Unschuldig mit Schuld beladen
Historiker der Universitäten Jena und Magdeburg verfassen
Buch über Besatzungskinder nach 1945
Vor 70 Jahren kamen die Alliierten als Befreier und
Besatzer nach Deutschland. Soldaten der Roten Armee, französische, englische
und amerikanische Truppen beendeten in mörderischen Kämpfen den Zweiten
Weltkrieg. Doch im Zuge ihres Vorrückens kam es zu massiven Übergriffen auf die
deutsche Zivilbevölkerung. Weihnachten 1945 kamen die ersten der vom Feind
gezeugten Kinder zur Welt.
„Die Besatzungskinder wurden nach dem Krieg lange
beschwiegen,“ sagt Prof.
Dr. Rainer Gries von der Universität Jena. Prof. Dr. Silke
Satjukow (Universität Magdeburg) und Rainer Gries haben das Schicksal dieser
Kriegskinder untersucht und ihre kollektive Biographie geschrieben. Das Buch
„'Bankerte!' Besatzungskinder in Deutschland nach 1945“ fasst die Ergebnisse
des von der Fritz-Thyssen-Stiftung (Köln) geförderten Projektes zur Geschichte,
Psychologie und Politik dieser Kriegskinder zusammen. Es erscheint am 9.
Februar.
In allen vier Zonen wurden Frauen vergewaltigt. Bis zu
zwei Millionen Gewaltnahmen werden allein den Soldaten der Roten Armee zur Last
gelegt.
Die Wissenschaftler gehen daher von mindestens 300.000
Kindern aus, die durch sowjetische Soldaten gezeugt wurden. Auch französische
und US- amerikanische Einheiten vergewaltigten in großer Zahl. Lediglich von
den britischen Truppen sind nur wenige Fälle bekannt. Hinzu kamen abertausende
Kinder, die aus Liebesbeziehungen zwischen deutschen Frauen und ausländischen
Soldaten hervorgingen. Insgesamt gab es mindestens 400.000 Besatzungskinder,
doch eine größere Zahl ist nicht auszuschließen. Sie hatten ein schweres Los zu
tragen. In der Bevölkerung, ja selbst in den eigenen Familien, galten sie als
„Bankerte“, als unerwünscht und illegitim.
„Die Kinder wurden drangsaliert, weil sie in den Augen
der Gesellschaft Schuld auf sich geladen hatten“, sagt Silke Satjukow. Von
diesen „Kindern der Sünde“ wurde daher Zeit ihres Lebens verlangt, dass sie
ihre vermeintliche Schuld sühnten. Die Mütter erhielten zudem keinen Unterhalt,
denn Angehörige der Besatzungsmächte unterlagen nicht der deutschen
Gerichtsbarkeit. Zahlreiche Eingaben an Wilhelm Pieck, den Präsidenten der DDR,
belegen, dass die Mütter immer wieder um Unterstützung nachsuchten.
„Den Frauen wurde nahegelegt, arbeiten zu gehen, um den
Lebensunterhalt bestreiten zu können“, sagt Prof. Gries. Alternativ sei
empfohlen worden, die Kinder ins Heim zu geben.
Die westlichen Alliierten halfen den Müttern und Kindern
ebenfalls nicht.
Eine Ausnahme bildeten die Franzosen: Die Kinder
französischer Soldaten galten als Staatsbürger der Grande Nation; sie sollten
in Frankreich und in den französischen Kolonien zur Adoption freigegeben
werden. Mindestens
1.500 Kinder fanden so den Weg über den Rhein. „Frankreich
wollte damit den Bevölkerungsverlust seit dem Ersten Weltkrieg ausgleichen –
mit den Kindern des Erbfeindes!“, sagt Rainer Gries.
Heute stehen die Kinder von einst vor der immer gleichen
Frage: „Wer ist mein Vater?“ Die meisten Betroffenen fühlen sich buchstäblich
halbiert, unvollständig. „Sie wollen endlich ihre ganze Familie und damit ihren
Frieden finden“, so Silke Satjukow. Doch die Chancen dafür stehen nicht gut.
Die Väter in Russland, den USA oder in Frankreich haben zumeist geheiratet und
eine Familie gegründet. Sie aufzuspüren ist äußerst schwierig.
Die Autoren der Studie betonen, dass die Besatzungskinder
nicht nur Opfer waren. Allmählich erkämpften sie sich – allein durch ihre
Anwesenheit – ihren Platz in den Nachkriegsgesellschaften, im Westen wie im
Osten. Manche nutzten sogar ihr vermeintliches Anderssein als
Potenzial für eine steile Karriere. Wie etwa der Schlagersänger Jan Gregor, der
auch dank seines exotischen Aussehens in der DDR eine Zeitlang zu den
beliebtesten Interpreten zählte. Andere Besatzungskinder aber zerbrachen an
einem Makel, den sie nicht im geringsten zu verantworten hatten.
Bibliographische Angaben:
Silke Satjukow & Rainer Gries: „Bankerte!“
Besatzungskinder in Deutschland nach 1945, Campus Verlag, Frankfurt/New York
2015, 29,90 Euro, ISBN:
978-593-50286-1
Kontakt:
apl. Prof. Dr. Rainer Gries
Historisches Institut der Friedrich-Schiller-Universität
Jena, Europäische Kulturgeschichte, Fürstengraben 13, 07743 Jena
Tel.: 03641 / 944503
E-Mail: rainer.gries[at]uni-jena.de