Lettre International Nr. 106 / Neue
Ausgabe
DAS THEATER ALS EREIGNIS – RÄTSEL DES KORANS
– AUFSTAND AM MAJDAN – KUNSTAKTIVISMUS – POESIE UND
PILGER
heute, am 25. September 2014, erscheint
Lettre International Nr. 106. Im Zentrum des Heftes steht die Kunst der
Bühne: Theatergeister aufgewacht! Der Philosoph Alain
Badiou, der Theaterkritiker Georges
Banu, die Schauspieler Jürgen
Holtz und Thomas
Hodina, der Regiestar Romeo
Castellucci, der Komponist und Regisseur Heiner
Goebbels, die russische Theaterkritikerin Marina
Dawydova, der Theaterautor Marek
Kędzierski, die Essayistin Marleen
Stoessel, der Regisseur Hans-Jürgen
Syberberg und der Dramaturg Frank
M. Raddatz über ihre Leidenschaft – das Theater.
Die Schriftstellerin Marci Shore rekonstruiert den Aufstand am
Majdan in Kiew. János Háy
schlüpft in die Haut eines Assimilierten, Boris Groys analysiert den
Kunstaktivismus, Perry
Anderson und Suleiman
Mourad ergründen Rätsel des Korans und die Dynamik des Islams.
Glut unter der Asche bei Hölderlin und Platonow, ein Kalender der
Steine, eine Pilgerfahrt, Emigrantenschicksale, die Identität von
B. Traven sind weitere Themen. Zudem besuchen wir Südafrika, Brasilien,
Indien, Russland und Italien.
Betörende Bühnenbilder aus aktuellen Theater- und Operninszenierungen
illustrieren die Texte und erzeugen magische visuelle
Momente.
LETTRE INTERNATIONAL 106 – INHALT
LETTRE INTERNATIONAL 106 – INHALT
IN DER FREMDEDer ungarische Schriftsteller János Háy schlüpft in die Haut eines
Assimilierten. Der Assimilierte ist entwurzelt, Eindringling in jenem fremden
Land, das ihn zur Anpassung zwingt. Assimilation bedeutet Sprachwechsel,
Unsicherheit, Leben ohne Beziehungskapital, Existenzangst, oft Feigheit und
Strebertum. Der Assimilierte will nach oben. Alteingesessenen ist er ein Rivale.
Er kommt aus dem Nichts und setzt alles auf eine Karte, auf sich selbst. Er wird
zum Ehrgeizling, trägt erlittenes Unrecht in sich und will Gerechtigkeit walten
lassen, Rache nehmen, erlittenes Leid hinter sich lassen, aufsteigen. Der
Assimilierte trägt sein Schicksal unter der Haut.
SCHAUPLATZ
UKRAINE
Marci Shores packende Reportage Entscheidung am Majdan ist nicht weniger als eine Phänomenologie der ukrainischen Revolution. Ihre Porträts verschiedener Protagonisten der Revolte offenbaren die Entschlossenheit, Leidenschaft, Entschiedenheit und Todesbereitschaft der Aufständischen. Hier begehrte nicht eine Generation ödipal gegen die Eltern auf, vielmehr schlossen sich die Älteren ihren Kindern an. Der Majdan war eine Erfahrung von Authentizität: Verantwortung übernehmen, Entscheidungen treffen, die Verwirklichung des Selbst, das Erlebnis tiefer Solidarität. Der Majdan – das waren Grenzerfahrungen: Brutalität, Folter, Barrikadenschlachten, Erschießungen. In manchen Augenblicken schien die Revolution verloren. „Die Regierung hatte ein schreckliches Spiegelkabinett aufgebaut. Die Miliz lief in der Arbeitskleidung der Stadtreinigung herum, Berkuteinheiten tobten zusammen mit angeheuerten Kriminellen durch die Straßen, die Geheimdienstler warfen sich eine ukrainische Flagge um und gingen den Majdan auskundschaften, Plünderer gaben sich als rechter Sektor aus. Nichts war so wie es schien.“ Die Menschen überschritten die Grenze ihres gewöhnlichen Selbst. Sie waren bereit, füreinander in den Tod zu gehen. „Die Leute kamen auf den Majdan um sich wieder wie Menschen zu fühlen. Sie entdeckten ihren Idealismus wieder, die Erfahrung der Solidarität veränderte sie zutiefst.“ Die Revolution siegte zwar zuletzt, doch nichts ist garantiert, alle Errungenschaften können wieder verloren gehen. Marci Shores intensive Reportage ist das lebensvolle Porträt einer Generation, die sich selbst übertroffen hat.
Marci Shores packende Reportage Entscheidung am Majdan ist nicht weniger als eine Phänomenologie der ukrainischen Revolution. Ihre Porträts verschiedener Protagonisten der Revolte offenbaren die Entschlossenheit, Leidenschaft, Entschiedenheit und Todesbereitschaft der Aufständischen. Hier begehrte nicht eine Generation ödipal gegen die Eltern auf, vielmehr schlossen sich die Älteren ihren Kindern an. Der Majdan war eine Erfahrung von Authentizität: Verantwortung übernehmen, Entscheidungen treffen, die Verwirklichung des Selbst, das Erlebnis tiefer Solidarität. Der Majdan – das waren Grenzerfahrungen: Brutalität, Folter, Barrikadenschlachten, Erschießungen. In manchen Augenblicken schien die Revolution verloren. „Die Regierung hatte ein schreckliches Spiegelkabinett aufgebaut. Die Miliz lief in der Arbeitskleidung der Stadtreinigung herum, Berkuteinheiten tobten zusammen mit angeheuerten Kriminellen durch die Straßen, die Geheimdienstler warfen sich eine ukrainische Flagge um und gingen den Majdan auskundschaften, Plünderer gaben sich als rechter Sektor aus. Nichts war so wie es schien.“ Die Menschen überschritten die Grenze ihres gewöhnlichen Selbst. Sie waren bereit, füreinander in den Tod zu gehen. „Die Leute kamen auf den Majdan um sich wieder wie Menschen zu fühlen. Sie entdeckten ihren Idealismus wieder, die Erfahrung der Solidarität veränderte sie zutiefst.“ Die Revolution siegte zwar zuletzt, doch nichts ist garantiert, alle Errungenschaften können wieder verloren gehen. Marci Shores intensive Reportage ist das lebensvolle Porträt einer Generation, die sich selbst übertroffen hat.
THEATERGEISTER AUFGEWACHT!Der inspirierte, vielschichtige Dialog zwischen dem
Philosophen Alain Badiou und Nicolas Truong entdeckt das Theater als
Ereignis. Das Gespräch kreist um die Wechselspiele von Theater und
Philosophie, Text und Körper, Schauspieler und Zuschauer, um die Beziehungen
zwischen Theater und Poesie, Theater und Tanz, Film Performance und Video. Ob
Tragödie, Komödie, romantisches Drama, naturalistisches, symbolistisches oder
episches Theater: Jede Gestalt des Theaters reflektiert politische Zustände,
ohne die Menschen auf politische Haltungen zu reduzieren sondern will sie auch
immer in ihrer Daseinsfülle ausloten. Badiou: „Das Theater hat
notwendigerweise die Form eines Ereignisses: Es hat statt, es geschieht. Das
Theater ist die vollständigste aller Künste, weil es den Bezug zwischen Immanenz
und Transzendenz vom Gesichtspunkt der Idee aus im Unmittelbaren verhandelt. In
diesem Sinne ist das Theater ein Ort des lebendigen Erscheinens der Idee.“
Lear, Volpone, Falstaff, John Gabriel Borkmann,
Minetti, Winni, Estragon, Firs, sie gehören zu den Alten, welche die Bühne
bevölkern. Der Pariser Theaterkritiker Georges
Banu widmet sich diesen Alten auf dem Theater: Alter der
Figur, Alter des Schauspielers – angleichen oder Abstand? Wie soll man darauf
antworten? Über Charaktere am Rand des Lebens, mit ihrer Ablehnung des Alters,
in den Trümmerfeldern der Vergangenheit, lebend unter Überlebenden, mit letzten
Wünschen, und inmitten der Verleugnung des Verlusts. Was bleibt, ist die
Komplizenschaft mit dem Lebensabend, das Warten am Abgrund, die Anerkennung der
Endlichkeit des Menschen: Lear und Familie. Oder: Wie das Alter Sinn bekommen
kann.
Der Virtuose
der Schauspielkunst Jürgen Holtz
erzählt in Wider die Verzwergung Frank M.
Raddatz aus seinem Schauspielerleben. Stationen im DDR-Theater,
Erfahrungen mit dem Freiraum der Bühne, zermürbende Disziplinierungsmethoden
sowie Arbeiten mit Regisseuren wie Adolf Dresen, Ruth Berghaus, B.-K. Tragelehn,
Einar Schleef, Heiner Müller, Peter Stein, Claus Peymann oder Robert Wilson.
Konkrete Rollenideen entfalten die Innenansichten eines Schauspielers, der sich
auf die Meister des Zen beruft, wenn er Gesten und Sätze mit der Präzision eines
Bogenschützen ins Dunkel des Zuschauerraums schickt. „Im Grunde geht es um
eine Kombination von Denken und Spiel. Denken kann man nur, wenn man frei ist,
auf der Bühne und im Zuschauerraum. Wer bedrängt wird, kann nicht frei denken.
Um diese Freiheit zu schaffen, will ich die Figur öffnen, und ich öffne sie mit
einer Rollenidee. Wenn diese Offenheit herrscht, können die Zuschauer mitdenken.
Es geht um diese Offenheit.“
Der
Schauspieler Thomas Hodina erzählt in
Eine Probe von psychischen Dynamiken eines Theaterensembles. Was schweißt
eine Truppe zusammen, welchen Einflüssen ist sie ausgesetzt? Wie wirken Affären,
Gerüchte, Intrigen? Wer übt wie Macht aus? Wie stark wirken Loyalität,
Solidarität, Ehrgeiz, Eitelkeit und Eifersucht, wie kollidieren sie mit dem
Erfolgswillen eines jeden? Wie geht der Schauspieler mit jener Einsamkeit um,
die bleibt, wenn Probenintensität und Premierenglanz verfliegen, wenn Maske und
Kostüm abgelegt sind? Welche Bedeutung hat der Intendant und welche Macht der
Pförtner?
Marleen Stoessel hat das Pariser Théâtre des Bouffes du
Nord besucht und Peter Brooks Theaterreisen ins menschliche Gehirn
gesehen. Der fast neunzigjährige Maestro versucht, neuropsychologische
Forschungsergebnisse auf die Bühne zu bringen. Seine Reisen in die phantastische
Landschaft des menschlichen Gehirns mit ihren Hügeln, Tälern und Meeren
durchquert die ganze Welt in Nervenbahnen, Synapsen und Verschaltungen. Eine
Annäherung an das Rätsel der Schöpfung, ein Staunen vor jenem Krümel Nichts, aus
dem ein ganzer Kosmos entsprungen ist. Brooks Spiel mit Kunst und Wissenschaft
erinnert an seine Theaterlebensreise durch die Kontinente Shakespeare und
Tschechow, durch die Kulturen Europas, Afrikas und Asiens, die seine Regiearbeit
genährt haben.
Marek Kędzierski spricht mit einem explosiven und fesselnden Theater-
und Opernregisseur: Romeo
Castellucci. Hamlet, die Orestie, die Göttliche
Komödie, Julius Caeser, Orpheus und Euridike oder Becketts
Neither – spektakuläre Inszenierungen haben seinen Ruhm begründet. Ein
Universum ungewöhnlicher Bühnenwesen bevölkert Castelluccis Räume. Er arbeitet
mit Amateuren, Kindern, Tieren, Maschinen, mit Feuer. Seine Inszenierungen sind
Interventionen, Angriffe, Invasionen, Stachel, die die Schutzmechanismen einer
Gesellschaft aufbrechen. Die Reaktionen des Publikums sind vehement. Das
Gespräch erkundet die Hintergründe seines spektakulären Versuchs, das universale
Zeichenrepertoire von Oper und Theater zu erweitern. „Mein Theater ist aus
der Malerei geboren. Ich präsentiere Bilder, um sie zu überwinden. Bilder werden
durch Bilder bewältigt, Bilder brennen. Ein Ort, an dem Bilder verbrannt werden,
das ist das Theater, wie ich es liebe.“
Vom
politischen Potential der Schönheit sprach Heiner Müller in einem seiner letzten
Interviews. Heiner Goebbels,
Komponist und Regisseur, Verfechter eines antirepräsentativen Bildtheaters,
greift diesen Gedanken in seinem Dialog mit Frank M.
Raddatz auf, um im Kontext eigener Arbeit die Zukunft des
polyzentrischen Musiktheaters zu diskutieren. Er kritisiert einen unzeitgemäßen
Theaterbegriff. Selbst Künstlern, Malern oder Intellektuellen fehlen aktuelle
Seherfahrungen. „Wir sind noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen.“
Gegen das Regietheater postuliert Goebbels Die Utopie der Form und
plädiert für eine polyphone Ästhetik, für die Offenheit von Kunsterfahrung und
die Ermächtigung des Zuschauers. Nicht Deutungshoheit der Regisseure verhilft
der Bühne zu unerwarteter Kreativität, sondern an den Grenzen des Berechenbaren
entsteht das Neue. Die Zukunft ist aufs engste mit der Innovationsfähigkeit der
Theaterinstitutionen verbunden, die dringend reformiert werden müssen, um beim
Theater von morgen nicht ins Hintertreffen zu geraten.
Das
postdramatische Theater ist Konzept und Praxis der Stunde, es ist eine
Inszenierungsweise, in der wir nichts von dem finden, woran wir im dramatischen
Theater gewöhnt sind: Figürlichkeit, Narration, Sujet, Textorientierung,
Geschlossenheit. Das postdramatische Theater folgt vielerlei Logiken. Es ist
monologisch, chorisch, visuell, musikalisch, kinematographisch, körperlich und
vielgestaltig. Es geht einher mit dem Verlust von Professionalität. Doch für
Marina Dawydowa ist etwas anderes
noch wichtiger: die Rolle des Zuschauers, die Verbindung von Kunst und
Lebenskunst. „Es scheint, als
wäre die Unvollkommenheit des postdramatischen Theaters Grundprinzip seiner
Existenz. Doch handelt es sich um eine besondere Unvollkommenheit. ... Splitter
von menschlichen Emotionen, durchlebten Erfahrungen, Ausrufen, Gedankengängen,
unfertigen Geschichten liegen nicht nur einfach ohne Form auf der Bühne, sondern
appellieren buchstäblich an die Betrachter: ‘Los, hebt uns auf, dreht uns, bringt uns in
irgendeine Ordnung! ’ (...) Dieses Phänomen einer absolut offenen
Theaterstruktur schließt das Auftauchen ‘alter Meisterwerke’ aus, läßt deren
Verhältnismäßigkeit, Harmonie, Logik, ihre kathartische Wirkung verschwinden und
auch den Effekt einer gewissen Abgeschlossenheit. (...) Deshalb kann man das
postdramatische Theater nicht fixieren wie eine Gegebenheit. Es ist keine
Gegebenheit, sondern eher ein Teil des schwierigen Prozesses, von der Kunst hin
zu etwas, das man die ‘Lebenskunst’ nennen könnte."
Der Brechtschüler Hans Jürgen Syberberg erläutert in Sandbüchsenästhetik seine Formexperimente in Film und
Theater. Seine strenge Ästhetik erweist sich als aufschlußreiche, wenn auch kaum
verortete Station zwischen epischen und postdramatischen Theaterformen. Die
Auseinandersetzung mit dem ästhetischen Messianismus, wie er insbesondere der
deutschen Tradition eignet, nimmt die Frage nach dem verfemten Pathos auf und
spannt den Bogen von Hölderlin und Kleist zu Einar Schleef, Robert Wilson und
Heiner Müller.. Syberberg skizziert
seinen Weg von Karl May, Ludwig II, Hitler und die
Marquise von O.... Seine späten Arbeiten schlagen einen ungewöhnlichen
Weg ein, weg von Tragödie und Drama. Der Monolog Die Nacht mit Edith
Clever als einziger Schauspielerin läßt das Innere des Menschen zum Schauplatz
des Welttheaters werden.
In die Knie
geht Georges Banu vor William
Shakespeare und legt dem großen Anonymen eine Liebeserklärung zu Füßen: „...
Du hast das Leben niemals amputiert, sondern verdichtet, ohne etwas zu
verwerfen. Die Könige und Trunkenbolde, die Liebenden und Verräter, keiner
fehlt. Sie sind nicht isoliert, sie existieren zusammen, und damit konfrontierst
Du uns: daß man zusammenlebt, die Gemeinschaft in ihrer ganzen Vielfalt
anerkennt. Du hast die Kunst des Theaters zum höchsten Rang erhoben ... Dieses
Theater ist einmal Spiegel der Welt und dann falscher Feuerlärm. Du hast es
geliebt und gegeißelt, wie es dies verdient. Du hast nie an eine einzige
Wahrheit geglaubt. Alles kann sich in sein Gegenteil verkehren, nichts ist
sicher, weder Taten noch Wertungen ... Du hast mich gelehrt, daß das Theater von
der Welt ausgeht und in den Traum hinübergleitet ... Du bereitest mir das Glück
dieses unermüdlichen Übergangs, der für immer zwischen der verdichteten Welt und
dem unwirklichen Traum schwebt ... Dank für ein Theater zwischen Welt und
Traum!“
KUNSTAKTIVISMUSKann Kunst als Schauplatz und Medium für politischen
Protest und sozialen Aktivismus dienen? Können Kunstaktivisten die Welt
verändern und gute Künstler bleiben? Führt Kunstaktivismus als Verbindung von
Kunst und Engagement nicht zu einer gefährlichen Ästhetisierung der Politik?
Keineswegs, meint Boris Groys, denn
„Ästhetisierung“ bedeute, nicht Objekte für Benutzer attraktiver zu machen,
sondern sie zu defunktionalisieren, ihre Verwendbarkeit zu sabotieren, das
Absurde, Unnütze an ihnen zu enthüllen. Groys skizziert eine Kunst, der
es um eine philosophische Metanoia, um eine horizontale Umkehr des Blicks geht
und zugleich um Kenosis, um den Verzicht auf ein Fortschreiten zur
Vollkommenheit. „Man kann die Welt ästhetisieren und zugleich in ihr handeln.
Totale Ästhetisierung blockiert politisches Handeln nicht, sondern erweitert es.
Totale Ästhetisierung bedeutet, daß wir unsere Epoche als schon tot, den Status
quo als aufgehoben betrachten. Es bedeutet weiter, daß jede Aktion, die auf
Stabilisierung des Status quo zielt, letztlich fruchtlos – und jede Aktion, die
auf Zerstörung des Status quo zielt, letztlich erfolgreich sein wird. Totale
Ästhetisierung eröffnet der politischen Aktion ihren äußersten Horizont ...“
PILGER UND
POETEN
Hans Günthers Essay Revolution und Melancholie folgt den Schaffens- und Leidenswegen zweier Dichter und Außenseiter, Friedrich Hölderlin und Andrei Platonow. In ihren Hauptwerken verarbeiten sie ihre gescheiterten Hoffnungen auf die großen historischen Umwälzungen ihrer Zeit, die französische und die russische Revolution. Ihr Enthusiasmus war erloschen, doch ihr inneres Feuer glomm unter der Asche weiter und suchte sich dichterische Ausdrucksformen.
Hans Günthers Essay Revolution und Melancholie folgt den Schaffens- und Leidenswegen zweier Dichter und Außenseiter, Friedrich Hölderlin und Andrei Platonow. In ihren Hauptwerken verarbeiten sie ihre gescheiterten Hoffnungen auf die großen historischen Umwälzungen ihrer Zeit, die französische und die russische Revolution. Ihr Enthusiasmus war erloschen, doch ihr inneres Feuer glomm unter der Asche weiter und suchte sich dichterische Ausdrucksformen.
Farbige
Steine, mystische Steine, böse Steine, helfende, duftende, geträumte Steine,
heilige Steine, Steine, die von Geistern, Seelen, Gefangenen bewohnt sind,
sammelt und verstreut der poetische Essayist Eliot Weinberger. Steine aus der Mystik des
13. Jahrhunderts, aus Gedichten des Himalaya, Steine der Yoruba-Götter,
anatolischer Erdgottheiten und des Candomblé, Steine des Orpheus, Sir Walter
Raleighs, der Kabbalisten, Steine von Sitting Bull, Steine aus der Tang-Dynastie
und Steine der Jains – sie alle sind ihm „Abglanz der Farbigkeit der Welt und
sie alle stecken voller Geheimnisse“: Kalender der Steine.
Aus der
geheimnisvollen Truhe literarischer Hinterlassenschaften des portugiesischen
Dichters Fernando Pessoa stammt die
Erzählung Der Pilger. Ein glücklicher, wohlbehüteter Mensch wird von
tiefer Unruhe und Drang zur Veränderung ergriffen, und so folgt er dem Ruf eines
mysteriösen Unbekannten, sich auf den Weg zu machen, auf einen Lebensweg zur
Initiation und zur Entschlüsselung existentieller Rätsel. Er verläßt den
gesicherten Pfad und folgt einer unbestimmten Sehnsucht, Sinn zu ergründen.
Seine immer neuen Aufbrüche führen zu immer neuen schmerzvollen Abschieden von
Menschen, Leidenschaften und Liebe. Die mysteriöse und glanzvolle Geschichte
eines mephistophelischen Paktes, bei dem der Verführer ein anderer ist als die
Kraft, die stets verneint.
Thanássis
Valtinós berichtet von Lebensschicksalen, geprägt von Armut,
Emigration, Verlust und Bitterkeit. Sein Protagonist ist ein junger griechischer
Partisan, der nach heroischem Kampf und Widerstand gegen die Deutschen, aus
Armutsgründen gezwungen ist, auszuwandern. Seine zurückgebliebene Familie will
er durch Arbeit in New York ernähren. De lebenslange Anstrengung fern der
Heimat, das Opfer einer ganzen Lebensspanne führt zu Einsamkeit und schließlich
Scheitern. Die Familie zerbricht, das Opfer war vergebens. Die alte Heimat ist
verloren, die neue fremd geblieben. Kostas und Marina – ein bitterer
Blick auf das Griechenland der 50er und 60er Jahre und die Emigrantenschicksale
nach dem Bürgerkrieg.
PHOTOPORTFOLIODie Künstlerin Ayumi
Tanaka wurde in Japan geboren und lebt in New York. Hide and
Seek heißt die Serie ihrer photographischen Dioramen, in der sie sich
künstlerisch auf die Suche nach ihrer verlorenen Zeit begibt. In ihren
traumgleichen Landschaften verschmelzen Sehnsuchtsbilder und
Schreckensszenerien, skurrile Assoziationen und Wunschphantasien, Albträume und
Wunschbilder, Kindheitserinnerungen, Märchenhaftes sowie Filmsequenzen der
Gegenwart. Ihre Collagen bringen Bilder aus Familienalben, Scherenschnitte und
die Ikonographie des Internets zusammen, ihre photographischen Dioramen sind
Ströme des Unbewußten, ein Magma visueller und emotionaler Überlagerungen. Sie
lädt uns ein zu einer phantastisch-turbulenten Reise in die Wildheit und Chaotik
einer erwachsenen Kindheit.
RÄTSEL DES
KORANSGeschockt und ungläubig
schaut die westliche Welt auf die Gewaltexplosion im Nahen Osten und den
jüngsten Siegeszug des Islamismus. Der Irakkrieg ist gescheitert und der naive
Interventionsoptimismus hinsichtlich Libyen und Syrien verflogen. Statt einer
Demokratisierung der Religion, erleben wir einen Alptraum epidemischer Gewalt
und islamistischen Fanatismus. Vormals säkulare Staatsgebilde desintegrieren
sich, Hunderttausende sind auf der Flucht. Wie hängt dies mit dem Glaubenssystem
des Islam zusammen? Der Koran ist das heilige Buch einer Offenbarungsreligion
und nach dem Dogma des Islam die wörtliche Offenbarung der Gedanken Gottes.
Koranforschern stellt sich das heilige Buch als etwas Gewordenes dar, in seiner
Verfertigung, den Kämpfen und Einflüssen seiner Entstehungszeit unterworfen. Der
in Kalifornien lehrende, libanesische Religionswissenschaftler, Suleiman Mourad, beschreibt in einem
tiefschürfenden Gespräch mit dem britischen Historiker Perry Anderson die Entwicklung des Islam,
seines heiligen Buches, seines Propheten, seiner Nutznießer, seiner Anhänger.
Der Koran entstand zwischen 610 und 632. Als Mohammed starb gab es nur
Erinnerungsfragmente an die Lehren des illiteraten Propheten und erst 650
entstand eine kanonische Version auf Betreiben des Kalifen Uthman, der
befürchtete, daß divergierende Versionen die Muslime spalten könnten. Wie und
warum unterschieden sich die vergleichsweise toleranten Verse von Mekka zwischen
610 und 622 von den kämpferischen Texten aus Medina? Wie wurde Mohammed von
einer einfachen religiösen Persönlichkeit zum Propheten und Staatsmann? Wodurch
nahm die Aggression gegen andere religiöse Lehren zu? Welche Rolle spielt die
Sprache im Koran? Wie entstand die Feindschaft gegenüber Christen und Juden?
Welche Bedeutungen kommen Scharia und Sunna zu und wer bestimmt, was Dschihad
ist? Welche Rolle spielen die Erfahrungen der Kreuzzüge? Welche Bedeutung hatten
das Osmanische Reich oder die Mandatsherrschaft Großbritanniens und Frankreichs
nach dessen Ende zu? Welches Gewaltpotential birgt der Konflikt zwischen
Sunniten und Schiiten? Wohin treibt die islamische Welt? Eine Tiefenexploration
der Rätsel des Buches.
BRIEFE
& KOMMENTAREDie
südafrikanische Dichterin Antjie Krog
rührt an ein heikles Thema der Entwicklung des Landes nach dem Ende der
Apartheid. Vom Traum eines kooperativen harmonischen Zusammenlebens der Weißen,
Schwarzen und Mischlinge ist nicht viel geblieben. Die Afrikaaner stehen vor den
Trümmern der weißen Gesellschaft. Ihre Lebenswelt zerfällt: ihre Helden
wurden als Mörder entlarvt, ihre Sprache mißachtet, ihre Werte desavouiert, ihre
Lebensweise bedroht. Es handelt sich um einen Zerfallsprozeß im Endstadium. Die
Zukunft der Weißen im mehrheitlich schwarzen Südafrika sieht düster aus. Der
„weiße“ Traum von Südafrika ist ausgeträumt.
Der
Soziologe Márcio Seligmann-Silva
widmet sich seiner Heimat Brasilien. Sein Bild schwankt zwischen dem eines
Paradieses auf Erden mit überbordenden Natur und glücklichen, warmherzigen
Menschen und dem eines anus mundi, eines Infernos, das von Barbarei,
Gewalt und Rechtlosigkeit geprägt ist. Es strahlt Faszination und Furcht aus,
vielen gilt es als Land der Zukunft, anderen als hoffnungsloser Fall: eine
ungleiche Verteilung von Grund und Boden, Vermögen und Einkommen; gewalttätige
Konfliktregelung; Ausbeutung und Zerstörung der Natur; megalomane Bauvorhaben;
chronische Ungleichheit, Polizeiwillkür. Doch ist etwas in Bewegung geraten –
und bisher marginalisierte Schichten fordern Selbstbestimmung. Ernüchterung nach
dem Fußballrausch – Brasilien, Licht und Schatten.
Rätseln um
die Identität des Schriftstellers B. Traven geht Wolfgang Bittner nach. War Traven tatsächlich
ein illegitimer Sohn von Kaiser Wilhelm II? Oder war er im
preußisch-brandenburgischen Schwiebus geboren und hieß Otto Feige? War er
identisch mit dem anarchistischen Revolutionär der Münchner Räterepublik, Ret
Marut? Hat er das Totenschiff oder den Schatz der Sierra Madre
eigentlich selbst geschrieben? Warum hat er so viele Geheimnisse mit ins Grab
genommen? Bittner reist durch Mexiko, und recherchiert im Milieu deutscher
Emigranten, zumeist Künstler und Intellektuelle, die vor den Nazis nach Chiapas
geflüchtet waren. Durch ein Dickicht von Gerüchten und Beschuldigungen,
Indiskretionen und Vermutungen versucht Bittner, das Identitätspuzzle
zusammenzufügen. B. Traven kam als Ret Marut aus München, aber in Mexiko ließ er
den Bayern sterben: B. Traven wurde geboren.
KORRESPONDENZENUrvashi Butalia berichtet von den politischen Umbrüchen in Indien.
Nach der Machtübernahme durch die hindufundamentalistische Bharatiya Janata
Partei, welche die Wahlen mit großer Mehrheit gewonnen hat, trägt
Premierminister Modi eine säkulare, konziliante Rhetorik zur Schau, beginnt
jedoch gleichzeitig, wichtige Positionen im Staatsapparat mit Gefolgsleuten zu
besetzen. Er attackiert kritische NGOs, beschweigt Gewalt gegen Frauen und
fördert rechte Hinduideologen. Die Autorin befürchtet, der Traum von einem
säkularen, pluralistischen, multikulturellen Indien könnte bald und für lange
Zeit ausgeträumt sein.
Michail Ryklin beschreibt die Atmosphäre in Moskau, welche die
Kämpfe und die Kriegsgefahr um die Ukraine ausgelöst haben. „Man hat den
Eindruck, als seien die Menschen durchdrungen von der allgegenwärtigen
Propaganda, aus der sie einen Teil ihrer Emotionen schöpfen, und als spürten sie
andererseits instinktiv, daß etwas Übles auf sie zurollt ...“ Aggressivität,
Schimpfen auf Amerika, Verunsicherung und Auswanderungsphantasien, die
allgemeine Hysterie erinnert Ryklin an Menschen am Rande des
Nervenzusammenbruchs. Ihr Lechzen nach neuen Siegen der russischen Waffen
kompensiert ihre Ohnmacht in einem autoritär geführten Staat. Für Ryklin ist
dieser Krieg die Quintessenz des Putinismus, eines Regimes, das auf Verhehlen,
Geheimhaltung und Desinformation aufgebaut ist und unterschiedliche Ideologien –
nationalistische, orthodoxe, imperiale, liberale – zynisch zu eigenen Zwecken
einsetzt.
„Mangiare
italiano!“ Italien wird von einer Welle narzißtischer Selbstvergötterung
erfaßt, das Banner der italianitá wird geschwungen. Nicht nur in Werbung
und Produktmarketing ist der neue Patriotismus zu spüren, sondern auch in
fremdenfeindlichen Stimmungen. Diese richten sich gegen Einwanderer, aber auch
gegen Deutschland, das dem Land vermeintlich eine strangulierende Sparpolitik
aufzwingt. Italien gilt als eines der homogensten Länder der Welt, doch ist es
in sich heterogen. Separatistische Bewegungen in Sizilien, in Südtirol, im
Norden waren immer virulent und lange kannte die einfache Bevölkerung nur lokale
Dialekte. Der Nationalstaat Italien ist eine Erfindung gebildeter Schichten.
Unter der Oberfläche aber schwelt auch heute noch, ganz wie in Katalonien, im
Baskenland, in Schottland, in der Südostukraine oder „Padanien“, die Logik der
Differenz. Sergio Benvenuto über
Hundert Prozent Italienisch.
BÜHNENBILDER, KUNST & PHOTOGRAPHIE
kommen von Thomas Aurin, Wonge Bergmann, Lenore Blievernicht, Mario
del Curto, Luca del Pia, Leonard Freed, Stephan Glagla, Klaus Grünberg, Josef
Koudelka, Theresa Lange, Klaus Lefebvre, Trent Parke, Julia Oschatz, Sonja
Rothweiler, Jerome Sessini, Pascal Victor
Wir wünschen Ihnen inspirierende
Lektüre und muntere Tänzchen mit unseren Theatergeistern! Hals und
Beinbruch!
Mit freundlichen Grüßen,
Lettre
International
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Sie sind herzlich willkommen an unserem Stand auf der Frankfurter Buchmesse vom 8. bis 12. Oktober 2014: Halle 4.1, F 76–80.
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