Mittwoch, 7. März 2012

Zum Tag der Lyrik


Roser Amills Bibiloni – Gedichte aus »Morbo« (Krankhaftes)
Übersetzung aus dem Katalanischen: Klaus Ebner

Soroll i paraules 

Gràcies per jugar al soroll, abans,
de voler explicar-ho tot sense embuts.

Podríem ser tan feliços
si ara mateix et sabés dir tot just
una paraula a cau d'orella rera l'altra,
a poc a poc com baixen les velles de l'autobús, una paraula humida, sorrenca, entusiasta
que estrenyés l'eco fins a morir
entre la meva boca i la teva orella
com un petit orgasme paraula.

Però no m'entens, no encara,
i cal escriure més de sexe,
de les formes de mutació,
exhibició i transgressió dels límits
que permetin elaborar
una variant pròpia d'un mateix,
una que no panteixi ressagada
o per a que senzillament sembli que no són
sempre els mateixos
el que estan parlant del mateix.

Té a veure amb la possibilitat
d'assumir el problema
la diferència
el problema
la nostra època.

Follar no és difícil, ara,
el que és complicat és explicar-ho
sense caure en una taca de mel
o en una piscina sense aigua,
cal parlar de tot això amb naturalitat
amb la teva mare, amb la veïna,
amb un fill adolescent
o un vell desconegut que no parla,
cal vèncer els tabús de la paraula que tremola
i, en el seu desequilibri,
enxampar el ritme de cop,
trobar un acord estètic i morrejar-lo
al terra de l'habitació
mentre m'encules amb tota l'ànima
cal ser una interlocutora còmoda
quan l'altre no vol dir què li passa,
jugar a tots els jocs de tot o res,
menjar-te i tòrcer i abandonar el diccionari
cada matinada de gats suaus en l'aire,
cada hora de perfum fresc, d'asfalt,
cada harmonia dintre de cada cotxe
del pell funambulita i trempada
i per sobre de tot

cal no perdre de vista el morbo
de provar de dir d'allò que no comprenem
la milionèsima diferencial que és
per a cada un de nosaltres.


Lärm und Worte

Vorerst dank ich dir für deine Worte,
den Wunsch, das alles unumwunden auszusprechen.

Wir wären so glücklich,
wenn ich dir in diesem Augenblick ein Wort
nach dem andern ins Ohr sagen könnte, so
nach und nach, wie alte Frauen dem Bus entsteigen,
ein feuchtes, sandiges, enthusiastisches Wort,
welches das Echo bis zum Verenden erdrückt,
zwischen meinem Mund und deinem Ohr,
wie ein kleiner Wortorgasmus.

Aber du verstehst mich nicht, noch nicht,
und ich muss über Sex schreiben,
über die verschiedenen Arten der Verwandlung,
des Sich-Öffnens, der Grenzverschiebungen,
die es ermöglichen,
ein eigenes Bild von einem selbst  zu zeigen,
eines, das nicht vor Verzopftheit stöhnt
oder zumindest nicht den Eindruck erweckt, es seien
stets dieselben,
die über dasselbe reden.

Das hat mit der Möglichkeit zu tun,
das Problem anzunehmen,
den Unterschied,
das Problem,
die Eigenart unserer Zeit.

Ficken ist nicht schwierig heutzutage,
kompliziert jedoch, es zu erklären,
ohne in einen Klecks Honig zu fallen
oder in ein Schwimmbecken ohne Wasser,
man muss darüber in aller Natürlichkeit reden,
mit der Mutter, der Nachbarin,
mit seinem halbwüchsigen Kind
oder einem unbekannten Alten, der nicht spricht,
man muss die Tabus des Wortes besiegen, das
in seinem Ungleichgewicht zittert,
den Rhythmus in flagranti ertappen,
ein ästhetisches Einvernehmen finden und auf dem
Zimmerboden abknutschen,
während du mich beherzt von hinten nimmst,
das muss schon eine bequeme Gesprächspartnerin sein,
wenn der andere verschweigt, was mit ihr passiert,
alle Spiele um alles oder nichts spielen,
dich vernaschen, auspressen, aufs Wörterbuch pfeifen,
jeden Morgen mit diesem gewissen Etwas in der Luft,
jede Stunde mit dem frischem Parfum, von Asphalt,
bei jeder harmonischen Stimmung in jedem Auto
mit wagemutiger, kerngesunder Haut
und überhaupt wegen allem

sollten wir nicht das Krankhafte aus den Augen verlieren,
das zu sagen, was wir nicht verstehen,
den millionsten Unterschied, der
für jeden von uns gilt.



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Martin Dragosits



KONSEQUENZ


Ich spüre nur zu gut
dass sie mich gerne denunzierten
und sogar mal brennen ließen
weil mein Wort
in freier Form
den Bogen überspannt

der zwischen Sonntagszeitung
Bier und einem Lied
im Wirtshaus
gemeingewöhnlich
dargeboten werden darf

Ich übertreibe
bin verdächtig
ganz allein
durch Gegenwart

ich lebe liebe schreibe
weil mein Gewissen
es verlangt



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Nora Dubach


                                       Nackt
In den Medien
erhält man
an- gezogen
mehr Beachtung
als aus-gezogen
ausdruckslose nackte
Schaufensterpuppen
schockieren ebenso wenig
wie das etablierte
Nacktsein
ausgespuckt aus
Schönheitskliniken  

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Stephan Eibel Erzberg


ruf der straße

Stephan

Wisch ab mir die speibe
besorg mir a bleibe
und nimm weg mei gicht
das wär a gschicht
und ein sozialgedicht

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Maria Hammerich-Maier

Zum All

An den Wegrändern
balanciere ich
tänzelnd

Dort, wo das Erdreich
den Horizont schließt
mit dem Teer

Die Toten
rollen mir Erdklümpchen
unter die Sohlen

Und die Lebenden
Teppichläufer
aus rostigem Nadelhaar

Dort, wo verlorene Hunde
scheu schielen
aus heimatsüchtigen Augen

Zu mir, wie ich balanciere
über den Schründen
von Leben und Tod

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Marián Hatala

ein schrecklicher herbst anfang juni

manchmal nur so
gehe ich vor die tür meiner wohnung
und läute bei mir selbst

und manchmal wieder
mache ich nicht einmal mir selbst auf
mache nicht auf

ich sage mir
- ich bitte dich
  wem wolltest du schon aufmachen?

oder aber
- wer sollte denn um diese zeit schon
   läuten?

und ich kehre
zurück an die schreibmaschine
mir selbst entgegen
während durch das fenster
bis zum ertauben
der abend kühl
schwarzes laub
meine verblühten morgigen tage
direkt in meine seele weht
bis mir bang wird
bis mir die kehle

zuschnürt


strašná jeseň na začiatku júna

niekedy len tak
vyjdem pred dvere svojho bytu
a zazvoním sám sebe

a niekedy zas
ani len sám sebe
neotvorím

vravím si
- prosím ťa komu by si už len
  otváral?

alebo
- kto by o tomto čase
  zvonil?

a vraciam sa späť
k písaciemu stroju
sám sebe v ústrety

zatiaľ čo za oknom
do ohluchnutia padajú
studené čierne listy
moje odkvitnuté zajtrajšie dni
mi padajú rovno do duše
až je úzko
až je okolo hrdla najužšie

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Franz Hofer

Franz Hofer


Angst, vertraute Unbekannte
blickst mich tiefer
aus deinen blauen Augen.
Unschuldiges Kinderglotzen.
Dein Vorwurf säugt den Raum,
als hätte ich vergessen,
daß ich dich zum Essen geladen.
Würgen in der Kehle,
Erstaunen zwischen zwei Zeilen
im Auflösen eines Wortes
und kein Schrei,
der Tag in zwei Hälften
einer Flucht teilt.


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 Barbara Holpfer

o. T.


hör doch!
                        rauschen (lass mich ...)
                        plätschern (hab mich ...)

                                                                                    schlechte voraussetzungen!

wer ist ertrunken
wann
wo und
wie oft
                                    gestreichelt (planken)
                                    auch gestreichelt, ja
                                    getragen, ja
                                    umfassend gewesen, ja

                                                                                    geahnt (ersticken)
                                                                                    aber nicht getan, nicht?

schlechte voraussetzungen
sag ich
du bist: so schön, so groß, so stark
und ich ( ... rinnsal ... )
mir kommen die


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Kätlin Kaldmaa

pause


10 sekunden um tief luft zu holen
1 minute um einen anblick zu genießen
2 minuten um ein tässchen tee zu kochen
10 minuten um den kopf klar zu kriegen
20 minuten um die mutter anzurufen
eine halbe stunde um sport zu machen
einige stunden um ein gutes buch zu lesen
einen tag um sich gut zu fühlen
ein wochenende um in die sterne zu gucken
zwei wochen um kraft zu tanken
einen monat um neues zu lernen
einen sommer um wieder kind zu sein
ein jahr um die welt zu entdecken
ein leben um zu begreifen was es bedeutet
oder nur 5 minuten um gar nichts zu tun



Paus

10 sekundit, et sügavalt sisse hingata.
1 minut, et vaadet nautida.
2 minutit, et tassike teed teha.
10 minutit, et pea selgeks saada.
20 minutit, et emale helistada
Pool tundi, et võimelda.
Paar tundi, et hea raamat läbi lugeda.
Päev, et end mõnusalt tunda.
Nädalavahetus, et tähti vaadata.
Kaks nädalat, et jõudu koguda.
Kuu aega, et midagi uut õppida.
Suvi, et jälle laps olla.
Aasta, et maailma avastada.
Eluaeg, et aru saada, mida see kõik tähendab.
Või ainult 5 minutit, et mitte midagi teha.

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Rudolf Kraus

traurig


immer öfter
muss ich weinen

über schicksale fremder menschen
die mir nahegehen

über plötzlich
hereinbrechende melancholie

unvermutet
schießen tränen in die augen

und traurig
bin ich sowieso


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Nina Lechner

                        Blau


Du sagtest zu mir
Der Tag wird heute blau!

dabei war es nur
die blaue Jalousie vor unserem Fenster
und du hattest bloß
deine Brille nicht auf

Ich drehte mich zur Wand
als wollte ich in ihr verschwinden
bevor deine Arme mich umfingen
In dieser Dunkelheit

Daheim
bin ich nur in mir selbst


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Joanna Lisiak

Beim Chinesen

Nach der fetten Peking-Ente
ein Rosenlikör und nicht nur
du und die Worte selbst
mein Rülpser so blumig.



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Ingmar Heytze


SCHRIJFOPDRACHT

Iemand wilde dat ik zou praten met het kind
in mezelf. Ik moest ergens gaan zitten schrijven.
Na een tijdje zou het kind naast me komen staan
en vragen wat ik deed. Dan zou het gesprek
beginnen. Het kind dat kwam was tien jaar oud,
ernstig en bleek, doorschijnend bijna. Het hijgde,
hoestte bloed in een zakdoek, fluisterde: "vertel
me dan" en het gesprek begon.


Uit Nynade no.5´augustus 2008

 
Ingmar Heytze


SCHREIBAUFTRAG

Jemand wollte, dass ich reden würde mit dem Kind
in mir selbst. Ich sollte irgendwo sitzen zu schreiben.
Nach einiger Zeit würde das Kind neben mir zu stehen kommen
und fragen, was ich tu. Dann würde das Gespräch
beginnen. Das Kind, das kam, war zehn Jahre alt,
ernst und bleich, fast durchscheinend. Es seufzte,
hustete Blut in ein Taschentuch, flüsterte: "erzähl
mir dann" und das Gespräch begann.


Aus: NYNADE Nr.  5/August 2008
Übersetzt von Ruud van Weerdenburg


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Cristina Pérez García - Gedichte
Übersetzung: Klaus Ebner
 
(1)

Ich bin eine Person, mir
gleichend. Ich trage eine Uhr, wenn ich will,
doch ich bevorzuge den Sex.
Mir gefällt die Unendlichkeit (sogar
zeichnen könnte ich sie), aber ich lebe
unter Personen und sehe zu,
wie meine endlosen
Tage und Finger sie, wenn sie es wollen,
füllen.
Und den Geliebten, den ich suche,
werde ich eines Tages finden;
denn Menschen sind wir und leben im
selben Körper; oder anders:,
auf diese Weise sage ich ihm, dass
wir bald zueinanderfinden.


Jo sóc una persona, igual
a mi. Duc rellotge, si vull,
però prefereixo el sexe.
M'agrada l'Infinit (fins
el dibuixo i tot) però visc
entre persones i les miro
d'omplir, si volen, dels
meus dies i els meus dits
inacabables.
I, quant a l'amant que busco,
ja ens trobarem un dia;
som humans i vivim dintre del
mateix cos, com qui diu,
així que li dic allò de
fins a nosaltres.


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Karheinz Pichler


spaziergang

der hof
des vollmonds
eine schüchterne blässe

die fledermäuse
die deinen gang
entlang des waldsaums
kreuzen
winden über deinem kopf
unsichtbare kränze

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Horst Samson

AUS DER ALTEN WELT

            für Kurt Drawert

Die dünne Haut der Blätter, Gespräche
Mit mir - über das große Wasser,
Die Fotographie, New York. Der Herbst

Ertrinkt in seinen Farben. In den Kneipen
Verweht der Atem. Am Ende
Des Tages versinkt die Seele, die Zeit - im Glas

Rotwein treibt die Liebe und das Blut
Durchs Universum. Die Einsamen
Verschlafen den Flieder, ihre Kinder

Und die Sprache. Mein Kopf spielt
Cello, die Tage sind Noten
Und gezählt, stehen Spalier für den Tod.


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2 Kommentare:

  1. Wie wär's mal mit einer Lyrik-Anthologie? Passte doch ins Programm, nicht?

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  2. Eine spannende Text auswahl und am #Ende das schönste Gedicht, dass ich seit vielen Jahren gelesen habe! Danke, großartig,
    Paul Zeiher, München

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