Adalbert
Stifter
Bunte
Steine
Erzählungen
Vorrede
Es ist einmal gegen mich bemerkt
worden, daß ich nur das Kleine bilde, und daß meine Menschen stets gewöhnliche
Menschen seien. Wenn das wahr ist, bin ich heute in der Lage, den Lesern ein
noch Kleineres und Unbedeutenderes anzubieten, nämlich allerlei Spielereien für
junge Herzen. Es soll sogar in denselben nicht einmal Tugend und Sitte
gepredigt werden, wie es gebräuchlich ist, sondern sie sollen nur durch das
wirken, was sie sind. Wenn etwas Edles und Gutes in mir ist, so wird es von
selber in meinen Schriften liegen, wenn aber dasselbe nicht in meinem Gemüte
ist, so werde ich mich vergeblich bemühen, Hohes und Schönes darzustellen, es
wird doch immer das Niedrige und Unedle durchscheinen. Großes oder Kleines zu
bilden, hatte ich bei meinen Schriften überhaupt nie im Sinne, ich wurde von
ganz anderen Gesetzen geleitet. Die Kunst ist mir ein so Hohes und Erhabenes,
sie ist mir, wie ich schon einmal an einem anderen Orte gesagt habe, nach der
Religion das Höchste auf Erden, so daß ich meine Schriften nie für Dichtungen
gehalten habe, noch mich je vermessen werde, sie für Dichtungen zu halten.
Dichter gibt es sehr wenige auf der Welt, sie sind die hohen Priester, sie sind
die Wohltäter des menschlichen Geschlechtes; falsche Propheten aber gibt es
sehr viele. Allein wenn auch nicht jede gesprochenen Worte Dichtung sein
können, so könnten sie doch etwas anderes sein, dem nicht alle Berechtigung des
Daseins abgeht. Gleichgestimmten Freunden eine vergnügte Stunde zu machen,
ihnen allen bekannten wie unbekannten einen Gruß zu schicken, und ein Körnlein
Gutes zu dem Baue des Ewigen beizutragen, das war die Absicht bei meinen
Schriften und wird auch die Absicht bleiben. Ich wäre sehr glücklich, wenn ich
mit Gewißheit wüßte, daß ich nur diese Absicht erreicht hätte. Weil wir aber
schon einmal von dem Großen und Kleinen reden, so will ich meine Ansichten
darlegen, die wahrscheinlich von denen vieler anderer Menschen abweichen. Das
Wehen der Luft, das Rieseln des Wassers, das Wachsen der Getreide, das Wogen
des Meeres, das Grünen der Erde, das Glänzen des Himmels, das Schimmern der
Gestirne halte ich für groß: das prächtig einherziehende Gewitter, den Blitz,
welcher Häuser spaltet, den Sturm, der die Brandung treibt, den feuerspeienden
Berg, das Erdbeben, welches Länder verschüttet, halte ich nicht für größer als
obige Erscheinungen, ja ich halte sie für kleiner, weil sie nur Wirkungen viel
höherer Gesetze sind. Sie kommen auf einzelnen Stellen vor und sind die
Ergebnisse einseitiger Ursachen. Die Kraft, welche die Milch im Töpfchen der
armen Frau emporschwellen und übergehen macht, ist es auch, die die Lava in dem
feuerspeienden Berge emportreibt und auf den Flächen der Berge hinabgleiten
läßt. Nur augenfälliger sind diese Erscheinungen und reißen den Blick des
Unkundigen und Unaufmerksamen mehr an sich, während der Geisteszug des
Forschers vorzüglich auf das Ganze und Allgemeine geht und nur in ihm allein
Großartigkeit zu erkennen vermag, weil es allein das Welterhaltende ist. Die
Einzelheiten gehen vorüber, und ihre Wirkungen sind nach kurzem kaum noch
erkennbar. Wir wollen das Gesagte durch ein Beispiel erläutern. Wenn ein Mann
durch Jahre hindurch die Magnetnadel, deren eine Spitze immer nach Norden
weist, tagtäglich zu festgesetzten Stunden beobachtete und sich die
Veränderungen, wie die Nadel bald mehr bald weniger klar nach Norden zeigt, in
einem Buche aufschriebe, so würde gewiß ein Unkundiger dieses Beginnen für ein
kleines und für Spielerei ansehen: aber wie ehrfurchterregend wird dieses
Kleine und wie begeisterungerweckend diese Spielerei, wenn wir nun erfahren,
daß diese Beobachtungen wirklich auf dem ganzen Erdboden angestellt werden, und
daß aus den daraus zusammengestellten Tafeln ersichtlich wird, daß manche
kleine Veränderungen an der Magnetnadel oft auf allen Punkten der Erde
gleichzeitig und in gleichem Maße vor sich gehen, daß also ein magnetisches
Gewitter über die ganze Erde geht, daß die ganze Erdoberfläche gleichzeitig
gleichsam ein magnetisches Schauern empfindet. Wenn wir, so wie wir für das
Licht die Augen haben, auch für die Elektrizität und den aus ihr kommenden
Magnetismus ein Sinneswerkzeug hätten, welche große Welt, welche Fülle von
unermeßlichen Erscheinungen würde uns da aufgetan sein. Wenn wir aber auch
dieses leibliche Auge nicht haben, so haben wir dafür das geistige der
Wissenschaft, und diese lehrt uns, daß die elektrische und magnetische Kraft
auf einem ungeheuren Schauplatze wirke, daß sie auf der ganzen Erde und durch
den ganzen Himmel verbreitet sei, daß sie alles umfließe und sanft und
unablässig verändernd, bildend und lebenerzeugend sich darstelle. Der Blitz ist
nur ein ganz kleines Merkmal dieser Kraft, sie selber aber ist ein Großes in
der Natur. Weil aber die Wissenschaft nur Körnchen erringt, nur Beobachtung
nach Beobachtung macht, nur aus Einzelnem das Allgemeine zusammenträgt, und
weil endlich die Menge der Erscheinungen und das Feld des Gegebenen unendlich
groß ist, Gott also die Freude und die Glückseligkeit des Forschens
unversieglich gemacht hat, wir auch in unseren Werkstätten immer nur das
Einzelne darstellen können, nie das Allgemeine, denn dies wäre die Schöpfung:
so ist auch die Geschichte des in der Natur Großen in einer immerwährenden
Umwandlung der Ansichten über dieses Große bestanden. Da die Menschen in der
Kindheit waren, ihr geistiges Auge von der Wissenschaft noch nicht berührt war,
wurden sie von dem Nahestehenden und Auffälligen ergriffen und zu Furcht und
Bewunderung hingerissen: aber als ihr Sinn geöffnet wurde, da der Blick sich
auf den Zusammenhang zu richten begann, so sanken die einzelnen Erscheinungen
immer tiefer, und es erhob sich das Gesetz immer höher, die Wunderbarkeiten
hörten auf, das Wunder nahm zu.
So wie es in der äußeren Natur
ist, so ist es auch in der inneren, in der des menschlichen Geschlechtes. Ein
ganzes Leben voll Gerechtigkeit, Einfachheit, Bezwingung seiner selbst, Verstandesmäßigkeit,
Wirksamkeit in seinem Kreis, Bewunderung des Schönen, verbunden mit einem
heiteren gelassenen Sterben, halte ich für groß: mächtige Bewegungen des
Gemütes, furchtbar einherrollenden Zorn, die Begier nach Rache, den entzündeten
Geist, der nach Tätigkeit strebt, umreißt, ändert, zerstört und in der Erregung
oft das eigene Leben hinwirft, halte ich nicht für größer, sondern für kleiner,
da diese Dinge so gut nur Hervorbringungen einzelner und einseitiger Kräfte
sind, wie Stürme, feuerspeiende Berge, Erdbeben. Wir wollen das sanfte Gesetz
zu erblicken suchen, wodurch das menschliche Geschlecht geleitet wird. Es gibt
Kräfte, die nach dem Bestehen des Einzelnen zielen. Sie nehmen alles und
verwenden es, was zum Bestehen und zum Entwickeln desselben notwendig ist. Sie
sichern den Bestand des Einen und dadurch den aller. Wenn aber jemand jedes
Ding unbedingt an sich reißt, was sein Wesen braucht, wenn er die Bedingungen
des Daseins eines anderen zerstört, so ergrimmt etwas Höheres in uns, wir helfen
dem Schwachen und Unterdrückten, wir stellen den Stand wieder her, daß er ein
Mensch neben dem andern bestehe und seine menschliche Bahn gehen könne, und
wenn wir das getan haben, so fühlen wir uns befriedigt, wir fühlen uns noch
viel höher und inniger, als wir uns als Einzelne fühlen, wir fühlen uns als
ganze Menschheit. Es gibt daher Kräfte, die nach dem Bestehen der gesamten
Menschheit hinwirken, die durch die Einzelkräfte nicht beschränkt werden
dürfen, ja im Gegenteile beschränkend auf sie selber einwirken. Es ist das
Gesetz dieser Kräfte, das Gesetz der Gerechtigkeit, das Gesetz der Sitte, das
Gesetz, das will, daß jeder geachtet, geehrt, ungefährdet neben dem anderen
bestehe, daß er seine höhere menschliche Laufbahn gehen könne, sich Liebe und
Bewunderung seiner Mitmenschen erwerbe, daß er als Kleinod gehütet werde, wie
jeder Mensch ein Kleinod für alle andern Menschen ist. Dieses Gesetz liegt
überall, wo Menschen neben Menschen wohnen, und es zeigt sich, wenn Menschen
gegen Menschen wirken. Es liegt in der Liebe der Ehegatten zu einander, in der
Liebe der Eltern zu den Kindern, der Kinder zu den Eltern, in der Liebe der
Geschwister, der Freunde zueinander, in der süßen Neigung beider Geschlechter,
in der Arbeitsamkeit, wodurch wir erhalten werden, in der Tätigkeit, wodurch
man für seinen Kreis, für die Ferne, für die Menschheit wirkt, und endlich in
der Ordnung und Gestalt, womit ganze Gesellschaften und Staaten ihr Dasein
umgeben und zum Abschlusse bringen. Darum haben alte und neue Dichter vielfach
diese Gegenstände benützt, um ihre Dichtungen dem Mitgefühle naher und ferner
Geschlechter anheim zu geben. Darum sieht der Menschenforscher, wohin er seinen
Fuß setzt, überall nur dieses Gesetz allein, weil es das einzige Allgemeine,
das einzige Erhaltende und nie Endende ist. Er sieht es eben so gut in der
niedersten Hütte wie in dem höchsten Palaste, er sieht es in der Hingabe eines
armen Weibes und in der ruhigen Todesverachtung des Helden für das Vaterland
und die Menschheit. Es hat Bewegungen in dem menschlichen Geschlechte gegeben,
wodurch den Gemütern eine Richtung nach einem Ziele hin eingeprägt worden ist,
wodurch ganze Zeiträume auf die Dauer eine andere Gestalt gewonnen haben. Wenn
in diesen Bewegungen das Gesetz der Gerechtigkeit und Sitte erkennbar ist, wenn
sie von demselben eingeleitet und fortgeführt worden sind, so fühlen wir uns in
der ganzen Menschheit erhoben, wir fühlen uns menschlich verallgemeinert, wir
empfinden das Erhabene, wie es sich überall in die Seelen senkt, wo durch
unmeßbar große Kräfte in der Zeit oder im Raume auf ein gestaltvolles
vernunftgemäßes Ganzes zusammen gewirkt wird. Wenn aber in diesen Bewegungen
das Gesetz des Rechtes und der Sitte nicht ersichtlich ist, wenn sie nach
einseitigen und selbstsüchtigen Zwecken ringen, dann wendet sich der
Menschenforscher, wie gewaltig und furchtbar sie auch sein mögen, mit Ekel von
ihnen ab und betrachtet sie als ein Kleines, als ein des Menschen Unwürdiges.
So groß ist die Gestalt dieses Rechts- und Sittengesetzes, daß es überall, wo
es immer bekämpft worden ist, doch endlich allezeit siegreich und herrlich aus
dem Kampfe hervorgegangen ist. Ja wenn sogar der einzelne oder ganze
Geschlechter für Recht und Sitte untergegangen sind, so fühlen wir sie nicht
als besiegt, wir fühlen sie als triumphierend, in unser Mitleid mischt sich ein
Jauchzen und Entzücken, weil das Ganze höher steht als der Teil, weil das Gute
größer ist als der Tod, wir sagen da, wir empfinden das Tragische und werden
mit Schauern in den reineren Äther des Sittengesetzes emporgehoben. Wenn wir
die Menschheit in der Geschichte wie einen ruhigen Silberstrom einem großen
ewigen Ziele entgegen gehen sehen, so empfinden wir das Erhabene, das
vorzugsweise Epische. Aber wie gewaltig und in großen Zügen auch das Tragische und
Epische wirken, wie ausgezeichnete Hebel sie auch in der Kunst sind, so sind es
hauptsächlich doch immer die gewöhnlichen, alltäglichen, in Unzahl
wiederkehrenden Handlungen der Menschen, in denen dieses Gesetz am sichersten
als Schwerpunkt liegt, weil diese Handlungen die dauernden, die gründenden
sind, gleichsam die Millionen Wurzelfasern des Baumes des Lebens. So wie in der
Natur die allgemeinen Gesetze still und unaufhörlich wirken, und das Auffällige
nur eine einzelne Äußerung dieser Gesetze ist, so wirkt das Sittengesetz still
und seelenbelebend durch den unendlichen Verkehr der Menschen, und die Wunder
des Augenblickes bei vorgefallenen Taten sind nur kleine Merkmale dieser
allgemeinen Kraft. So ist dieses Gesetz, so wie das der Natur das welterhaltende
ist, das menschenerhaltende.
Wie in der Geschichte der Natur
die Ansichten über das Große sich stets geändert haben, so ist es auch in der
sittlichen Geschichte der Menschen gewesen. Anfangs wurden sie von dem
Nächstliegenden berührt, körperliche Stärke und ihre Siege im Ringkampfe wurden
gepriesen, dann kamen Tapferkeit und Kriegesmut, dahin zielend, heftige
Empfindungen und Leidenschaften gegen feindselige Haufen und Verbindungen
auszudrücken und auszuführen, dann wurde Stammeshoheit und Familienherrschaft
besungen, inzwischen auch Schönheit und Liebe so wie Freundschaft und
Aufopferung gefeiert, dann aber erschien ein Überblick über ein Größeres: ganze
menschliche Abteilungen und Verhältnisse wurden geordnet, das Recht des Ganzen
vereint mit dem des Teiles, und Großmut gegen den Feind und Unterdrückung
seiner Empfindungen und Leidenschaften zum Besten der Gerechtigkeit hoch und
herrlich gehalten, wie ja Mäßigung schon den Alten als die erste männliche
Tugend galt, und endlich wurde ein völkerumschlingendes Band als ein
Wünschenswertes gedacht, ein Band, das alle Gaben des einen Volkes mit denen
des andern vertauscht, die Wissenschaft fördert, ihre Schätze für alle Menschen
darlegt und in der Kunst und Religion zu dem einfach Hohen und Himmlischen leitet.
Wie es mit dem Aufwärtssteigen
des menschlichen Geschlechtes ist, so ist es auch mit seinem Abwärtssteigen.
Untergehenden Völkern verschwindet zuerst das Maß. Sie gehen nach Einzelnem
aus, sie werfen sich mit kurzem Blick auf das Beschränkte und Unbedeutende, sie
setzen das Bedingte über das Allgemeine; dann suchen sie den Genuß und das
Sinnliche, sie suchen Befriedigung ihres Hasses und Neides gegen den Nachbar,
in ihrer Kunst wird das Einseitige geschildert, das nur von einem Standpunkte
Gültige, dann das Zerfahrene, Umstimmende, Abenteuerliche, endlich das
Sinnenreizende, und zuletzt die Unsitte und das Laster, in der Religion sinkt
das Innere zur bloßen Gestalt oder zur üppigen Schwärmerei herab, der
Unterschied zwischen Gut und Böse verliert sich, der einzelne verachtet das
Ganze und geht seiner Lust und seinem Verderben nach, und so wird das Volk eine
Beute seiner inneren Zerwirrung oder die eines äußeren, wilderen, aber
kräftigeren Feindes.
Da ich in dieser Vorrede in
meinen Ansichten über Großes und Kleines so weit gegangen bin, so sei es mir
auch erlaubt zu sagen, daß ich in der Geschichte des menschlichen Geschlechtes
manche Erfahrungen zu sammeln bemüht gewesen bin, und daß ich einzelnes aus
diesen Erfahrungen zu dichtenden Versuchen zusammengestellt habe; aber meine
eben entwickelten Ansichten und die Erlebnisse der letztvergangenen Jahre
lehrten mich, meiner Kraft zu mißtrauen, daher jene Versuche liegen bleiben
mögen, bis sie besser ausgearbeitet oder als unerheblich vernichtet werden.
Diejenigen aber, die mir durch
diese keineswegs für junge Zuhörer passende Vorrede gefolgt sind, mögen es auch
nicht verschmähen, die Hervorbringungen bescheidenerer Kräfte zu genießen, und
mit mir zu den harmlosen folgenden Dingen übergehen.
Im Herbste 1852
Adalbert Stifter
[Das Buch erschien 1853]
Siehe auch:
Bunte Steine, Wikipedia
Adalbert Stifter, Wikipedia
Friedrich Hebbel, Wikipedia
Erschriebene Ordnung
Adalbert Stifters "Nachsommer"
Rezensiosn von Christian Begemann, Literaturkritik.de, 2005
Siehe auch:
Bunte Steine, Wikipedia
Adalbert Stifter, Wikipedia
Friedrich Hebbel, Wikipedia
Erschriebene Ordnung
Adalbert Stifters "Nachsommer"
Rezensiosn von Christian Begemann, Literaturkritik.de, 2005
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