Verstummen als Inszenierung und Verweigerung als Ausstieg
Haimo L. Handl
Fast auf den Tag liegen zehn Jahre zwischen den Geburtsdaten
zweier deutschsprachiger Schriftsteller: der ältere, Reinhard Jirgl, wurde am
16.1.1953 in Berlin geboren, der jüngere, Peter Stamm, am 18.1.1963 in
Scherzingen (Schweiz). Aber es ist nicht nur das Alter, das beide
unterscheidet, sondern ihre Rolle als Schriftsteller: einmal in der DDR, dem
Arbeiter- und Bauernstaat, der so erfolgreich und doch wieder vergeblich
versucht hatte, freies Denken an die Leine zu nehmen, dann in dem
wiedervereinigten Deutschland, dem „freien Westen“, dem Ort des „freien
Wortes“, der „freien Kunst“, des Landes der „wein&bierjauchzige(n) Menge“
und der „Hooligans des Firlefanzes“.
Der freie Schweizer hatte anfänglich Probleme, seine Anerkennung
zu finden, studierte dies und das und war Journalist, lernte das Handwerk und
Geschäft kennen und war dann mit seiner neutralen, sachlichen Sprache, die keinen
helvetischen Hintergrund auswies oder ihn als Schweizer verriet, der Metaphern
und alles, was an gehobene Schreiberei oder gar Dichtung hätte weisen können,
erfolgreich vermied, Erfolg beim Publikum und damit bei den Verlagen und der
Kritik.
In seinem Bestreben zu reduzieren schreibt der Jüngere also
sachlich und kurz, aber immer noch lesbar, denn sonst würden seine Bücher nicht
gekauft. Man muss ja von etwas leben. Und leben will auch der Jüngere, weil das
Nirwana, die Auflösung als Zielresultat seiner Reduktionsreise, ja noch weit
weg ist, auch wenn er, manchmal peinlich formuliert, vom Verstummenwollen
redet, wie einer, der beredt das Schweigen lobt und redet und redet, aber nicht
schweigt.
Das Schweigen wäre auch schwierig und unvernünftig bei so vielen
Preisen seit 1998, 1999, 2000, 2001, 2002, 2003, 2004, 2008, 2011, 2012, 2013,
2014, 2017 und 2018. Zum Solothurner Literaturpreis, der ihm jetzt, 2018,
aufgebürdet wurde, äußerte sich also der Jüngere in einer Dankesrede unter
anderem wie folgt:
„Wenn Menschen
mir sagen, sie könnten ohne Bücher nicht leben, so kommt mir das immer wie das
Eingeständnis einer Schwäche vor. Damit will ich nicht sagen, dass ich ohne
Bücher leben möchte, aber vielleicht wäre es mein Ziel, dass die Bücher sich
für mich immer überflüssiger machten, bis ich sie irgendwann nicht mehr
brauchte und sie nur noch manchmal in ihren Regalen betrachtete als Zeugen des
Weges, den ich gegangen bin. Es mag seltsam klingen, wenn ein Schriftsteller
das sagt, aber mit den Jahren ist in mir die Überzeugung gewachsen, dass alles,
was wirklich zählt, dass das Wesentliche sich nicht in Worte fassen lässt.“
Man kennt
das. Künstler, die vom unbedingten Schaffensdrang berichten, klingen wie
Süchtige, die sich als Opfer stilisieren. Ob man also Bücher mag oder braucht,
ist nicht nur eine private Vorliebe oder Abneigung, es ist, unter Umständen,
eine existentielle Entscheidung, ein Wesenszug. Und der Befund, was wirklich
zähle, hat es ja in sich: „alles,
was wirklich zählt, dass das Wesentliche sich nicht in Worte fassen lässt.“
Warum also Worte gebrauchen, sprachlich kommunizieren? Weil man sich mit dem
Minderen, dem Unwesentlichen zufriedengibt? Nicht so Peter Stamm, der zwar
reflektiert, was er nicht mag, aber doch schreibt und schreibt und einfach
nicht schweigt. Was will er? Sein Dilemma zelebrieren?
«Ich habe kein
Verlangen, mit meinen Büchern zu sagen: ‹Hier ist jemand gewesen, hier hat ein
Mensch, haben Menschen gelebt.› Nur an Agnes möchte ich erinnern. Nicht, weil
sie besser war als wir anderen, aber weil es der einzige Weg für mich ist, sie
nicht so schnell zu vergessen, sie noch ein wenig bei mir zu behalten, bevor
sie ganz in der Entfernung verschwindet.»
Von der Existenz will er nicht zeugen.
Von den Menschen auch nicht. Aber an EINEN Menschen möchte erinnern. Wenigstens
das. Aber damit sagt er, im Widerspruch zu seinem Verlangen, doch etwas über
einen Menschen, einen bestimmten zumindest, wenn ihm die anderen egal sind.
Doch die Bücher richten sich nicht an einen Einzelnen, sondern an viele, und
diese Vielen lesen und kaufen und führen mit ihrer Aufmerksamkeit dazu, dass
der Autor mit Preisen bedacht wird, obwohl er doch verstummen, sich reduzieren
will. Bis er diesen Zustand erreicht haben wird, falls er ihn überhaupt
ernsthaft anvisiert hat, schreibt er, liest er vor, spricht öffentlich, lässt
sich preisen.
Die Reduktion ist eine komplizierte
Sache. Samuel Beckett hat es versucht. Als seine Stücke dementsprechend
nichtssagend wurden, fast bis zur leeren Bühne, hat er sein Publikum verloren;
nur der Ruhm, den er mit dem noch nicht radikal Reduzierten errungen hatte,
hielt seinen Namen wach. Heute ist er ein Fall für Dokumentaristen und
Anglisten.
Man kann auch aus politischen Gründen
verstummen. Das wird zwar nicht immer vom Publikum verstanden, aber prinzipiell
geht es. Karl Kraus, dem beredt zu Hitler nichts einfallen wollte, der darüber
aber schrieb, weil er eine für ihn unerträgliche Situation darlegen wollte,
weil er klar machen wollte, weshalb jetzt, angesichts des Hitler und der Nazis,
nach all den Grausamkeiten und systematischen Barbarei des Ersten Weltkriegs,
das Wort, das satirische zumal, versagt, lieferte für die Halb- und
Ungebildeten eine willkommene, weitere Angriffsfläche für sein vermeintliches
Versagen.
In der Literatur finden wir viele
Beispiele von Geschwätzigkeit, von sich abgepressten Sätzen, von eloquenter
Rede, oder auch von Gedanken, die in ihrer Zeit im Widerspruch zum Zeitgeist
standen und die heute, für uns Zurückschauende, besondere Kenntnisse verlangen,
um sie nicht nur oberflächlich zu dekodieren, sondern sinnverständig zu lesen.
Das hängt, wie Peter Stamm in seiner Dankesrede weiter ausführt,
mit dem Stellenwert des Wesentlichen zusammen:
« Schreiben ist
Nebensache. Lesen ist Nebensache. Die Literatur braucht das Leben mehr als das
Leben die Literatur. Sie ist immer weniger, manchmal sehr viel weniger, sie ist
nie genug..»
Nun, der Mensch lebt aber nicht nur von der Hauptsache. Schon die
Sprache, der Informationsaustausch braucht Redundanzen, weil wir pure
Information nicht ökonomisch vertretbar verarbeiten könnten. Sprache ist aber
auch mehr als ein Werkzeug des Informationsaustausches. Peter Stamm übersieht,
aus für ihn guten Gründen, die Dimension der Ästhetik, des
Sprachschöpferischen, der Freiheit, die sich für den Sprecher auftut, der nicht
nur an Buchstaben klebt, sich beschränkt auf das Wesentliche. Alles, was wir
der Kultur zuschreiben, was uns als Menschen auszeichnet, in allen Kultur,
liegt jenseits dieses kruden, engen Nutzendenkens, dieser Lebens- und
Körperfeindlichkeit.
Es erstaunt nicht, und ist auch nicht beiläufig oder zufällig,
dass alle totalitären Regime und Systeme, die Nazis wie die Bolschewiki oder
Maoisten, die Dichtung unter Kontrolle bringen wollten, wenn sie sich nicht
ganz und gar verunmöglichten. Ihr Kredo
galt einer bestimmten Erziehung und Agitation, einer strengen Ausrichtung und
Einpassung, einem radikalen Nutzendenken. Das zeigte sich auch in der Sprache.
Es zeigt sich immer noch in der Sprache. Sie verrät, wie utilitaristisch jemand
ist bzw. Angst vor dem freien Wort hat, des Dichterischen, der Metaphern und
Bilder, weil die alle nicht nur nicht genügen, sondern stören, ablenken,
unwesentlich sind. Den vielen Kurzdenkern und Überangepassten kommt das zupass.
Nicht zuletzt deshalb hat ein Peter Stamm sein Publikum. Dem sagt er
freundlich:
«Und so schreibe ich weiter, bis ich
irgendwann ganz in der Stille angekommen bin und das Verstummen zu meinem
letzten Werk wird. »
Das Publikum jauchzt, die Kritiker
loben. Das ist der Betrieb.
Reinhard Jirgl wurde in Ostberlin
geboren, holte ab 1970 in der Abendschule seine Matura nach und studierte dann
in Berlin Elektronik. 1978 wechselte er zur Berliner Volksbühne. Seit 1996 lebt
er als freier Schriftsteller in Berlin. In der DDR werden seine Arbeiten nicht
publiziert. Erst 1990, mit der Wende, konnte sein Debutroman „Mutter Vater
Roman“ im Aufbau Verlag erscheinen. Der Roman „Abschied von den Feinden (1993)
erhielt zwar den Alfred-Döblin-Preis, wurde aber erst zwei Jahre später publiziert.
Jirgl kennt die Hemmnisse und Niederhaltungen, den Druck, dem ein
Schriftsteller in einer intoleranten, selbstgerechten Gesellschaft ausgesetzt
ist. Er lernte nach der Wende den Westen kennen, wo ja auch seine Werke ab 1990
erschienen, vor allem in „seinem“ Hausverlag Hanser. Auch er hat viele Preise
erhalten, u.a. 2010 den Georg Büchner-Preis.
Jirgl lernte auch den Literaturbetrieb
westlicher Machart, die Mache vom Wesentlichen vs. Unwesentlichen, der Toleranz
und unbedingten Forderung, des Sprachzerfalls und der hippen, chicen
Geschäftigkeit des modischen Unterhaltungsbetriebs kennen: Nicht nur neue
Ausformungen der schon früher festgestellten Unübersichtlichkeit (Habermas),
sondern, besonders durch die Neuen Medien und die fatale smart phone culture
und dem Terror der social media.
In der Internetseite des Hanser-Verlags
ist zu lesen:
„Mit Beginn des Jahres 2017 hat
Reinhard Jirgl
sich vollständig aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Er verzichtet auf Lesungen
sowie andere Auftritte, desgleichen auf jede Publikation seiner auch weiterhin
entstehenden Manuskripte. Alle neu geschriebenen Texte verbleiben in
Privatbesitz.“
Monate später war in der NEUEN ZÜRCHER
ZEITUNG unter dem reißerischen Titel „Gegen die Hooligans des Firlefanzes oder
Warum einer aufhört mit Schreiben“ darüber zu lesen. Mit etwas koketter
Verwunderung fragt der Journalist „Ist es hier so schlimm geworden, dass man
sich aus allem zurückziehen muss?“ „So geht elitär!“ (Welch feine Anpassung ans
Werbe- oder social media-Deutsch.) Der findige Journalist zitiert einschlägige
Stellen aus Jirgls Werk, seine Kritik unserer ach so guten Gesellschaft. Ein
paar Sätze klingen so:
"Mit
vollen Rohren schießt der Autor in seinen Romanen und Essays gegen die
«Zweigstellen des Parnass», gegen die «Zensuranstalten und Verlage» und
überhaupt gegen alle «Fäkal=Agenten», die «die Lust an den Wörtern kastrieren».
Wenn es ideologiekritisch gegen die Stromlinienförmigkeit der Publikumsverlage
ging, dann war der deutsche Autor ganz bei seinem Ost-Kollegen Heiner Müller.
Bestseller seien etwas für Idioten, denen das Fernsehen nicht reiche."
Beanstandet der österreichische
Kulturjournalist Paul Jandl (*1962) die Kritik oder die Kollegenschaft unter
„Östlern“? Jandl versteht sein Geschäft in der Bedienung von Erwartungen und
Klischees und geht zur insinuierenden Denunziation über:
„Wenn der
Überwältigungsgestus aus dem Werk von Handke, Strauss und Konsorten in die
Wirklichkeit schwappt, dann kann aus der Figurenrede der Literatur plötzlich
die Rede des Autors werden. Aus den Etüden des Zorns wird im Alltag Ernst.“
„… und Konsorten“, welch feiner Befund eines Kulturjournalisten.
Ja, wenn da was in die Wirklichkeit schwappt, wird’s ernst. Nicht wie bei Peter
Stamm, der system- und marktkonform schreibt und eigentlich verstummen will.
Der Jirgl, dieser Elitäre Schnösel, macht ja ernst und publiziert tatsächlich
nichts mehr. Er wird aktiv gegen das Publikum, schädigt seinen Verlag,
brüskiert die Kritiker. Wenn das viele machten, wohin kämen wir? Wäre überaus
interessant es zu erfahren. Und der Vorwurf wird formuliert:
„Das elitäre Selbstverständnis und der
Kulturpessimismus angesichts alles Massenhaften können sich zu einer
fragwürdigen Misanthropie auswachsen.“
Ja, der ostdeutsche Balg hat sich zu einem Elitären entwickelt,
ein übler Konvertit, ein Misanthrop. So einfach ist das, wenn man nicht mit den
Wölfen heult. Aber ein Peter Stamm einerseits und ein Paul Jandl andererseits
retten uns und alle treuen Leser.
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