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Über Henri Murgers "Boheme" im Perlentaucher
Henri Murger: Die Bohème
Vorwort des Verfassers.
Die Zigeuner, von denen in diesem Buche die Rede ist, haben gar nichts mit jenem Großstadtgesindel zu tun, aus dem sich unsere Boulevarddramatiker ihre Gauner- und Meuchelmördertypen heraussuchen. Sie gehören auch nicht zu jenen Vagabunden, die auf öffentlichen Plätzen als Bärenführer, Säbelschlucker, Verkäufer von diebessicheren Türverschlüssen, Glücksbudenbesitzer und dergleichen ein ebenso interessantes wie für sie selbst einträgliches Gewerbe betreiben.
Das Zigeunertum, das hier beschrieben wird, ist überhaupt nicht der Gegenwart entsprungen, es hat zu allen Zeiten und an allen Orten bestanden und kann sich einer erlauchten Herkunft rühmen. Schon im alten Griechenland – um nicht weiter in die Vergangenheit hinabzusteigen – gab es einen berühmten Zigeuner, der auf gutes Glück die blühende jonische Landschaft durchstreifte, von Almosen lebte und des Abends die Leier, zu deren Klang er die Liebesabenteuer der Helena und den Fall Trojas besungen hatte, an irgendeinem gastlichen Herde aufhing. Auch später finden wir die Vorgänger der modernen Zigeuner in allen Epochen der Kunst und Literatur. Im Mittelalter sind es die fahrenden Schüler, die Troubadoure und Minnesänger, die mit Felleisen und Harfe durch das Land zogen, die die blühende Tourraine mit ihrem heiteren Gesang erfüllten und um die goldene Rose in den Blumenspielen der Clemence Isaure kämpften.
Auch in der Zeit des Übergangs zur Renaissance fährt das Zigeunertum fort, die Straßen Frankreichs und sogar schon etwas die der Stadt Paris zu durchschweifen, da ist vor allen Meister Pierre Gringoire, der Freund der fahrenden Bettler und Feind der Enthaltsamkeit. Mager und ausgehungert, wie es nur ein Mensch sein kann, dessen ganzes Leben nichts als eine ewige Fastenzeit ist, schlendert er durch die Straßen der Stadt, die Nase in der Luft wie ein Jagdhund, und schnüffelt nach den Gerüchen der Speisehäuser und Garküchen. Vor seinem gierig brennenden Blick scheinen die Schinken, die an den Haken der Schlächter hängen, zusammenzuschrumpfen, während er im Geiste – aber leider nicht in den Taschen – die zehn Taler klimpern läßt, die ihm die Herrn Schöffen für den ›sehr andächtigen und sehr erbaulichen Schwank‹ versprochen haben, den er für das Theater im Saale des Gerichtshauses dichtete. Neben diesem schmerzerfüllten und melancholischen Antlitz des Geliebten der Esmeralda kann die Chronik des Zigeunertums ein weniger abgezehrtes und lebensfroheres Gesicht heraufbeschwören, das des Meisters François Villon, des Geliebten jener Schönen, ›die eine Dirne war‹. Poet und Vagabund im echtesten Sinne der Worte war dieser Mann, dessen Verse, wohl infolge eines inneren Vorgefühls, eine merkwürdige Angst vor dem Galgen widerspiegeln. Und er entging ja auch dem Schicksal, eines Tages wegen eines Münzverbrechens daran aufgeknüpft zu werden, nur mit genauer Not. Dabei hat dieser selbe Villon, der mehr als einmal die ihm auf den Fersen befindliche Polizei außer Atem zu setzen wußte, dieser lärmende Gast in den Absteigequartieren der Rue Pierre-Lescot, dieser Schmarotzer am Hofe des Zigeunerherzogs, dieser Salvator Rosa der Poesie, Elegien von so mitreißender und echter Empfindung gedichtet, daß selbst die Hartherzigsten davon erschüttert werden und den Straßenräuber, den Vagabunden und Wüstling vergessen vor den göttlichen Tränen dieser Muse.
Übrigens hat von allen, deren Werke eine Zeit nicht mehr liest, die die französische Literatur erst mit Malherbe beginnen läßt, François Villon wohl die Ehre gehabt, am meisten durch bekannte Literaten, besonders auch durch die großen Bonzen des modernen Parnasses, ausgeplündert zu werden. Sie haben sich alle auf den Garten dieses Armen gestürzt und Münzen des Ruhms aus seinem verborgenen Schatz geschlagen. Manche Ballade, die der heimatlose Rhapsode an einem frostigen Tage neben einem Meilenstein auf der Landstraße oder unter der Dachtraufe schrieb, manches Liebeslied, das er in der Spelunke improvisierte, in der die Schöne, ›die eine Dirne war‹, jedem, der vorbeikam, ihren goldenen Gürtel löste, sie zieren heute, zu einem von Moschus und Ambra duftenden Liebesgetändel umgeformt, das wappengeschmückte Poesiealbum einer aristokratischen Chloris.
Aber nun taucht das große Jahrhundert der Renaissance auf. Michel Angelo ersteigt das Gerüst der Sixtinischen Kapelle und betrachtet nachdenklich den jungen Raffael, der auf der Treppe zum Vatikan erscheint mit den Kartons der Loggien unter dem Arm. Benvenuto ersinnt seinen Perseus, Ghiberti ziseliert die Türen des Baptisteriums zu der gleichen Zeit, in der Donatello seine Mamorstatuen auf der Arnobrücke aufstellt, und während die Stadt der Medizäer an Meisterwerken mit der Stadt Leos X. und Julius II. wetteifert, schmücken Tizian und Paolo Veronese die Stadt der Dogen, kämpft St. Markus mit St. Peter. Diese fieberhafte Genialität, die mit der Heftigkeit einer Epidemie plötzlich auf der italienischen Halbinsel ausbricht, breitet seine ansteckende Glorie über ganz Europa aus. Die Kunst, diese Nebenbuhlerin Gottes, erlangt königliche Würde. Karl V. bückt sich, um Tizian den Pinsel aufzuheben, und Franz I. wartet im Vorzimmer der Druckerei, in der Etienne Dolet vielleicht gerade die Korrekturbogen des ›Pantagruel‹ las.
Inmitten dieser Wiedergeburt des Geistes fährt das Zigeunertum in alter Weise fort, um einen Ausdruck Balzacs zu gebrauchen, sich Brot und Obdach zu suchen. Clement Marot setzt sich in den Vorzimmern des Louvre fest und wird, bevor die schöne Diane selbst die Favoritin eines Königs wurde, der Favorit jener Dame, die mit ihrem Lächeln drei Regierungen erhellte. Von dem Boudoir der Diane von Poitiers fliegt die ungetreue Muse des Poeten nach dem der Marguerite von Valois, welche gefährliche Gunst Marot mit dem Gefängnis büßen mußte. Fast Zu derselben Zeit kam ein anderer Zigeuner, dessen Jugend am Gestade von Sorrento den Kuß der epischen Muse empfing, Tasso, an den Hof des Herzogs von Ferrara, so wie Marot an den Franz' I. kam. Aber weniger glücklich als der Geliebte der Diane und der Marguerite büßte der Dichter des ›Befreiten Jerusalem‹ die Kühnheit seiner Liebe zu einer Tochter des Hauses Este mit dem Verlust seiner Vernunft und seines Genies.
Die religiösen und politischen Kämpfe, die die Ankunft der Medici in Frankreich begleiten, halten den Höhenflug der Kunst in keiner Weise auf. Zu der Zeit, da Jean Goujon, der die heidnische Kunst des Phidias wieder aufnahm, auf der Place des Innocents von einer Kugel getroffen wurde, fand Ronsard die Dichtung des Pindar wieder und gründete, unterstützt von seiner Plejade, die große Schule der französischen Lyrik. Dieser Schule des Erwachens folgte die Reaktion Malherbes und seiner Anhänger, die aus der Sprache alle fremden Grazien verbannten, welche ihre Vorgänger auf dem Parnaß heimisch zu machen versucht hatten. Und es war ein Zigeuner, Mathurin Régnier, der als einer der letzten die Bollwerke der lyrischen Poesie verteidigte gegen die Phalanx jener Rhetoren und Grammatiker, die Rabelais für barbarisch und Montaigne für dunkel erklärten. Es war dieser selbe Mathurin Régnier, der Zyniker, der neue Knoten in die satirische Geißel des Horaz knüpfte und beim Anblick des Sittenverfalls seiner Zeit ausrief:
›Die Ehre ist ein Gott, dem niemand Opfer bringt.‹
Aus dem siebzehnten Jahrhundert gehört eine Reihe von Namen aus dem Literaturkreis der Epochen Ludwigs XIII. und Ludwigs XIV. zum Zigeunertum. Es hat seine Mitglieder unter den Schöngeistern des Hotel Rambouillet, wo es Beiträge zu ›Juliens Blumenstrauß‹ liefert. Es findet Zutritt zum Palais Cardinal, wo es mit dem Ministerdichter, dem Robespierre der Monarchie, an seiner Tragödie ›Marianne‹ arbeitet. Es bestreut das Schlafzimmer der Marion Delorme mit Madrigalen und huldigt Ninon unter den Bäumen der Place Royale. Das Zigeunertum frühstückt des Morgens in der Schenke der ›Schlemmer‹ oder in der des ›Königsschwerts‹ und speist des Abends am Tische des Herzogs de Joyeuse. Es schlägt sich sogar beim Licht der Straßenlaternen für das Sonett der Urania gegen das Sonett des Hiob. Das Zigeunertum befaßt sich mit Liebe, mit Krieg und selbst mit Diplomatie, und, da es alt geworden, bringt es, müde der Abenteuer, das Alte und das Neue Testament in Verse, bewirbt sich um alle frommen Stiftungen und besteigt endlich, wohlgenährt durch fette Pfründe, einen Bischofssitz oder einen Sessel jener Akademie, die ja auch von einem Zigeuner begründet ist.
Es war beim Übergang vom sechzehnten zum siebzehnten Jahrhundert, als die beiden stolzen Genies aufstanden, die die beiden Länder, in denen sie lebten, wenn sie um ihren literarischen Vorrang kämpfen, immer wieder eins dem andern gegenüberstellen: Molière und Shakespeare, diese berühmten Zigeuner, deren Schicksale nur allzu viele Vergleichspunkte bieten.
Ebenso finden sich die berühmtesten Namen der Literatur des achtzehnten Jahrhunderts in den Archiven des Zigeunertums, darunter die Unsterblichen dieser Epoche, Jean Jaques Rousseau und d'Alembert, der Findling vom Vorplatz der Notre-Dame-Kirche. Ferner unter den weniger bekannten Malfilâtre und Gilbert, die überschätzt worden sind, denn das Feuer des einen war nur ein matter Abglanz des bleichen Lyrismus Jean Baptiste Rousseaus, und das Feuer des andern nur eine Mischung ohnmächtigen Stolzes mit einem Hasse, der nicht einmal die Entschuldigung der Echtheit und Aufrichtigkeit aufweisen kann, da er nur die bezahlte Masse der Ränke und Feindschaften einer Partei war.
Mit dieser Epoche wollen wir die flüchtige Übersicht über das Zigeunertum in den verschiedenen Zeiten schließen. Wir haben diese mit berühmten Namen durchsetzte Vorrede absichtlich an die Spitze dieses Buches gesetzt, um den Leser vor jeder falschen Vorstellung bei dem Wort Zigeunertum zu bewahren, weil man diesen Namen seit langem auch Bevölkerungsklassen zulegt, mit denen diejenigen, deren Sitten und Sprache in diesem Buche geschildert werden, nichts zu tun haben wollen.
Heute wie früher wird jeder Mann, der sich der Kunst widmen will, wenn er sonst keine Existenzmittel hat, als die ihm aus der Kunst zufließenden, gezwungen sein, die Wege des Zigeunertums zu gehen. Die meisten der jetzt lebenden berühmten Künstler sind Zigeuner gewesen, und in ihrem sicheren und glänzenden Ruhm erinnern sie sich oft, vielleicht sogar mit Bedauern, jener Zeit, da sie in der blühenden Jugend ihrer zwanzig Jahre kein anderes Vermögen hatten als ihren Mut, diese Tugend der Jungen, und die Hoffnung, diesen unerschöpflichen Schatz der Armen.
Wir wiederholen also noch einmal zur Beruhigung des besorgten Lesers, des ängstlichen braven Bürgers und überhaupt aller, die alles genau definiert haben wollen, in Form eines Axioms:
»Das Zigeunertum ist die Lehrzeit des Künstlers. Es ist die Vorstufe zu den akademischen Würden oder auch zum Hospital und zur Morgue.«
Und wir fügen hinzu, daß es nur in Paris ein Zigeunertum gibt, und daß es nur dort möglich ist.
Wie jede Gesellschaftsklasse zeigt auch das Zigeunertum verschiedene Abstufungen, die sich noch in einzelne Spielarten zerteilen, so daß es gut ist, ihre unterscheidenden Merkmale festzustellen.
Wir beginnen mit der zahlreichsten Klasse, der der Unbekannten. Sie umfaßt die große Familie der armen Künstler, die ein verhängnisvolles Schicksal dazu verdammt hat, inkognito dahinzuleben, die vergebens nach einem Fleckchen in der Öffentlichkeit suchen, wo sie sich und ihr künstlerisches Vermögen zeigen könnten. Sie sind das Geschlecht der ewigen Träumer, denen die Kunst kein Handwerk, sondern eine Religion ist. Sie sind die Enthusiasten, die wahrhaft Gläubigen, die beim Anblick eines großen Kunstwerks erglühen und mit klopfendem Herzen vor allem Schönen stehen, ohne nach dem Namen des Künstlers und seiner Schule zu fragen. Diese Art Zigeunertum ergänzt sich aus jungen Leuten, die, wie man sagt, zu Hoffnungen berechtigen, und aus solchen, die diese Hoffnungen schon erfüllt haben, dann aber aus Gleichgültigkeit, Scheu oder Unkenntnis des praktischen Lebens glauben, mit dem Schaffen des Kunstwerks sei alles getan und die Anerkennung des Publikums sowie der Reichtum würden jetzt von selbst über sie herabströmen. So leben sie am Rande des öffentlichen Lebens, vereinsamt und untätig. Wie versteinert in ihrer Kunst nehmen sie die Symbole der akademischen Dithyrambe, die eine Aureole um die Stirn der Dichter legen, wörtlich und, überzeugt, daß sie einst auch das Dunkel ihres Lebens erhellen werde, warten sie ruhig, daß man zu ihnen komme. Wir haben seinerzeit eine kleine Schule solcher Typen gekannt, die so seltsam waren, daß man kaum an ihr Dasein glauben wollte. Sie nannten sich die Schüler des › l'art pour l'art‹. Diese ›Kunst um ihrer selbst willen‹ bestand nach der Ansicht dieser Naiven darin, daß man sich gegenseitig in den Himmel erhob, daß man dem Zufall, der nicht einmal ihre Namen kannte, in keiner Weise zu Hilfe kam und abwartete, bis sich das Piedestal ihres Ruhms ihnen von selbst unter die Füße schob.
Man sieht, dieser Stoizismus grenzt an das Lächerliche, aber wir versichern noch einmal, um keinen Zweifel daran zu lassen, daß es im Schoße des verkannten Zigeunertums wirklich solche Typen gibt, deren Elend entschieden unser Mitgefühl erregen würde, wenn uns nicht der gesunde Menschenverstand veranlaßte, wieder davon abzustehen. Denn wenn wir sie ruhig darauf aufmerksam machen, daß wir nun einmal im neunzehnten Jahrhundert leben, wo das Geld regiert und keine blank gewichsten Stiefel vom Himmel fallen, dann drehen sie uns den Rücken und nennen uns Spießbürger.
Im übrigen sind sie in ihrem sinnlosen Heldentum sich selber treu: sie klagen nicht und jammern nicht und ergeben sich widerstandslos dem dunkeln und herben Geschick, das sie sich selbst geschaffen haben. Die meisten sterben an jener Krankheit, die die Wissenschaft nicht beim richtigen Namen zu nennen wagt – am Elend. Und doch könnten viele diesem traurigen Schicksal entgehen, das ihrem Leben zu einer Zeit ein Ende macht, wo im allgemeinen sonst das Leben erst richtig aufblüht. Sie brauchten nur den harten Gesetzen der Notwendigkeit ein paar Zugeständnisse zu machen, indem sie ein Doppelleben begännen und zwei Naturen in sich vereinten: den Dichter, der stets über den Höhen der Menschheit schwebt und dort dem Gesang aus schöneren Welten lauscht, und dem Mann, der in harter Arbeit sich sein tägliches Brot erkämpft. Aber diese Zweiheit, die man immer bei ausgeglichenen Naturen findet und die sogar deren hervorragendes Merkmal sind, sie fehlt den meisten dieser jungen Leute, die ihr Stolz, ihr falscher Stolz, für alle Ratschläge der Vernunft unzugänglich gemacht hat. So sterben sie, vielleicht jung, und hinterlassen manchmal ein Werk, das die Welt zu spät bewundert und das sie vielleicht schon früher gewürdigt hätte, wenn es ihr nur bekanntgeworden.
Es gibt in dem unbekannten Zigeunertum noch eine Unterklasse. Sie besteht aus jungen Leuten, die man getäuscht hat, oder die sich selbst getäuscht haben. Sie halten eine Schwärmerei für ein Berufensein, und getrieben von einem selbstmörderischen Schicksal sterben sie als Opfer ihres Stolzes oder als Sklaven einer Schimäre.
Zu ihnen gehört auch die lächerliche Klasse der Unverstandenen, jener weinerlichen Dichter, deren Muse immer mit rotgeweinten Augen und schlecht gekämmtem Haar herumläuft, und alle die unfähigen Mittelmäßigkeiten, die, weil sie nicht dazu kommen, sich gedruckt zu sehen, die Muse eine Rabenmutter und die Kunst ein Schafott nennen.
Alle wahrhaft starken Geister wissen, daß sie etwas zu sagen haben, und sie sagen es früher oder später. Das Genie und das Talent sind keine Zufälligkeiten im Reiche der Menschheit. Sie erscheinen mit Notwendigkeit und können schon deshalb nicht ewig im Dunkel bleiben. Wenn die Menge ihnen nicht vorangehen will, dann verstehen sie es, der Menge voranzugehen. Das Genie ist wie die Sonne – die ganze Welt sieht es. Das Talent ist wie ein Diamant, der lange im Dunkeln liegen kann, aber immer findet sich einer, der ihn bemerkt. Man tut daher unrecht, wenn man sich von dem Jammern und dem leeren Gerede dieser Klasse von Eindringlingen und Überflüssigen beeinflussen läßt. Sie haben in der Kunst nichts verloren, und sie sind es auch, deren eigentliches Wesen nur aus Faulheit, Ausschweifung und Schmarotzertum besteht.
Schlußfolgerung: »Das Zigeunertum der Verkannten ist kein Weg nach oben, sondern eine Sackgasse.«
In der Tat führt ein solches Leben durchaus zu nichts. Es ist ein verdummendes Elend, in dem der Geist erlischt wie eine Lampe in einem luftleeren Raum und das Herz in wildem Menschenhaß versteint, so daß gerade die besten Naturen am tiefsten sinken. Wer das Unglück hat, zu lange darin zu weilen oder sich zu tief in seine Höhlen zu verirren, der findet nie wieder den Ausweg, denn es gibt hier gefährliche Abwege, die in ein anderes Zigeunertum führen, mit Sitten, die auch vor ein anderes Forum gehören als das der Literaturgeschichte.
Wir haben dann noch eine merkwürdige Abart der Zigeuner zu erwähnen, die man die Liebhaber nennen könnte. Sie sind durchaus nicht uninteressant, für sie hat das Leben der Zigeuner einen verführerischen Reiz. Nicht immer jeden Tag sein Mittagessen zu haben, im Freien zu schlafen, während es in Strömen regnet, im Dezember in einem gelben Nankinanzug herumzulaufen, das scheint ihnen der Gipfel menschlicher Glückseligkeit zu sein, und um es zu genießen, verläßt der eine das wohlgeschützte Vaterhaus, der andere sein Studium, das vor dem glücklichsten Abschluß steht. Sie wenden plötzlich einer ehrenvollen Zukunft den Rücken, um den Abenteuern eines vom Zufall abhängigen Lebens nachzulaufen. Da aber selbst die Kräftigsten eine Lebensweise nicht lange aushalten, bei der eine Herkulesnatur zusammenbrechen würde, so geben sie das Spiel bald wieder auf und kehren reumütig zu den väterlichen Fleischtöpfen zurück. Dann heiraten sie eine Verwandte, lassen sich als Notar in einer Stadt von dreißigtausend Einwohnern nieder, und des Abends am Kamin erzählen sie mit der Genugtuung eines Reisenden, der über eine Tigerjagd plaudert, von ihrem ›Künstlerelend‹. Andere sind hartnäckiger und auch wohl zu stolz, um nachzugeben. Aber sobald sie einmal den Kredit erschöpft haben, den sie als Söhne guter Familien leicht finden, geht es ihnen schlechter als den echten Zigeunern, die außer ihrer Intelligenz niemals andere Hilfsquellen besessen haben. Wir haben selbst einen dieser Zigeuner aus Liebhaberei gekannt, der sich mit seiner Familie überwarf und drei Jahre im Zigeunertum lebte, bis er eines schönen Tages starb und in einem Armenleichenwagen nach dem Armenfriedhof gefahren wurde. Dabei besaß er zehntausend Franken Rente!
Es braucht natürlich nicht erwähnt zu werden, daß diese Art von Zigeunern absolut nichts mit der Kunst zu tun hat und in diesem Milieu das allerunbeachtetste Dasein führt.
Aber jetzt kommen wir zum echten Zigeunertum, zu demjenigen, das in diesem Buche ja zum Teil geschildert wird. Zu ihm gehören die wahrhaft Berufenen der Kunst und mitunter auch die Auserwählten. Auch dieses Zigeunertum starrt von Gefahren, und zwei Abgründe umgeben es rechts und links: das Elend und der Zweifel. Aber es gibt wenigstens zwischen diesen beiden Schlünden einen Weg zum Ziel, das die Zigeuner mit ihren Blicken erreichen können, ehe sie es mit den Händen erfassen.
Man nennt es das offizielle Zigeunertum, weil die dazu Gehörenden mit ihrem Namen schon irgendwie in die Öffentlichkeit gedrungen und so in dem offiziellen Register der Kunst eingetragen sind. Ihre literarischen und künstlerischen Erzeugnisse kommen auf den Markt und finden dort, allerdings zu sehr mäßigen Preisen, ihre Abnehmer. Um das Ziel zu erreichen, das sie sich gesetzt haben, sind ihnen alle Wege recht, und sie wissen aus allen Zufälligkeiten ihres Lebens Nutzen zu ziehen. Regen oder Trockenheit, Dunkel oder Sonnenschein, nichts hält diese verwegenen Abenteurer auf, die bei allen Fehlern eine große Tugend haben. Ihr Geist wird nämlich immer durch ihren Ehrgeiz wachgehalten, und dieser Geist geht ihnen wie ein Trommler voraus und treibt sie an, die Zukunft im Sturm zu erobern. Immer im Kampf mit der harten Not des Tages, sprengen sie mit stets bereiter Lunte jedes Hindernis, kaum daß es vor ihnen aufgetaucht ist. Wie sie sich jeden Tag ihr Brot verschaffen, das ist eine Arbeit des Genies, ein immer neues Problem, das sie mit tollkühner Strategie lösen. Diese Leute verstehen es, sich von dem geizigsten Harpagon Geld zu leihen, und sie würden als Schiffbrüchige auf einem Floß Trüffeln entdecken. Im Notfall wissen sie zu fasten wie der tugendhafteste Anachoret, fällt ihnen aber eine größere Geldsumme in die Finger, dann ergeben sie sich den ausschweifendsten Phantasien, holen sich die schönsten und jüngsten Mädchen, trinken den besten und ältesten Wein und finden überhaupt nicht genügend Fenster, um ihr Geld hinauszuwerfen. Ist dann schließlich das letzte Silberstück tot und begraben, dann kehren sie wieder zu der Tafel des Zufalls zurück, die für alle gedeckt ist, und mit einer ganzen Meute von listigen Einfällen durchjagen sie vom Morgen bis zum Abend alle Gewerbe, die irgend etwas mit der Kunst zu tun haben, um jenes edle Wild zu erlegen, das man ein Fünffrankstück nennt.
Diese Zigeuner kennen alles und gehen überall hin, je nachdem sie gerade Lackschuhe oder zerrissene Stiefel haben. Man findet sie heute vor den eleganten Kaminen eines mondänen Salons und morgen unter den Gewölben einer verrufenen Tanzschenke. Sie können keine zehn Schritte über den Boulevard gehen, ohne einen Freund zu treffen, und keine dreißig, ohne einem Gläubiger zu begegnen.
Die Zigeuner haben ihre eigene Sprache, die aus dem Ateliergeplauder, dem Bühnenjargon und den Debatten auf den Redaktionen entstanden ist. Alle Stilblüten geben sich in diesem unerhörten Idiom ihr Rendezvous, apokalyptische Wendungen neben geschmackloser Komik, Alltagsausdrücke neben gewagten, dichterischen Perioden. Es ist ein geistvolles Rotwelsch, das allen denen unverständlich ist, die nicht den Schlüssel dazu haben, und das an gewagten Redewendungen auch die freieste Sprache übertrifft. Das Wörterbuch des Zigeunertums ist die Hölle der akademischen Redekunst und ein Paradies für die Freunde neuer Wortbildungen. Dieses ist, in kurzen Worten gesagt, das Zigeunerleben. Es ist wenig gekannt von den Puritanern der Gesellschaft, verschrien bei den Puritanern der Kunst, und es wird beschimpft von all den ängstlichen und neidischen Mittelmäßigkeiten, die doch nicht genug Lungenkraft, Lügen und Verleumdungen haben, um die Stimmen und Namen derjenigen zu ersticken, die aus diesem Vorsaal des Ruhms heraustreten, indem sie vor ihr Talent ihren Mut spannen. Es ist ein Leben der Geduld und der Kühnheit, wo man sich auch im Kampf mit der Dummheit und dem Neid in den festen Panzer der Gleichgültigkeit stecken muß. Wo man, um nicht auf dem Wege zu straucheln, keinen Augenblick den Stolz auf sich selbst verlieren darf, diesen ausgezeichneten Wanderstab. Ein wundervolles Leben und ein schreckliches Leben, das seine Sieger und seine Märtyrer hat, und in das nur der eintreten darf, der sich von vornherein dem unerbittlichen Gesetz des vae victis unterwirft.
1851.
H. M.
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