Haimo L. Handl
Das Funktionsdeutsch folgt der Vernunft des
Nutzendenkens; es hat sich solide aus der Ideologie des Utilitarismus und
Opportunismus entwickelt und gefestigt, so dass heute nur wenige sich eine
andere Sprache vorstellen können bzw. solch eine gebrauchen.
Die Nazis werden gemeinhin als Blut- und
Bodenmythologen, rückwärtsgewandt und erzkonservativ gesehen. Das waren sie.
Aber nicht nur. Das eigentümliche Phänomen bestand im gelebten Widerspruch
zwischen atavistischen mythologischen und pseudomythologischen Formen und
modernster Innovation, zwischen dem irrationalen Anspruch einer arischen Physik
und hochentwickelter Raketentechnik. Die deutschen Wissenschaftler schufen
trotz Naziterror und Kriegswirren bis zuletzt hochwertige Forschung und hätten
bei etwas anderen realen Bedingungen (Ressourcen, Zeit) sogar die Erkenntnisse
von Otto Hahn über die Kernspaltung zur „Reife“ gebracht, was aber unter
anderem auch vom bedeutenden Physiker Werner Heisenberg aus Sorge um die
Kriegsentwicklung verhindert wurde (es waren also nicht nur reale Faktoren
bestimmend, auch ideologische).
Die schizophrene Haltung ist auch in unserer
Gegenwart vielerorts und vielerarts beobachtbar: die Bevölkerung unserer
Leitmacht USA ist ziemlich ungebildet, die Politik borniert und kriegsorientiert,
trotzdem bestimmen die USA die wissenschaftliche Entwicklung, Nordkorea ist ein
Sklavenstaat, funktioniert aber hinsichtlich der militärischen, modernen
Aufrüstung; Saudi Arabien hält an seiner finsteren, mittelalterlichen Ideologie
fest, unterhält aber die modernste Armee, vernichtet in Kriegen Nachbarländer
und stört, wie viele andere auch, den Weltfrieden. Israel nennt sich eine
Demokratie, ist aber nach Herkunftskriterien (Abstammung) rassistisch
organisiert, führt seit seiner Installierung Krieg und droht öfters mit
Atomschlägen.
Das Funktionsdeutsch vermag solche
Widersprüche zu glätten, wie das von der Werbung verbildete English, womit, in
einer Anreicherung von Euphemismen, stärker als während der Nazi- und
Bolschewikenzeit, die permanente Täuschung, die tägliche Lüge (ein)geübt wird.
Pseudomenos.
– Die magnetische Gewalt, welche die Ideologien über die Menschen ausüben,
während sie ihnen bereits ganz fadenscheinig geworden sind, erklärt sich
jenseits der Psychologie aus dem objektiv bestimmten Verfall der logischen
Evidenz als solcher. Es ist dahin gekommen, daß Lüge wie Wahrheit klingt,
Wahrheit wie Lüge. Jede Aussage, jede Nachricht, jeder Gedanke ist präformiert
durch die Zentren der Kulturindustrie. Was nicht die vertraute Spur solcher
Präformation trägt, ist vorweg unglaubwürdig, um so mehr, als die Institutionen
der öffentlichen Meinung dem, was sie aus sich entlassen, tausend faktische
Belege und alle Beweiskraft mitgeben, deren die totale Verfügung habhaft werden
kann. Die Wahrheit, die dagegen anmöchte, trägt nicht bloß den Charakter des
Unwahrscheinlichen, sondern ist überdies zu arm, um in Konkurrenz mit dem
hochkonzentrierten Verbreitungsapparat durchzudringen.
Adorno: Minima Moralia. Reflexionen
aus dem beschädigten Leben: Pseudomenos. GS 4:122
Heideggers Beschwerden gegen Kulturphilosophie
haben in der Ontologie der Eigentlichkeit verhängnisvolle Folgen: was sie
anfangs bloß in die Sphäre kultureller Vermittlung verbannt, stößt sie
unverweilt weiter in die Hölle. Der freilich ist die Welt ähnlich genug,
eingetaucht in eine trübe Flut von Geschwätz als der Verfallsform von Sprache.
Karl Kraus hat das zu der These verdichtet, die Phrase gebäre heute die
Wirklichkeit; zumal jene, die unter dem Namen Kultur nach der Katastrophe auferstand.
Sie ist, wie Valéry die Politik definierte, in weitem Maß nur noch dazu da, die
Menschen von dem abzuhalten, was sie etwas angeht. Eines Sinnes mit Kraus, den
er nicht erwähnt, sagt Heidegger in Sein und Zeit: »Das Hören und Verstehen hat
sich vorgängig an das Geredete als solches geklammert.« So schalten der
Kommunikationsbetrieb und seine Formeln sich zwischen die Sache und das Subjekt
und verblenden es gegen eben das, worauf das Geschwätz sich bezieht. »Das
Geredete als solches zieht weitere Kreise und übernimmt autoritativen
Charakter. Die Sache ist so, weil man es sagt.«
Adorno: Jargon der Eigentlichkeit. GS
6:480
Die vollständige Verdeckung des Krieges durch
Information, Propaganda, Kommentar, die Filmoperateure in den ersten Tanks und
der Heldentod von Kriegsberichterstattern, die Maische aus
manipuliert-aufgeklärter öffentlicher Meinung und bewußtlosem Handeln, all das
ist ein anderer Ausdruck für die verdorrte Erfahrung, das Vakuum zwischen den
Menschen und ihrem Verhängnis, in dem das Verhängnis recht eigentlich besteht.
Der verdinglichte, erstarrte Abguß der Ereignisse substituiert gleichsam diese
selber. Die Menschen werden zu Schauspielern eines Monstre-Documentairefilms
herabgesetzt, der keine Zuschauer mehr kennt, weil noch der letzte auf der
Leinwand mittun muß. Eben dies Moment liegt der vielgescholtenen Rede vom phony
war zugrunde. Sie entspringt gewiß aus der faschistischen Stimmung, die
Realität des Grauens als »bloße Propaganda« von sich zu weisen, damit das
Grauen einspruchslos sich vollziehe. Aber wie alle Tendenzen des Faschismus hat
auch diese ihren Ursprung in Elementen der Realität, die sich nur eben gerade
kraft jener faschistischen Haltung durchsetzen, die hämisch auf sie hindeutet.
Der Krieg ist wirklich phony, aber seine phonyness schrecklicher als aller
Schrecken, und die sich darüber mokieren, tragen vorab zum Unheil bei.
Adorno: Minima Moralia: Weit vom
Schuß. GS 4:61
Die Beobachtungen von Adorno haben sich in der
Gegenwart extrem verstärkt. Seit der Einrichtung der sogenannten social media
grassieren die Desinformation und die Uninformiertheit in einem eigentümlichen
Widerspruch zum technischen Niveau der modernen Kommunikationsmittel. Die
Dystopien älteren Datums von George Orwell („1984“, 1948) und Aldous Huxley
(„Brave New World“, 1932) scheinen aktuell, nur im technischen Standard der
Vergangenheit verhaftet, nicht jedoch im Ungeist! Was Adorno zur „vollständigen
Verdeckung des Krieges durch Information“ bemerkte, lässt sich bei Karl Kraus
in seinem Drama „Die letzten Tage der Menschheit“ (1915-1922) in vielen Szenen,
Zitaten aus dem damaligen Alltag, nachlesen.
Der Satiriker aus Wien, der Meister der
Sprache, der zornige Moralist und Kritiker, schrieb wuchtige und zugleich
schneidende und bissige Sätze (Aus: Kraus, Die Fackel 404, 5. Dez. 1914; später
publiziert in „Weltgericht“):
In dieser
großen Zeit
die ich noch
gekannt habe, wie sie so klein war; die wieder klein werden wird, wenn ihr dazu
noch Zeit bleibt; und die wir, weil im Bereich organischen Wachstums derlei
Verwandlung nicht möglich ist, lieber als eine dicke Zeit und wahrlich auch
schwere Zeit ansprechen wollen; in dieser Zeit, in der eben das geschieht, was
man sich nicht vorstellen konnte, und in der geschehen
muß, was man sich nicht mehr vorstellen
kann, und könnte man es, es geschähe nicht —; in dieser ernsten Zeit, die sich
zu Tode gelacht hat vor der Möglichkeit, daß sie ernst werden könnte; von ihrer
Tragik überrascht, nach Zerstreuung langt, und sich selbst auf frischer Tat
ertappend, nach Worten sucht; in dieser lauten Zeit, die da dröhnt von der
schauerlichen Symphonie der Taten, die Berichte hervorbringen, und der
Berichte, welche Taten verschulden: in dieser da mögen Sie von mir kein eigenes
Wort erwarten. Keines außer diesem, das eben noch Schweigen vor Missdeutung
bewahrt. Zu tief sitzt mir die Ehrfurcht vor der Unabänderlichkeit,
Subordination der Sprache vor dem Unglück. In den Reichen der Phantasiearmut,
wo der Mensch an seelischer Hungersnot stirbt, ohne den seelischen Hunger zu
spüren, wo Federn in Blut tauchen und Schwerter in Tinte, muß das, was nicht
gedacht wird, getan werden, aber ist das, was nur gedacht wird,
unaussprechlich. Erwarten Sie von mir kein eigenes Wort. Weder vermöchte ich
ein neues zu sagen; denn im Zimmer, wo einer schreibt, ist der Lärm so groß,
und ob er von Tieren kommt, von Kindern oder nur von Mörsern, man soll es jetzt
nicht entscheiden. Wer Taten zuspricht, schändet Wort und Tat und ist zweimal
verächtlich. Der Beruf dazu ist nicht ausgestorben. Die jetzt nichts zu sagen
haben, weil die Tat das Wort hat, sprechen weiter. Wer etwas zu sagen hat,
trete vor und schweige! Auch alte Worte darf ich nicht hervorholen, solange
Taten geschehen, die uns neu sind und deren Zuschauer sagen, daß sie ihnen
nicht zuzutrauen waren. Mein Wort konnte Rotationsmaschinen übertönen, und wenn
es sie nicht zum Stillstand gebracht hat, so beweist das nichts gegen mein
Wort. Selbst die größere Maschine hat es nicht vermocht und das Ohr, das die
Posaune des Weltgerichts vernimmt, verschließt sich noch lange nicht den
Trompeten des Tages.
Wer den
Besitzstand erweitern will und wer ihn nur verteidigt — beide leben im
Besitzstand, stets unter und nie über dem Besitzstand. Der eine fatiert ihn,
der andere erklärt ihn. Wird uns nicht bange vor irgendetwas über dem
Besitzstand, wenn Menschenopfer unerhört geschaut, gelitten wurden und hinter
der Sprache des seelischen Aufschwungs, im Abklang der berauschenden Musik,
zwischen irdischen und himmlischen Heerscharen, eines fahlen Morgens das
Bekenntnis durchbricht: »Was jetzt zu geschehen hat, ist, daß der Reisende
fortwährend die Fühlhörner ausstreckt und die Kundschaft unaufhörlich
abgetastet wird«! Menschheit ist Kundschaft. Hinter Fahnen und Flammen, hinter
Helden und Helfern, hinter allen Vaterländern ist ein Altar aufgerichtet, an
dem die fromme Wissenschaft die Hände ringt: Gott schuf den Konsumenten! Aber
Gott schuf den Konsumenten nicht, damit es ihm wohl ergehe auf Erden, sondern
zu einem Höheren: damit es dem Händler wohl ergehe auf Erden, denn der
Konsument ist nackt erschaffen und wird erst, wenn er Kleider verkauft, ein
Händler. Die Notwendigkeit, zu essen, um zu leben, kann philosophisch nicht
bestritten werden, wiewohl die Öffentlichkeit dieser Verrichtung von einem
unablegbaren Mangel an Schamgefühl zeugt.
Kultur ist
die stillschweigende Verabredung, das Lebensmittel hinter dem Lebenszweck
abtreten zu lassen. Zivilisation ist die Unterwerfung des Lebenszwecks unter das
Lebensmittel. Diesem Ideal dient der Fort- schritt und diesem Ideal liefert er
seine Waffen.
Wo alle Kraft
angewandt wurde, das Leben reibungslos zu machen, bleibt nichts übrig, was
dieser Schonung noch bedarf. In solcher Gegend kann die Individualität leben,
aber nicht mehr entstehen. Mit ihren Nervenwünschen mag sie dort gastieren, wo
in Komfort und Fortkommen rings Automaten ohne Gesicht und Gruß vorbei und
vorwärtsschieben. Als Schiedsrichter zwischen Naturwerten wird sie anders
entscheiden.
Die Tyrannei
der Lebensnotwendigkeit gönnt ihren Sklaven dreierlei Freiheit: vom Geist die
Meinung, von der Kunst die Unterhaltung und von der Liebe die Ausschweifung.
Die
Oberfläche sitzt und klebt an der Wurzel. Die Unterwerfung der Menschheit unter
die Wirtschaft hat ihr nur die Freiheit zur Feindschaft gelassen, und schärfte
ihr der Fortschritt die Waffen, so schuf er ihr die mörderischeste vor allen,
eine, die ihr jenseits ihrer heiligen Notwendigkeit noch die letzte Sorge um
ihr irdisches Seelenheil benahm: die Presse. Der Fortschritt, der auch über die
Logik verfügt, entgegnet, die Presse sei auch nichts anderes als eine der
Berufsgenossenschaften, die von einem vorhandenen Bedürfnis leben.
Kraus liest sich,
als ob seine Texte eine Vorlage für die vehemente Kulturkritik von Horkheimer
und Adorno gewesen sei, so scharf, dass die Normalköstler ihn vermieden wie
Gift, weil sie die ungeschminkte Aufdeckung, das offene Benennen, nicht
ertragen wollten. Kraus befindet die Sprache und Sprachentwicklung in einer Weise,
die einer Prophetie gleichkommt; dass die Deformation allerdings Maße annimmt
wie heutzutage durch das Internet und die asocial media, konnte auch er mit
aller Phantasie nicht erahnen.
Ist die
Presse ein Bote? Nein: das Ereignis. Eine Rede? Nein, das Leben. Sie erhebt
nicht nur den Anspruch, daß die wahren Ereignisse ihre Nachrichten über die
Ereignisse seien, sie bewirkt auch diese unheimliche Identität, durch welche
immer der Schein entsteht, daß Taten zuerst berichtet werden, ehe sie zu
verrichten sind, oft auch die Möglichkeit davon, und jedenfalls der Zustand,
daß zwar Kriegsberichterstatter nicht zuschauen dürfen, aber Krieger zu
Berichterstattern werden. In diesem Sinne lasse ich mir gern nachsagen, daß ich
mein Lebtag die Presse überschätzt habe. Sie ist kein Dienstmann — wie könnte
ein Dienstmann auch so viel verlangen und bekommen —, sie ist das Ereignis.
Wieder ist uns das Instrument über den Kopf gewachsen. Wir haben den Menschen,
der die Feuersbrunst zu melden hat und der wohl die untergeordnetste Rolle im
Staat spielen müßte, über die Welt gesetzt, über den Brand und über das Haus,
über die Tatsache und über unsere Phantasie. (Kraus: In dieser großen Zeit)
Kraus seziert und
weist auf und nach, wie das System deformiert, umkehrt, lügt, und wie alles
vernünftig, folgend den Sachzwängen, wahrlich „wahr“ erscheint. Er demonstriert
ein Lesevermögen, das später Schwätzer „close reading“ nennen, bleibt aber
nicht bei Formen, sondern entlarvt Funktionen: er geißelt das Funktionsdeutsch
und das Funktionärsdenken, das Regime der Apparatschiks, das nicht nur die
tödliche Bürokratie der Bolschewiki und ihrer Schergen auszeichnete, sondern
auch im modernen Westen zur gut geschmierten Verwaltung kapitalistischer
Ausbeutung gehört.
Er [der
Reporter] hat durch jahrzehntelange Übung die Menschheit auf eben jenen Stand
der Phantasienot gebracht, der ihr einen Vernichtungskrieg gegen sich selbst
ermöglicht. Er kann, da er ihr alle Fähigkeit des Erlebnisses und dessen
geistiger Fortsetzung durch die maßlose Promptheit seiner Apparate erspart hat,
ihr eben noch den erforderlichen Todesmut einpflanzen, mit dem sie hineinrennt.
Er hat den Abglanz heroischer Eigenschaften zur Verfügung und seine missbrauchte
Sprache verschönt ein mißbrauchtes Leben, als ob die Ewigkeit sich ihren
Höhepunkt erst für das Zeitalter aufgespart hätte, wo der Reporter lebt. (Kraus:
In dieser großen Zeit)
„Seine
missbrauchte Sprache verschönt ein mißbrauchtes Leben“. Aber der Missbrauch
wird nicht dort bemerkt, wo er erfolgt. In der Opferkultgesellschaft hat die
Vokabel „Missbrauch“ durch inflationären Gebrauch ihre Bedeutung verloren, sie
wurde zum Anhängsel, zum Schnörkel. Mit der deformierten Sprache des
Funktionsdeutsch lassen sich Wahrheiten nicht mehr einfach kommunizieren. The
alternative facts und the fake news haben fast alles infiziert und verhindern
offenes Denken, zumindest für die Mehrheiten der Bevölkerungen in den riesigen
Sklavenheeren aller Nationen.
Von der
Quantität, die der Inhalt dieser Zeit ist, fällt auf jeden von uns ein Teil,
das er gefühlsmäßig verarbeitet, und das Gemeinsame wird uns durch Draht und
Kino so anschaulich gemacht, daß wir zufrieden nachhause gehen. Hat uns aber
der Reporter durch seine Wahrheit die Phantasie umgebracht, so rückt er uns ans
Leben durch seine Lüge. (Kraus: In dieser großen Zeit)
In unserer
Nutzengesellschaft regiert das Quantitative als Ziel und Vorgabe. Besonders in
den social media gilt die hohe Zahl von Anhängern (friends) und unreflektierten
Pseudourteilen (likes). Qualität stört, in den menschlichen Beziehungen, in der
Politik, in den Wissenschaften. „Wahrheit“ ist ein Handelsgut, eine teure
Droge, die smart verhökert wird.
Die Schlusssätze
seines Aufsatzes klingen, als ob er sie für heute geschrieben hätte:
Möge die Zeit
groß genug werden, daß sie nicht zur Beute werde eines Siegers, der seinen Fuß
auf Geist und Wirtschaft setzt! Daß sie den Alpdruck der Gelegenheit überwinde,
in der der Sieg zum Verdienst der Unbeteiligten wird, die verkehrte
Ordensstreberei sich ihrer Ehren entäußert, die gerade Dummheit Fremdwörter und
Speisennamen ablegt und in der Sklaven, deren letztes Ziel ihr Lebtag war,
Sprachen zu »beherrschen«, fortan mit der Fähigkeit durch die Welt kommen
wollen, Sprachen nicht zu beherrschen! — Was wißt ihr, die ihr im Kriege seid,
vom Krieg?! Ihr kämpft ja! Ihr seid ja nicht hier geblieben! Auch denen, die
für das Leben das Ideal geopfert haben, ist es einmal vergönnt, das Leben
selbst zu opfern. Möge die Zeit so groß werden, daß sie an diese Opfer
hinanreicht, und nie so groß, daß sie über ihr Andenken ins Leben wachse! (Kraus:
In dieser großen Zeit)
Die sprachlose
Gesellschaft, die mehr auf ihr verstümmeltes Gefühl gibt als auf Verstand und
Sprache bzw. Sprachbeherrschung, schickt sich an weiter zu stammeln, stöhnen,
husten, blöken und grunzen in ihrer dummen Unduldsamkeit und Wertlosigkeit.
Eine der
Funktionen des Funktionsdeutsch ist die Propaganda. Ähnlich
den Buchhaltern, Inventurbeamten und Rapporteuren verhalten sich die
Funktionäre und Propagandisten: sie stellen ihre Sprache in den Dienst der
Sache, sei es der Kirche oder Religion oder, was am häufigsten vorkam in
jüngster Geschichte, der Partei. Sie opfern das offene Feld der sprachlichen
Kreativität, sie leugnen jeden Wert von ihr jenseits des Funktionalen, der
Geste, der Mitteilung, der Erziehung. Sie filtern und bringen den Kommandoton
zum Klingen und Brausen, sie quasseln von neuer Sachlichkeit und Einfachheit
als Gegenstück zur Verlogenheit des Bürgerlichen, der Dekadenz, sie gewöhnen
die Gehöhnten, die Kommandierten ans Kadergebrüll. Sie bringen Form und Inhalt
schier zur Deckung, weshalb ihre Sprache so naturalistisch scheint, so klar wie
am Kasernenhof oder im Hinrichtungshof. Tausende von Schergen und Mitläufern
der Nazis und Bolschewiki stehen für diesen Menschenschlag, diese
Sprachverkümmerten, Verbogenen. Bemerkenswert, dass die von der linken Seite
bis heute geschätzt, überschätzt werden, als ob ihre ideologische Position sie adele,
obwohl sie am Kulturniedergang, nicht nur im fernen China der infamen
Unkulturrevolution, aktiv teilnahmen und die Sprache, ja das Denken selbst,
verschmutzten, verseuchten, nachhaltig deformierten. An den Spätwirkungen
laborieren die Nachfolgenationen und Gesellschaften heute noch.
Bert Brecht, ein Agent dieser Parteigänger,
wird vom ostdeutschen Autor Uwe Kolbe in seinem Buch „Brecht“ (Frankfurt/M.
2016) werkbiografisch aufgeblättert. Trotz aller Kritik versteigt sich Kolbe
nicht zu einer pauschalen Verurteilung, hebt die vielen faszinierenden,
widersprüchlichen Aspekte von Brechts Werks heraus. Die Machoseiten des
womanizers Brecht bilden nicht den Hauptkritikpunkt. Die Bilanz fällt aber, zu
recht, insgesamt negativ aus.
In der heuer publizierten Biografie „Tanz auf
dem Pulverfass. Gottfried Benn, die Frauen und die Macht“ denunziert der 1955
geborene Autor Wolfgang Martynkewicz in bekannter Manier Benn als
opportunistischen Saukerl und Nazi, der er bis zu seinem Tode gewesen sei, ohne
auf die Dichtungen einzugehen; aus den Essais wählt er nur solche aus, die er
smart negativ kommentieren kann. Diese unsaubere Methode eines gequälten
Ideologen liegt Uwe Kolbe bei aller Kritik fern.
Während Kolbe als „Betroffener“ auf Person und
Werk von Brecht eingeht, haut der Ideologe Martynkewicz wüst auf Benn ein. Man
wundert sich, weshalb er über so eine verabscheuungswürdige Person überhaupt
eine Arbeit verfasst und gewinnt den Eindruck, dass mit der Ausblendung des
Dichterischen die eingeübte Haltung der Personenfokussierung bestätigt wird, des
denunziatorischen Schlüssellochblicks, der sich in einer reporterhaften,
rapportierenden Sprache, ganz wie bei den Authentitätsaposteln, entäußert,
ausbrunzt. Martynkewicz gibt ein gutes, das heißt schlechtes Beispiel eines
Schreibtischtäters. Wäre er in ähnlicher Funktion im Kader in der DDR gewesen,
oder gar als ZK-Mitglied, seine „Auserwählten“ hätten die drastische Umsetzung
seiner Worte, seiner Ideologie als „Wahrheit“ authentisch zum Spüren bekommen.
Man darf nicht vergessen, dass die DDR es nicht bei Worten beließ, sondern
„nachhalf“: sie förderte tagtäglich ihren eigenen Naturalismus und Realismus im
reibungslosen Funktionieren. Martynkewicz hätte prima reingepasst in diese
Funktionsmaschinerie. Aber weil er
seinen Gegenstand verpasst, befriedigt sein Auswurf weite degenerierte
Leserinneninteressen. In jedem ernstzunehmenden Seminar würde negativ
abgewertet werden, dass eine Dichterbiografie, die die Dichtung ausspart,
negiert, keine ist. Das Machwerk verfolgt andere Zwecke. Der Aufbau Verlag in Berlin
ist damit eigentlich ein Abbau-Verlag.
Wenn man die Figur Benn auf einige private
Seiten hin reduziert und diese vergrößert und verzerrt, wie eine Karikatur,
darstellt, verdeckt man den Blick aufs Wesentliche, wenn man zum Wesentlichen
eines Dichters seine Dichtung rechnet. Im Beitrag „Vom Überleben des Wortes.
César Vallejo und Gottfried Benn“ (NEUE RUNDSCHAUI 128/2 2017) bedenkt der
Autor Eberhard Geisler einige Aspekte des dichterischen Schreibens beider
Autoren. Er liefert damit nicht nur eine interessante Komparatistik, sondern
erhellt auch wesentliche Fragen der Dichtung. Eine empfehlenswerte Lektüre,
wenn man sich mit der voyeurhaften Schlüssellochperspektive nicht zufrieden
gibt. Seine Ausführungen evozierten mir unwillkürlich das Bild eines ganz
anderen Dichters, Joseph Brodsky, und dessen Überlegungen zur Poesie bzw.
Poetik. Die Problematik von Eindruck & Ausdruck bzw. Ausdruckslosigkeit
(Inhalt & Form) gewinnt Kontur, das Problem des Belanglosen und nicht
zufällig erwähnt Geisler Botho Strauß bzw. das Konzept der Sekundarität, des
Kommentars vor dem Original, wie es George Steiner in seinem Werk „Real
Presences“ ausgebreitet hat. (Dass hinter dem Problem der Belanglosigkeit das
Denken von Kierkegaard steht oder vermutet werden darf, erweitert nur die
Komplexität, wenn man denn will und sich auf den Weg macht…)
Kolbe, andererseits, skizziert kurz das
Literaturverständnis von Brecht, der ein Reformer, ein Luther war, und erklärt
das daraus resultierende Sprachverständnis:
„Dichter Brecht und Luther, der Mönch, lasen
gemeinsam das Kommunistische Manifest von Karl Marx und Friedrich
Engels. … Zu lesen stand das Ergebnis im ABC des Kommunismus von Nikolai
Bucharin und Jewgeni Preobraschenski. … Brecht und Luther lasen dort zum
Beispiel, dass das Programm der Kommunistischen Partei „nicht aus dem Kopf
erdichtet werden dürfte, sondern aus dem Leben genommen werden müsse. … Musste
da noch jemand die Erfindung einer gestischen Sprache in Anspruch nehmen?
Brecht tat es. Und er stellte sein Licht nicht unter den Scheffel: „Der Dichter
Kin-Jeh darf für sich das Verdienst in Anspruch nehmen, die Sprache der
Literatur erneuert zu haben. … [Er] erkannte die Sprache als ein Werkzeug des
Handelns“, protzt er in den 30er Jahren in seinem Buch der Wendungen.
[Anmerkung HLH: Hat noch nichts mit Wende und Wendehalsideologie und –literatur
zu tun!] Großartig! Nur war sie schon da, die Sprache, zur Funktionalität
geklärt, im Dienste der Sache [Anmerkung HLH: Brecht, der Dienstmann, der
Funktionär als Sachverwalter]. Die Propagandasprache, die sich an „das Volk“
wendete, war auf den Zweck, auf die nachvollziehbare Geste aus und ergab so
etwas wie Literatur als Uhrwerk.“ (Kolbe: Brecht S.20 ff)
Die neue Sachlichkeit, die Reportage, die
Propaganda, die Erziehung, die Ideologie triumphierten und wuchsen und
grassierten und verseuchten die Sprache, das Denken, das Handeln. Brecht war
zum Handlanger geworden, seine Sprache, sein Amtsdeutsch ein Teil der
Bürokratie, der instrumentalisierten Unmenschlichkeit, der Lüge. 2 x 2 war nun
5.
Man mag sich an Anmerkungen, kritische und
hagiografische, zu Brecht erinnern. Czesław Miłosz notiert in seinem schmalen
Buch „Das Zeugnis der Poesie (Hanser 1984; Orig. aufgrund von Lectures in
Harvard 1983 Harvard UP) bemerkt ganz bissig an den Namen Brecht und Majakowski
das Abgründige, das Hässliche und Verachtende:
Die Ansichten der
Autoren sind bekanntlich kein ausreichender Schlüssel für ihre Werke. Zuweilen
stehen sie sogar in Widerspruch zu diesen Werken. Was hilft es schon, daß so
viele Autoren unseres Jahrhunderts sich für die Revolution ausgesprochen haben,
wenn der Mensch in ihrem Schaffen nicht als einer erschien, der würdig wäre,
die Umwandlung zu erfahren, sondern eher als Wanze, wie eines der Stücke
Majakowski betitelt ist. Man rechtfertigte dieses dunkle Bild, indem man sich
auf die erste und oberste Pflicht bei der Kapitalismuskritik berief. Doch
stellten beispielsweise bei Bertolt Brecht Gehässigkeit und Verachtung so
substanzielle Bestandteile seiner Stücke dar, daß das klare Bewußtsein, zu
dessen Erlangung der Mensch angeblich befähigt sein soll, an die hypothetische
Erlösung bei einigen christlichen Autoren erinnert, die sich in Wahrheit viel
lieber der Schilderung der Sünde widmen. Nach der russischen Revolution schrieb
Majakowski eine gigantische bewunderungswürdige Rhetorik, doch die Wahrheit
wohnte nicht in ihr, sondern in den mit leiser Stimme gesprochenen Gedichten
von Ossip Mandelstam und Anna Achmatowa, die im nachrevolutionären Rußland die
Bestätigung der schlimmsten Ahnungen Dostojewskis fand.
(Miłosz,
Zeugnis der Poesie, S. 27)
Miłosz nennt auch jenen bedrohlichen Zustand,
den wir schon bei Karl Kraus und Theodor W. Adorno angemerkt fanden: die
Kollaboration durch falsche Teilhabe:
Wir alle nehmen
teil an den Wandlungen der Weltanschauung, die unabhängig sind von unserem
Willen, und wir versuchen, ihre Radikalität zu mildern, indem wir die Dinge
nicht bis zu Ende denken. Nur wenige besitzen den nötigen Mut, um sich zu
brutal einfachen Feststellungen durchzuringen.
(Miłosz,
Zeugnis der Poesie, S. 58)
Der Normalbürger als Mitläufer, vernünftiger
Opportunist, geführt und gefördert von den Führern, die heute Manager heißen,
den Parteigängern, den Profiteuren, den Kollaborateuren. Die freiwillig sich einrichten
im gebeugten Gang, im Kriechen und Lavieren, die froh sind, dass die
Öffentlichkeit so stark zensuriert und Folgschaft fordert, weil sie das
persönlicher Verantwortung enthebt. Die ach so viele Vernunftgründe fürs
Mitmachen anführen, ganz so wie Majakowski, wie Brecht, im Dienst der guten
Sache, nicht nur zum Lob des Großen Vaters, Stalin, sondern fürs Konzept des
Neuen Menschen, dem alles geopfert wurde, was im Wege schien. Und im Weg stand
das eigene, individuelle Denken. Das galt es auszumerzen, die Unteren auf Linie
zu bringen. Einerseits durch feinstimmig kalkulierte Propaganda, andererseits
durch harschen Terror, Verfolgung und Folter. Um dieses Gebräu, dieses Gemisch
von Zuckerbrot und Peitsche erfolgreich zu gestalten, gaben sich Parteigänger
wie Bertolt Brecht her.
Aber auch Feinsinnige, wie der Philosoph Ernst
Bloch, priesen Stalin und propagierten seine Wichtigkeit und Richtigkeit. Viele
andere auch. Und heute noch verteidigen Nachfahren und Nachfolger Stalin gegen
andere Massenmörder. Während Benn oder Heidegger oder Ernst Jünger wegen ihres
reaktionären Denkens und Nazismus von vielen verurteilt werden, existiert für
die offiziell „linken“ Autoren eine befremdliche Nachsicht, ein wesentlicher
Unterschied. So, wie Stalins Massenmorde und sein Terror als nicht so schlimm
gesehen werden, wie die Untaten von Hitler und seinen Schergen, so wertet man
auch im Nachhinein die Opfer ab: es wird skandalös auf- und abgerechnet und
gewogen: Naziopfer rangieren an oberster Stelle, Opfer der Bolschewiki oder der
DDR-Genossen sind verzeihliche Kollateralschäden. Dies alles in einer Sprache
der Neoscholastik, der sich besonders die linken Menschheitsbeglücker lügenhaft
bedienen.
Sabrina Habel, Jahrgang 1985, die gegenwärtig
als Literaturwissenschaftler in Zürich arbeitet, liefert in SINN UND FORM
2017/3 eine widerliche Hagiografie für Bertolt Brecht mit dem vielsagenden
Titel „Wahrheitskunst – Brechts Anleitung zum richtigen Lesen“, indem sie einen
Text von ihm, „Anleitung zum richtigen Lesen“ unkritisch, also unserer Zeit
entsprechend, interpretiert. Schon der Titel transportiert eine verwegene
Umkehrung und Verdrehung: Als ob Brecht je eine Wahrheitskunst gepflegt hätte,
ganz unabhängig davon, was so eine Kunst sei oder sein könnte, als ob ein
Anspruch, den Sektenvertreter genauso stellen wie Propagandisten oder
Werbefachleute, schon Wahrheit generiere. Zweitens unterstellt der Titel, dass
es Brecht um „richtiges Lesen“ gegangen sei. Angesichts seiner Ideologie,
seiner Kollaborationen, seiner feigen Verrate (Mitarbeiterinnen, Genossen),
seiner Stalinelogen und, für lange Zeit zumindest, seiner Propagandaarbeit,
eine Lüge.
Habel leitet ihr Elaborat ein: „Für Bertolt
Brecht ist Wahrheit nicht nur eine Frage der Gesinnung, sondern auch eine Frage
des Könnens.“ Sie werde zwar gesellschaftlich hergestellt, aber trotzdem gebe
es nur EINE Wahrheit, so, wie es nur eine Sprache gebe, die allerdings in zwei Arten
fungiere, in einer, die die Wahrheit abbilde und einer, die die Wahrheit
verstelle. Habel bemerkt dazu „Der Abgleich mit der gesellschaftlichen
Wirklichkeit ermöglicht es, die Sprache Lügen zu strafen.“ Man wundert sich,
weshalb Brecht so lange so erfolgreich lügen konnte. Er bemüht ein krudes
Modell der Widerspiegelungstheorie und hat offenbar nicht(sprach) philosophisch
nachgedacht. Aber er schreibt auch Stücke, kunstvoll, einem Bedürfnis der
damaligen Zeit entgegenkommend, den Funktionsansprüchen seiner Parteioberen
entsprechend. Wasser predigen und Wein trinken. Welche Texte will die
Brechtunterstützerin denn als Wahrheitsaufdecker und Entgegensetzungen
verstehen? Die in Ostberlin geliefert oder in Moskau? Die vagen Ausflüchte und
Schweigen, als seine langjährige Mitarbeiterin Carola Neher im Zuge des Großen
Terrors verhaftet und in Lagerhaft genommen wurde, in welcher sie nach fünf
Jahren an Typhus erkrankt starb, waren wahrscheinlich so ein Wahrheitsdienst
von Brecht.
Im Falle von Sergej Tretjakow, dem Futuristen
und Faktenvertreter, der dennoch in die tödlichen Säuberungen des Großen Vaters
Stalin geriet, hat Brecht sich zwar nicht für den Genossen eingesetzt, aber
immerhin später ein Erinnerungsgedicht geschrieben, das ebenfalls aus Ausweis
seiner Wahrheitsliebe und selbstlosen Freundschaftsbefähigung herhalten kann
oder muss:
Mein Lehrer
Der große, freundliche
ist erschossen worden, verurteilt durch ein Volksgericht.
Als ein Spion. Sein Name ist verdammt.
Seine Bücher sind vernichtet. Das Gespräch über ihn
ist verdächtig und verstummt.
Gesetzt, er ist unschuldig?
Der große, freundliche
ist erschossen worden, verurteilt durch ein Volksgericht.
Als ein Spion. Sein Name ist verdammt.
Seine Bücher sind vernichtet. Das Gespräch über ihn
ist verdächtig und verstummt.
Gesetzt, er ist unschuldig?
Sehr diplomatisch. „Gesetzt, er ist
unschuldig?“ Wohl eine rhetorische Frage, denn Väterchen Stalin, der große
Führer, irrte sich nie. Wollte er Stalins Recht als Unrecht denunzieren oder
zumindest als Irrtum? (Das Militärgericht als Volksgericht?) Nein, es war ja
nur eine Frage, eine ganz vorsichtige. Man wird doch noch fragen dürfen! Wie
versichert uns Frau Habel?: „Brechts Text ist eine Anleitung, das Flasche – die
allgemeinen Irrtümer und das bewußt produzierte Unwahre – zur Rede zu stellen. Er
ist zugleich eine Anleitung zum richtigen Lesen.“
Ach, wenn das Apologeten oder
Hagiografen nur stärker bedächten oder bedacht hätten! Vielleicht hätte Michael
Rohrwasser sein Buch Der Stalinismus und die Renegaten (Stuttgart 1991)
vielleicht anders geschrieben? Frau Habel geht aber noch weiter. Sie ruft
den Aufklärer Kant an und stellt den Bertolt in eine Reihe:
Das Mitsprechen
erinnert an das kantische Programm der Aufklärung. Es ist der wörtliche
Übergang von der Unmündigkeit zur Mündigkeit oder eben: Mündlichkeit. Das
Selbstsprechen richtet sich gegen die Bevormundung, es bricht die monolithische
Schriftfläche und monologische Rede des anderen auf.
Er wendet sich
gegen die autoritäre Erstarrung der Sprache und die Sprachvergessenheit ihres
Lesers.
Mündlichkeit als Mündigkeit weil die
Bevormundung im Bruch der monolithischen Schriftfläche erreicht wird. Na, das
staunt der Laie. Das entspricht den kurzsichtigen Orientierungen an Kompetenzen,
womit jede Bildungsreform verhindert wird, weil Wissen ausgespart wird, da die
Kompetenzen als Befähigungen, als Mündlichkeit des Könnens eben, schon die
„monologische Rede des anderen“ aufbrechen. Und wenn’s kein Monolog war oder
ist? Was wird dann aufgebrochen? Weshalb zeigen sich die Brüche nicht im
Alltag, in der massenhaften Verdummung? Nicht zuletzt, weil Expertinnen wie
Frau Habel schwadronieren. Mit ihrem Geschwafel werkelt sie sicher gegen die
Erstarrung, vor allem die autoritäre und hebelt die Sprachvergessenheit aus.
Mit dem Zwischentitel „Dichtung und Wahrheit“
erhöht die Autorin neuerlich ihren Gegenstand und schließt mit einer
bemerkenswerten Logik: „Wenn Wahrheit eine Frage des Könnens ist, dann ist sie
nichts anderes als Kunst. Und gerade die Kunstfertigkeit ist es, die man
Brechts Schreien schwer absprechen kann.“ Na dann! Die traurige Erkenntnis: die
Nichtskönner sind nie der Wahrheit teilhaftig, weshalb die Guten Menschen ihnen
helfen, die Kader, die Lakaien, die Propagandisten, die Funktionäre.
Im selben Heft von SINN UND FORM findet sich
ein Beitrag von Hans Christoph Buch „Bagatellen zum Massaker oder Der
Schriftsteller ist zu größerer Verworfenheit fähig als andere Menschen“. Ein
moralisierendes Lamento, exemplifiziert an verdächtigen Autoren verschiedener
Couleurs. Im Unterschied zur Jüngerin Habel und ihrem abstrusen Wahrheits- und
Kunstverständnis bleibt Buch kritisch und bissig. Er erwähnt Klabund, der in
zweiter Ehe Carola Neher heiratete, „gefeierte Hauptdarstellerin in Klabunds ‚Kreidekreis‘,
von dem Brecht sich zu seinem gleichnamigen Lehrstück inspirieren ließ. Brecht
war kein Bohemien, aber er hat viel von Klabund gelernt, um nicht zu sagen
geklaut, auch dessen Frau, die in der Verfilmung der ‚Dreigroschenoper‘ die
Polly spielt; und er protestierte nur halbherzig, als Carola Neher im Moskauer
Exil in die Mühlen der Stalin-Justiz geriet.“
Buch spricht über Karl Radek, der, obwohl
getreuer, fanatischer Parteigänger, selbst durch Stalins Säuberungsprogramm
dran glauben musste, er spricht von Ossip Mandelstam und dem
„Parteischriftsteller der übelsten Sorte“, Pjotr Andrejewitsch Pawlenko, „der
das von Brechts Freund Tretjakow entwickelte Konzept einer ‚operativen
Literatur‘ wörtlich nahm, indem er sich der Geheimpolizei als Helfer andiente,
wie dies auch zu DDR-Zeiten gang und gäbe war.“
„Nach alldem nimmt es nicht wunder, daß auch
Sergej Tretjakow dem Terror zum Opfer fiel, dem er mit seinem Buch
„Feld-Herren“ den Weg geebnet hatte. Daß Brecht keinen Finger für seinen
langjährigen Freund rührte, der unter der absurden Beschuldigung, ein
japanischer Spion zu sein, verhaftet und erschossen wurde (fast gleichzeitig
mit Isaak Babel und Wsewolod Meyerhold), vervollständigt das deprimierende
Bild.“
Buch ergänzt den traurigen Reigen mit
Verweisen auf Louis Ferdinand Céline, dessen „Reise ans Ende der Nacht“ sogar
Trotzki mit einer begeisterten Rezension pries. Das politische Chamäleon Curzio
Malaparte wird illustriert und die eigentümliche Phalanx von Faschisten und
Kommunisten bzw. ihren Wechselbälgen dargestellt. Zu diesem verworrenen Bild,
dieser niederschmetternden Niedertracht passt der Roman von Uwe Kolbe „Die
Lüge“ (Fischer 2014), welcher das kaputte, korrupte, korrumpierte Regime des
Denunziantenstaates DDR behandelt.
Gerade an der DDR und ihren Kultur- und
Kunstproduktionen lässt sich der Verfall der Sprache zum Funktionsdeutsch gut
studieren. Dass gerade in den „neuen Bundesländern“ der Anteil von Faschisten
und Xenophoben so hoch liegt, ist auch dem durch diese Funktionssprache
geschwächten Wertesystem zuzuschreiben, das sich nach der Wende stetig mit dem
Ungeist von Newspeak westlicher façon
unheilvoll vermengte.