichkeit ausgezeichnet wäre, obwohl sie nur ein Kennzeichen darstellt,
neben anderen, das typisch ist, aber nicht auszeichnet. Gleichwie, das
bestimmende Merkmal der ängstlichen Engstirnigkeit und Unbeweglichkeit und der
daraus folgenden Konformität definieren die Haltung.
Der Begriff hat seine eigene Geschichte, war sogar einmal
positiv verstanden, änderte sich aber schon früh eben in die Abwertung oder
verächtliche Aburteilung der ängstlichen, extrem auf (vermeintliche) Sicherheit
bedachten Haltung. Angst ist eine Eigenschaft, die wir in allen Kulturen und
Gesellschaften finden. Das Entscheidende ist der Umgang mit ihr. Spießer
neigen, wie die früheren Spießbürger, dazu, dass sie ihre Angst in
unüberprüften Abwehrhaltungen ausdrücken, die nicht nur der Boden für
Intoleranz bilden, sondern auch für Ausgrenzung und Verfolgung bzw. für
Hemmungen gesellschaftlicher Innovationen. Auch moralisch zeigt sich das in der
typischen Verurteilung von allem, was der Mehrheitshaltung der Braven nicht
entspricht (soziale und religiöse Intoleranz bzw. Hass). Im Kulturellen äußert
sie sich im Philistertum der Kulturbanausen. Spießer gibt es auch in modernen,
westlichen Gesellschaften. In den USA äußert sich die Prüderie der Puritaner,
der engstirnig Rechtgläubigen im Rassismus, politischen Nationalismus, den
erstarkten Rechtsbewegungen und im Widerstand gegen moderne Kunst (was dafür
gilt). Bei uns in Europa korrespondieret das Spießertum mit dem
wiedererstarkten Rechtsruck, dem dumpfen Nationalismus Geängstigter, die
meinen, im Rückbezug auf Kategorien wie Rasse oder Ethnie und Religion (ewige
Werte) sich nicht nur abgrenzen, sondern auch wiederfinden (Identität) zu
können.
Durch die seit Jahren andauernde Wertekrise hat sich nicht
nur das Rechtsempfinden verschoben, sondern auch der gesellschaftliche
Wertstandard. Einmal erreichte Rechte werden in Frage gestellt bzw. attackiert
oder gar aufgehoben. Das zeigt sich besonders in der Rolle der Frauen, in der
Beschneidung ihrer mühsam erkämpften Rechte (Schwangerschaftsabbruch, Recht auf
den eigenen Körper etc.), aber auch in Errungenschaften wie der Menschenrechte,
die auch in Österreich neuerdings offen zurückgewiesen und in Frage gestellt
werden. Die Forderung des faschistoiden Innenministers Kickl, dass „das Recht
der Politik zu folgen hat und nicht die Politik dem Recht“ führte nur zu
einigen Verbalkritiken seitens der Opposition oder des Bundespräsidenten, wurde
und wird aber von der FPÖ bzw. der ÖVP unterstützt. Was früher unmöglich
schien, hat sich wegen des geänderten Rechtsverständnisses geändert. Fast
tagtäglich reizen die sogenannten „Freiheitlichen“ als Rechtsextreme aus, wie
weit sie mit Angriffen gegen Rechtsgrundsätze unserer Republik gehen können.
Hinter der ÖVP, die das als führender Koalitionspartner absegnet und
ermöglicht, steht eine Wählerschaft, die das ebenfalls als ungefährlich und
akzeptierbar hinnimmt. Hier treffen sich Spießerhaltungen der ganz Rechten mit
Rechten, die sich vordergründig „modern“ geben, im Kern aber mit den
Rechtsextremen den Abbau des Rechtsstaates westlicher Façon betreiben.
Dass dies so leicht möglich ist, liegt wahrscheinlich auch
daran, dass viele Wähler bereit wären, „weniger Demokratie“ in Kauf zu nehmen,
wenn es der politisch-wirtschaftlichen Entwicklung helfe, wie man aus einigen
Befragungen erfahren hat müssen. Ich sehe auch darin ein Wiedererstarken des
Spießertums als Abwehrhaltung gegen die mühsamen Erfordernisse und
Herausforderungen einer freien Gesellschaft, die Partizipation verlangt. Das
ist den meisten zu anstrengend. Sie wollen versorgt und betreut werden bzw. ihre
Sicherheiten und Sicherungen haben. Wird das versprochen, zahlen sie offenbar
fast jeden Preis. Wie weit dieses „fast“ reicht, muss sich herausstellen.
Betrachten wir die Entwicklungen in einigen europäischen Ländern, scheint der
Rechtsruck wie eine Form der erfolgreichen Refaschistisierung, welche in Kürze
noch radikaler rechtsstaatliche Grundsätze außer Kraft setzten wird.
Die Propagandafeldzüge gegen die sogenannte „Lügenpresse“
bzw. generell gegen den unabhängigen bzw. kritischen Journalismus sind nicht
nur Randerscheinungen einiger Extremer. Sie sind taktische Manöver in der
präzise ausgearbeiteten Strategie des Rechtsumschwungs und des antieuropäischen
Kurses in der Betonung des Nationalen.
Ein wesentliches Moment kommt bei all dem hinzu: der Hass.
Bliebe es bei Argumenten, könnte man debattieren bzw. sich gesittet
auseinandersetzen. Aber es bleibt nicht bei Argumenten. Es regiert ein
eigentümlicher Hass, der die sozialen Auseinandersetzungen im Regionalen wie
Nationalen und Internationalen bestimmt. Es wird eine Art Kriegsstimmung
erzeugt, die fatal an die Geisteshaltungen vor dem Ersten Weltkrieg gemahnt,
als das chauvinistische Denken die Vernunft außer Kraft setzte und das
Vernichtungswerk des Krieges vorbereitete und dann durchführte. Gewöhnlich sagt
man, der Krieg sei „ausgebrochen“. Das ist eine Falschaussage und Irreführung,
ähnlich der Sprachunempfindsamen, die den Wikipedia-Eintrag, wie oben erwähnt,
schrieben. Kein Krieg brach oder bricht aus wie eine Krankheit. Jeder Krieg
wurde und wird gemacht. Dass heute, nach der historischen Erfahrung von zwei
Weltkriegen, Krieg wieder als ultima ratio gilt, überall, im Norden wie im
Süden, im Westen wie im Osten, beweist nicht nur, dass die meisten nichts aus
der Geschichte gelernt haben, sondern dass der Hass, gepaart mit dem dummen
Spießertum nur darauf lauert, wieder losschlagen, vernichten zu können. Deshalb
ist es wichtig, Spießer und Spießertum nicht einfach hinzunehmen.
Auf einigen Nebenfronten gibt es anscheinend Erfolge. So
freuen sich Gender-Aktivistinnen, dass jetzt z.B. in Hannover die Verwaltung
auf gendergerechte Sprache umgestellt wird. Dieser Erfolg ist ein Pyrrhussieg,
und belegt in meiner Sicht eher die Untauglichkeit gegenwärtiger
emanzipatorischer Politik: Während die Rechte es z.B. in Deutschland geschafft
hat, dass eine Ärztin oder ein Arzt nicht einmal informieren darf, dass sie
oder er Abtreibungen vornehmen, weil dies verbotene Werbung sei, während der
Schwangerschaftsabbruch stark bekämpft wird, feiert man Erfolge im Überbau, in
der Sprachpolitik. Das ist eine Politik der Täuschung. Sie korrespondiert mit
den verbalen Forderungen nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit, welche durch
die Rechtslage aber in den meisten Fällen verhindert wird. Ein
Abspeiseprogramm. Damit die Rechtsextremen aber nicht in die Lage versetzt
werden, ihren Forderungen entsprechende Taten folgen zu lassen (Recht muss der
Politik folgen), müsste die Diskrepanz zwischen Anspruch, Forderung und
politischer Erfüllung durch Gesetze verringert, wenn nicht aufgehoben werden. Doch
DAS scheint niemanden, der die politische Macht hält, zu interessieren. Das
Interesse liegt dagegen offensichtlich bei den Spießern und der Erfüllung IHRER
politischen Realisierung.
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