Montag, 9. Juni 2014

Lettre International Nr. 105 liegt in der Bibliothek auf

Lettre aktuell Nr. 2/2014 –Lettre International Nr. 105 / 


Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Leserinnen und Leser, liebe Kolleginnen und Kollegen,Mühsame Eleganz verhält sich zur wirklichen Eleganz wie eine Perücke zu echtem Haar“, meinte Honoré de Balzac. Publizistische Zöpfe und ideologische Perücken waren unsere Sache nie – und so glänzt im Sommerheft das echte Haar der Eleganz in vielen kulturellen Farben. Die Texte zur Eleganz in Europa, China, Japan und Arabien von Hannes Böhringer, Yang Lian, Siham Bouhlal u. a. werden begleitet von faszinierender Photographie von Hans Hansen und Stanislas Guigui.Was gibt es noch in Lettre International Nr. 105? Wir präsentieren Beiträge zu einer Anthropologie der Macht, konfrontieren uns mit bitteren Einsichten Machiavellis, untersuchen die Rolle von Charisma, Ruhm, Angst und Gewalt, analysieren die Inszenierung von Politik und inspizieren mit Marcel Hénaff die politische Bühne. Starke Vorwürfe erhebt der Enthüllungsjournalist Seymour Hersh gegen die Regierung der Vereinigten Staaten. Reportagen entführen uns in die Ukraine, auf die Krim und nach Workuta, Barcelona und Skopje, und Georg Stefan Troller erinnert sich an sein Leben im Paris unter deutscher Besatzung. William Langewiesche durchleuchtet die größte private Sicherheitsfirma der Welt und ihre Söldnerabteilungen; Philippe Videlier begleitet meuternde Matrosen auf dem Panzerkreuzer Potemkin im Jahre 1905; Atelierbesuche bei Jean Fautrier und Antoni Tàpies unternehmen Patricia Görg und Colm Toíbin. Wir riskieren eine poetische Reise zum Mond und betreten ein Universum aus sechs unmöglichen Dingen. Und auch Lettre wird vom brasilianischen Futebol-Fieber gepackt ...DIE POESIE DER PILLE!Das Multitalent José Manuel Wisnik ist nicht nur Komponist, Musikologe und Dichter, sondern auch profunder Kenner der Fußballkultur und -geschichte seines Heimatlandes Brasilien. Das Runde muß auch hier ins Eckige; gedribbelt, geflankt und gefoult wird jedoch im Rhythmus von Samba und Bossa Nova. Wir erinnern uns an Pier Paolo Pasolinis Vorstellung vom „poetischen Fußball“ und pfeifen an zu Lebenskunst und Lebensfreude im Rhythmus des SpielsIDEALE DER ELEGANZDas elegante Leben“, konstatierte Balzac, „ist der Ausdruck aller Fortschritte, die ein Land macht, da es ja alle Arten des Luxus in sich begreift.“ Gehört Eleganz zum alten Eisen oder ist es ein zukunftsfähiger Begriff? Privileg aristokratisch-höfischer Lebensweise vor der Französischen Revolution, wurde sie im 19. Jahrhundert zunehmend zum Lebensstil des arbeitsfreien wohlhabenden Bürgertums, später dem Dandy zum Distinktionsgestus gegenüber der aufkommenden Massengesellschaft. Im 20. Jahrhundert erklimmt Eleganz die lichten Höhen massenhaft produzierter Modeprodukte. Und heute? Ist Eleganz noch etwas erstrebenswertes, und wenn ja, für wen? Ist Eleganz einer stillen Aristokratie vorbehalten? Kann man Eleganz kaufen, erlernen, oder ist sie eine natürliche Mitgabe? Was verbindet Eleganz mit Luxus, Stil, Manieren, Garderobe? Mit Funktionalität, Sachlichkeit, Einfachheit, Gelassenheit, Souveränität? Mit Ethik und gelingendem Leben? Birgt Eleganz gar ein Potential für die Zukunft?Der Philosoph Hannes Böhringer reflektiert Über Eleganz und Lässigkeit. Zwischen schön und gut, Ordnung und Unordnung, trügerischem Schein und spielerischer Wahrheit entfaltet Eleganz ihre Faszination und Verführungskraft. Sie oszilliert zwischen Leichtigkeit und Sorgfalt, Raffinesse und Anmut, Angemessenheit und Ehrenhaftigkeit, Schicklichkeit und Scharfsinn, Smartness und Coolness, Unscheinbarkeit und Einfachheit, aristokratischer Lebenskunst und mondäner Gelassenheit. Immer sucht sie nach spielerischen Lösungen zwischen Maß und Übermaß. Eleganz kostet Geld, Zeit und Verzicht auf Angeberei. Für den Umbruch setzt sie eher auf Klugheit denn auf Gewalt. Wenn es ihr gelingt, überraschende Lösungen für schwierige Fragen zu erfinden, dann kann sie ihre Funktion der sozialen Distinktion transzendieren und zum Ereignis werden. Dann ist etwas schön, gut und vollkommen.Der chinesische Dichter Yang Lian führt uns ins China der Literati-Kultur und schildert Konfuzius, Laozi und den Dichter Qu Yuan als drei überragende Persönlichkeiten, welche die Tradition der „Literati“ in China begründet haben. Poetisches Talent und philosophische Begabung, Engagement für das Land, Kritik und Mut gegenüber Machthabern, Feinsinn und Geschmack zeichneten diese gelehrten Intellektuellen Chinas aus, deren offizielle Funktion auf ein imperiales Prüfungs- und Kooptationssystem gegründet war. Durch Anregungen und Kritik sollten sie zur Verbesserung der Gesellschaft beitragen. Scheiterten sie in der politischen Praxis, zogen sie sich als Privatiers zurück, um sich ganz der Poesie und Musik, der Kalligraphie und Malerei, der Porzellanherstellung und Gartenkunst zu widmen. Einen Eindruck von der Verfeinerung ihrer gelebten Eleganz vermittelt die Erinnerung an den romantischen Schriftsteller Zhou Shoujuan (1895 bis 1968): „Er gab später das Schreiben auf und zog sich in sein Haus in Suzhou zurück. In der zweiten Hälfte seines Lebens widmete er sich der Gartenkunst und Pengjing, der kleinen, transportablen Landschaft mit winzigen Bäumen, die man in einem Blumentopf arrangiert, und er genoß das Leben. Jemand schrieb ihm und fragte, welche Art von Tee er trinke. Er antwortete, daß er einen grünen Tee wähle und diesen sehr früh im Jahr pflücke, wenn die Blätter noch sehr weich und zart seien. Er faltete einen Teebeutel aus Reispapier, durch das die Luft hindurchdringen könne, und lege diesen Teebeutel am Nachmittag ins Herz einer offenen Lotusblüte. Am Abend schließe sich der Lotus, um sich am nächsten Morgen wieder zu öffnen. Dann nehme er den Teebeutel heraus und gieße ihn auf. Dieser Tee mit dem Geschmack frischen grünen Tees besitze nun einen zarten Lotusduft. Großartig, man möchte fast weinen, wenn man sich vorstellt, wie elegant der Lebensstil dieser Literati war.“JAPANISCHE ELEGANZDer japanische Schriftsteller Sagakuchi Ango leidet an der Aufdringlichkeit des Überflüssigen. Aller Zierrat ist ihm ein Graus und im Zentrum seines Schönheitsideals schlummern Notwendigkeit und Substanz. Nur die Reduktion auf reine Notwendigkeit und Substanz läßt das Wesen der Dinge erkennen, und so begründet er, warum das Kasuge-Gefängnis, eine Trockeneisfabrik und ein Militärschiff die Verkörperung seines ästhetischen Ideals darstellen. Auch der japanische Philosoph Tadao Ando verehrt den ästhetischen Minimalismus und verehrt den Geist des Wabi-Sabi. Wabi-Sabi, das sind Flohmärkte, nicht Kaufhäuser, gealtertes Holz, nicht Laminat, Reispapier, nicht Glas, es feiert Risse und Sprünge, und all die anderen Spuren, die Zeit, Wetter und liebevoller Gebrauch hinterlassen. Durch Wabi-Sabi lernen wir, Altersflecke, Rost und ausgefranste Säume zu lieben; Wabi-Sabi ist die Art von stiller, unerklärter Schönheit, die geduldig darauf wartet, entdeckt zu werden. Dem Zen-Buddhismus ist Wabi-Sabi die aktive ästhetische Wertschätzung der Armut, und wie diese Vorlieben mit Frieden, Ruhe, Harmonie und Ausgeglichenheit zusammenhängen, lernen wir vom Teemeister Jo-o, der uns die Poesie der Dinge und auch die Poesie des Teewegs eröffnet.Die marokkanische Kulturhistorikerin Siham Bouhlal widmet sich der Eleganz in der arabischen Kultur. Sie sucht angesichts der Misere der religionsverhafteten, gewaltdurchzogenen arabischen Gesellschaften nach neuem Elan. Die Erinnerung an die einstige arabische Eleganz könnte helfen, den Platz der einzelnen auf dem Schachbrett zerbrechender Gesellschaften neu zu definieren. Im Arabischen wird „Eleganz“ oder „Raffinement“ durch das Wort zharf bezeichnet; es manifestiert sich im Handeln, im Lebensstil, in der Existenz, in den Beziehungen zu Familienmitgliedern, Freunden oder Liebhabern, im Akt der Anbetung, in der politischen Praxis, in Bräuchen, Gewohnheiten und mentalen Dispositionen. Um die Bedeutung von zharf in der frühen arabo-islamischen Kultur zu verstehen, muß man weit zurückgehen; man muß reisen in eine Stadt auf ihrem kulturellen Höhepunkt, die heute von Attentaten im Rhythmus von Schießereien, Explosionen und zerfetzten Körpern erschüttert wird: Bagdad. In der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts der Hidschra (dem 10. Jahrhundert n. Chr.) tritt das abbasidische Kalifat in seinen Niedergang ein, die persönliche Autorität der Kalifen schwindet, die Provinzen befreien sich, und es kommt zu Aufständen abessinischer Sklaven, die in den Salzsümpfen des südlichen Iraks arbeiten. „Von diesen unruhigen Zeitläuften unberührt, verfaßt ein Bagdader Gelehrter sein Buch des Brokats, eine Abhandlung über Kunst und Schönheit, eine einzigartige Quelle hinsichtlich der Kenntnis der eleganten Gesellschaft. Es schildert die Verfeinerung der Sitten, das Savoir-vivre, und beruft sich dabei auf Zeugnisse kultivierter Stadtbewohner und Beobachtungen im Bereich der Gastronomie, der Kleidung, der Parfums und der Kalligraphie. Das Buch ist von der Schönheit eines Gedichts, das mit den kostbarsten Tinten auf Brokat- und Seidengewebe kalligraphiert wurde und nach Weihrauch und Parfum duftet. Schmuck, Musikinstrumente, Porzellan, Mobiliar, Schreibfedern, mit Liebesbotschaften beschriftete Äpfel ... alles ist möglicher Untergrund für den Künstler, Wangen, Stirn, Handflächen, Fußsohlen werden zur Leinwand einer Kalligraphie, die die Schönheit der damit Beglückten rühmt und die Leidenschaft besingt, die sie erweckt.“Der französische Slawist Georges Nivat, Herausgeber der Werke Alexander Solschenizyns, erlebt die Ukrainische Verwerfung. Auf einer Reise nach Kiew, Charkiw und Moskau vergegenwärtigt er die wechselhafte politische Geographie des Landes, seine doppelte Kultur zwischen östlichen und westlichen Landesteilen, ukrainischer und russischer Sprache, Literatur und Gedankenwelt. Er konstatiert die erneute Konfrontation zwischen „Westlern“ und „Slawophilen“. „Der Abstand zwischen Europa und Rußland nimmt zu. (...) Dieser Abstand wird auch uns Europäer leiden lassen, denn die Russen sind ja trotz allem Europäer. Die Europäer werden schnell spüren, daß ihnen dieses riesige Phantomglied amputiert wurde, das ihnen den Weg zum Pazifik weist und das sie belebt hat, indem es ihnen Tolstoi und Dostojewski, Mussorgski und Rimski-Korsakow, Malewitsch und Ziolkowski schenkte (...). Europa ist in Rußlands Schicksal einbezogen, so wie Rußland in Europas Schicksal, und die Ukraine – selbst die geteilte, selbst die an der Freiheit krankende Ukraine – befindet sich zwangsläufig auf dem Weg Rußlands nach Europa. Ihre Provinzialisierung, die drei Jahrhunderte gedauert hat, ist beendet, doch ihr Erwachsenenalter hat noch nicht begonnen. Die Utopie eines ‘Dritten Europa’, in das die Ukraine und Rußland eintreten werden, gehört weiterhin zur europäischen Zukunft; kein eurasisches Projekt kann diese grundlegende Konstellation ändern.“Philippe Videlier entführt uns in die Zeit der russischen Revolution von 1905, nach Odessa, zu hungernden, meuternden Matrosen, die mit der Übernahme ihres Panzerkreuzers Potemkin spektakulär zum revolutionären Zeitgeschehen beitrugen. Die Ereignisse um den Panzerkreuzer auf dem Schwarzen Meer strahlten ab auf ganz Europa. Videliers historische Reportage erzählt, was aus den von Eisenstein filmisch zum Mythos stilisierten Akteuren des gekaperten und umherirrenden Schiffes geworden ist. Legendäre Ereignisse, neu erzählt durch die Augen der Matrosen: historische Konflikte und Erschütterungen, auch zu lesen als Vorgeschichte der heutigen Ukraine.Söldner und Sicherheit: Der amerikanische Reporter William Langewiesche porträtiert das größte private Sicherheitsunternehmen der Welt: G4S. Diese „Chaos Company“ bewacht Gebäude, Krankenhäuser und Gated Communities, führt Gefangenentransporte durch, sorgt für die Repatriierung abgewiesener Emigranten und kontrolliert Verurteilte mit elektronischen Fußfesseln. Ihre Einsatzkräfte bewachen Rockkonzerte, Sportereignisse, Häfen, Minenfelder, Ölraffinerien, Atomanlagen und verfügen über modernste Überwachungstechnologien. Die gigantische Firma greift da ein, wo Militär und Polizei nicht mehr tätig werden. G4S hat mehr als 600.000 Menschen unter Vertrag und ist nach Mitarbeiterzahl das drittgrößte Unternehmen der Welt. Der Autor begleitet die Söldner bei Konflikten im Südsudan, in Nigeria und den USA. Die vielen Schauplätze der Welt werden immer explosiver und schwieriger zu managen; G4S ist ein bedrohliches Symptom dafür, daß der Staat das Monopol legitimer Gewalt abgibt und hoheitliche, polizeiliche wie militärische Aufgaben zunehmend in die Hände privater Söldner gelegt werden.Seymour M. Hersh widmet sich einem brisanten Thema: Syrien und Sarin. Der investigative amerikanische Journalist, weltberühmt für seine Aufdeckung des My-Lay-Massakers amerikanischer Truppen im Vietnamkrieg und seine Enthüllung US-amerikanischer Folterpraktiken im irakischen Abu Ghraib-Gefängnis, Pulitzerpreisträger, geehrt mit zahlreichen Journalistenpreisen, langjähriger Mitarbeiter des New Yorker und der New York Post, hat seinen jüngsten Text in Großbritannien veröffentlicht. Hersh stellt darin die offizielle Darstellung der amerikanischen Regierung zum Giftgasangriff in Syrien am 21. August 2013 in Frage. Nach Präsident Barack Obama und Außenminister John Kerry war die Sache klar: Die syrische Regierung war schuldig, sie allein verfügte über Sarin, sie tötete damit mehr als 1.000 Menschen und beging nicht nur ein ungeheuerliches Verbrechen, sondern hatte damit auch die von Obama lautstark definierte „Rote Linie“ überschritten, weshalb die USA nun militärisch intervenieren würden. Die Beweise waren unwiderleglich, jeder Zweifel deplaziert, der Krieg unausweichlich. Im letzten Augenblick lenkten Obama und Kerry erstaunlicherweise ein und bliesen den Angriff ab. Welche Vorgänge verbergen sich hinter den bekannten Abläufen? Hershs akribische Analyse der Hintergründe des Geschehens unter Berufung auf hochrangige Zeugen und Insider aus Militär, Geheimdienst und Regierung wirft ernste Zweifel an der Version der US-Regierung auf. Vieles deutet demnach darauf hin, daß der Sarinangriff nicht von der syrischen Regierung, sondern in Kooperation von türkischen Geheimdienststellen mit der islamistischen Al-Nusra-Front unter falscher Flagge durchgeführt wurde, um die USA mittels der Vortäuschung eines Giftgasangriffs durch Assad zur Intervention in Syrien zu veranlassen. Die detektivische Zusammensetzung des Puzzles ergibt das Bild einer zynisch kalkulierten Medieninszenierung zur Täuschung der Weltöffentlichkeit über die wahre Urheberschaft dieses Giftgasangriffs. Der Text wurde in englischer Sprache am 4. April 2014 in der London Review of Books erstveröffentlicht; seither sah sich keine deutsche Publikation veranlaßt, diese Analyse des wohl besten Enthüllungsjournalisten der Welt auf Deutsch zu veröffentlichen. Lettre International holt dies nach, weil die Recherche dieses herausragenden investigativen Journalisten den deutschen Lesern nicht vorenthalten werden sollte: Seymour Hersh, Rote Linie, Rattenlinie.(In der Los Angeles Times erschien am 1. Juni 2014 unter dem Titel „A Dangerous Method” eine polemische Kritik von Muhammad Idrees Ahmad an Hershs Text.)ARCHITEKTUREN DER MACHTDer italienische Psychoanalytiker Sergio Benvenuto betrachtet den Übergang von der Bewunderung Silvio Berlusconis zur Bejubelung Matteo Renzis. Welche Verführungskräfte besitzen diese politischen Persönlichkeiten? Warum genießen sie derartige Popularität? Wirksam scheinen weniger ihre Ideen oder Argumente als ihr „sound“ und ihre geradezu animalische Ausstrahlung. Mit der Stimme, dem Körper, mit Worten, Taten und Blicken scharen die Führer Anhänger um sich und aktivieren zum Kampf. Diese Führer machen aus ihrem eigenen Körper den Hochsitz der Macht. Führer genießen die Erweiterung der eigenen Potenz, sie inszenieren sich als Sieger, und mit Siegern identifiziert sich die Masse. Über die Liebe zum Führer als dem verkörperten Ideal.Der russische Philosoph Valeri Podoroga skizziert die „monströse Herrschaft“ in Rußland von der Zarenzeit über Stalin bis zum heutigen „Oligarchen der Oligarchen“. Sein bitteres Urteil über die heutige postsowjetischen Zustände lautet: „Zuletzt ist eine neue Figur in Erscheinung getreten: Das Herren-Monster. Etabliert werden die Bilder vom neuen Herrn vermittels der Massenmedien: Diese Medienbilder tragen einen Anstrich sadistischer und bestialischer Erotik (wie auch die Tschetschenienkriege, das ‛Sprengen von Wohnblöcken’, die Geiseldramen im Dubrowka-Theater und in „Beslan“, die private Beschlagnahmung nationaler Reichtümer). Die Gesellschaft hat eine rapide Feudalisierung durchlaufen, die Konkurrenz wurde ausgeschaltet wie auch die Gleichheit vor dem Gesetz; etabliert wurde erneut die Idee der Rangordnung; wir haben es mit einer Monstrosität neuen Ausmaßes zu tun. Einerseits existiert eine neue Herrenklasse, andererseits eine geknechtete, unterwürfige und teilnahmslose Bevölkerung. Jeglicher Widerstand ist versiegt. (...) In den neunziger Jahren wurden zielgerichtet die Kräfte von Haß und Mißgunst geschürt, ebenso wie das Streben nach Profit, Niedertracht und Verrat. Der postsowjetische Prototyp jenes Herren-Monsters ist der kriminelle Typus, der Homo criminalis.“Der Historiker Robert Morrissey schildert Napoleons virtuose Inszenierung des Ruhms; die Aura des unbesiegbaren Feldherrn diente Bonaparte zur Verfestigung seiner Herrschaft. Inszenierungen ließen ihn zur mythischen Heldengestalt werden, zum Nachfolger des Achilles, gestützt auf Heldentaten, umstrahlt von geradezu antikem Ruhm. Zwar verehrte man nach der Französischen Revolution bereits das Geld, das Interesse, den kalten Egoismus. Dennoch gelang es Napoleon, seine Tugend, seine Hingabe, seine Selbstlosigkeit zum Indiz der eigenen Größe zu stilisieren. Die Gloriole des Unsagbaren und Wunderbaren umwehte ihn und die Dankbarkeit und Begeisterung des Volkes ließen ihn triumphieren. Napoleon vermochte es, aus seinem Ruhm Kapital zu schlagen und dadurch seine politische Legitimität zu begründen. Über Ruhm als System und die politische Ökonomie.Der Philosoph Marcel Hénaff analysiert Die politische Bühne. Wie unterschieden sich im antiken demokratischen Griechenland, im christlichen Königtum des Mittelalters, im Feudalabsolutismus oder in den Renaissancestaaten Italiens die Schauplätze des Politischen? Analog zur Entwicklung der Perspektive in der Malerei sucht auch Machiavellis „Fürst“ nach einer idealen Position des Sehens und Gesehenwerdens, von der aus er den Schauplatz der Gesellschaft souverän beobachten und beherrschen kann. Wie verhält es sich heute? Zur Bühne der Demokratie gehören Diskurs, Rationalität, Parlament. Doch ins Imaginäre einer Demokratie mischen sich auch kommerzialisierte Bildwelten, instrumentalisierte Affekte, vermachtete Medien. Könnte die Vielfalt dieser Symbole, Erzählungen, Traditionen und Institutionen zu einer sichtbaren Verkörperung demokratischer Souveränität verschmelzen?Der französische Philosoph Étienne Balibar widmet sich Machiavellis Tragik. Dessen Fürst handelt von Tatmenschen und Masse, Klugheit und Gewalt, aber auch von der tragischen Dimension der Macht. Mord, Folter und Verrat werden zum Werkzeug rationaler Herrschaftsstrategien. Um unter den Bedingungen eines endemischen Bürgerkriegs ein Monopol der Macht errichten zu können, ist eine Politik der Grausamkeit erforderlich. Doch die Eroberer und Helden sind letztlich zum Scheitern bestimmt, das Rad der Fortuna dreht sich weiter, im Aufstieg sind Scheitern und Verfall bereits angelegt.Die Kommunisten Karl Marx und Antonio Gramsci waren Bewunderer Machiavellis. Dieser war ihnen nicht Lehrer des Bösen, sondern Aufklärer über das zynische Funktionieren von Macht. In den 1970er Jahren sahen Philosophen wie Louis Althusser und Claude Lefort in Machiavelli einen geeigneten Katalysator zur Erneuerung des linken Denkens. Man suchte eine Antwort auf die Paralyse des Marxismus. Materialismus und Aleatorik wollte man zusammendenken; statt eines vereinfachenden Essentialismus, Determinismus und Holismus wollte man nun Abweichungen, Zufälle, Kontingenzen denken können; das Ziel der Aufhebung aller Widersprüche der Gesellschaft wurde abgelöst von der Einsicht in die Unaufhebbarkeit bleibender Spaltungen. Der amerikanische Ideengeschichtler Warren Breckman über das „Gehen unbegangener Wege“.KÜNSTLER IN IHRER ZEITInmitten eines verwunschenen Parks voller seltener Bäume und Pflanzen liegt das auratische Refugium des informellen Malers und Bildhauers Jean Fautrier. Ganz seinem Werk hingegeben, lebt das einstige Résistance-Mitglied in Zurückgezogenheit. Mit Pinsel und Spachtel, Leinwand, Papier, Lehm, Sand, Farbe, Paste und Puder sucht der Künstler das innere Bild von Gegenständen zu erfassen, balancierend zwischen Konkretion und Abstraktion. Patricia Görg unternimmt imaginäre Annäherungen an eine einzigartige Persönlichkeit. Undurchdringlich das Gebüsch am Rand, undurchdringlich jener Maler, der wortkarg, hager, konzentriert in Chateaubriands einstiger Villa einen Zufluchtsort vor der Gestapo, dann ein Zuhause findet. Fautrier lebt inmitten von alten Fauteuils, großflächiger Wandgemälde, Blumenteppichen, besessen von seiner Kunst, durchdringt die Gegenstände, die er porträtiert, und läßt sie aus schwimmendem Steinstaub, Klebstoff, Chemikalien entstehen, um sie dann Schicht für Schicht zu zerkratzen, bis ein amorphes Schorfrelief etwas nicht Darstellbares offenbart: die verstümmelten Köpfe getöteter Widerstandskämpfer und anderer Geiseln aus dem Weltkrieg: WohnzimmerwolkenColm Tóibín widmet sich Tàpies und Barcelona. Antoni Tàpies, Joan Miró und Pablo Picasso stehen für schöpferische Aufbrüche wie für eine dramatische Epoche ihrer Stadt. Tàpies, Sproß einer etablierten katalanischen Familie, wandelte sich vom privilegierten Bürger zum risikobereiten Widersacher des Franco-Regimes, erfuhr Repression, begegnete Orwell, Klee, Chillida, Dubuffet und entwickelte seine Kunst zu amorpher, gestischer Malerei. Er arbeitete mit Stroh, Schlamm, Holz, Lumpen, Packpapier und Farbe; statt Schönheit inszenierte er Dunkelheit, okkulte Gesten und Zeichen. Seine unorthodoxen Bildwelten gehören heute zum künstlerischen Erbe Kataloniens. Szenen aus einer brodelnden Stadt, abenteuerlich und modern, nach Unabhängigkeit strebend.Mal Sichel, mal halb gelutschtes Bonbon, meist aber großer runder Zirkel, leuchtende Scheibe, riesiger Hintern ... Joachim Kalka ist mondsüchtig und durchblättert die Bücher nach lunatischen Spuren. Von Peterchens Mondfahrt bis zu Nikolai Gogols Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen, von Wilhelm Busch bis zu Lawrence Sterne – der Mond hat es den Dichtern schon immer angetan. Auch Dschingis Kahn fand man häufig im Geröll bei der Betrachtung des Mondes, sogar Maikäfer wurden schon auf den Mond geschossen. Den Europäern zeigt er die Stunde des Werwolfs an, während Chinesen einen göttlichen Hasen in ihm erkennen. Anderen ist er eine blutlose kosmische Leiche, welche die Erde umkreist. Lunatische Bruchstücke einer zauberhaften Archäologie des Mondes.Eine unmögliche Stadt, ein unmöglicher Garten, eine unmögliche Liebe, ein unmögliches Wesen, ein unmögliches Multiversum, eine unmögliche Zukunft ... Mit ihrer Karte von sechs unmöglichen Dingen bezaubert und entführt uns die iranisch-amerikanische Schriftstellerin Lila Azam Zanganeh in ein phantastisches Universum möglicher Unmöglichkeiten, von einer Stadt der verbundenen Inseln, in den Garten eines Gemäldes, zu monatelang haltbaren Küssen, audienzerheischenden Vögeln, zu Worten, die aus Kristallmolekülen bestehen, von Schönheit, die in der Handfläche wohnt, und einer Penelope, die nach Rom reist ...STÄDTE UND MENSCHENGeorg Stefan Troller, Autor des legendären Pariser Journals, kam erstmals 1939 als Flüchtling nach Paris, mit gefälschtem uruguayischen Paß, ein zweites Mal kurz vor der deutschen Besatzung, ein drittes Mal nach der Befreiung durch die Alliierten im August 1944. Nach dem Krieg entschloß er sich dann, dort zu bleiben und die widerspenstige Stadt durch das Bild, den Dokumentarfilm zu erobern. Über eine wahre Metropole, ihre Labyrinthe und Launen, Kurtisanen und Soutanen, Helden und Opportunisten, voller Pferdewägen und Improvisation, Jazz und Juliette Gréco, über das Paris unter der Vichy-Regierung, den Résistance-Mythos und die Wandlungen der Nachkriegszeit bis heute – Gespräche, Träume, Amouren und Betrachtungen eines scharfen Auges. Troller erinnert sich für Lettre an Damals in Paris.Ein einstiges Strafgebiet von der Größe Deutschlands mit 41 Kohleschächten, eine Betoninsel, abgeschnitten vom russischen Festland, eine Region, in der neun Monate lang Winter herrscht mit Temperaturen von bis zu minus fünfzig Grad: Workuta, eine von Stalins größten Inseln kurz vor dem Eismeer. Hannes Opel fragt, wie die Menschen heute in dieser Region leben, in der große Arbeitslosigkeit herrscht und in der sich der ganze Wahnsinn des 20. Jahrhunderts spiegelt. Er trifft auf Workutas Krieger, Männer, die in Kampfmontur ihre mit weißen Kunststoffkugeln geladenen Waffen ziehen, um mit Kameraden Krieg zu spielen und den Heldentod zu sterben vor der unwirklichen Kulisse einer zerstörten, ehemaligen Arbeiterwohnsiedlung. Ein Versuch, der Leere und der Sinnlosigkeit einer ganzen Region zu entgehen.Die mazedonische Stadt Skopje erlebt einen Bauboom. Gebäude und Monumente sollen eine glorreiche Vergangenheit heraufbeschwören – ein urbanes Riesenprojekt, das sich an der monumentalen Architektur des 19. Jahrhunderts orientiert, vorangetrieben von der nationalistischen Regierung. Der kroatische Journalist Jurica Pavičić untersucht diese Instrumentalisierung des Urbanismus zur Neuerfindung der Vergangenheit. Ein Rückfall in eine vormoderne Zeit, eine Orgie militanten Kitsches, mit dem Ziel, kulturell alles zu verdrängen, was im vergangenen Jahrhundert erreicht wurde: Ausradierung der ModerneBRIEFE, KOMMENTARE, KORRESPONDENZENIn Wiesel unterm Cocktailschrank erinnert sich Heathcote Williams an seinen Freund Harold Pinter, den britischen Literaturnobelpreisträger, dessen Lieblingszeile von John Webster lautete: „Selbst ein Mann von reinem Herz/Der zur Nacht seine Gebete spricht/Kann zum Wolf werden, wenn der Wolfshut blüht/Und der Herbstmond scheint hell ...“ Über Dichtung und Drama, Kneipen, Kricket, Cupido und Musen und das Vermögen, im richtigen Augenblick zum Wolf zu werden.Der kolumbianische Schriftsteller Héctor Abad erinnert an seinen Freund Gabriel Garciá Márquez, Romancier voller Worterfindungskraft und erzählerischer Magie. Mit Hundert Jahre Einsamkeit gelang ihm der „Urknall des Gegenwartsromans“. Ein Gigant der Literatur aller Zeiten, mit einem Instinkt, schärfer als die Summe der fünf Sinne, zu dem erstaunliche poetische Intuition und eine tiefe Kenntnis des menschlichen Herzens hinzukamen. Trotz aller Übertreibungen des „Magischen Realismus“ und trotz seiner fragwürdigen Faszination für die Macht: Seine wunderbaren Geschichten voller Erotik, Krieg, Intimität und Gewalt werden ihren Zauber bewahren: Gabo und die Seele der Schrift.Der Romancier Jaume Cabré stellt den sich verschärfenden Konflikt zwischen Spanien und den katalanischen Unabhängigkeitsbefürwortern dar. Er plädiert für das Recht Kataloniens auf ein Referendum, analog zum von der britischen Regierung anerkannten Referendum zur Unabhängigkeit Schottlands. Die Bedrohung der katalanischen Sprache mit ihren 10 Millionen Sprechern, die Infragestellung des vom spanischen Parlament verabschiedeten katalanischen Autonomiestatuts durch das spanische Verfassungsgericht, die finanzielle Benachteiligung des Landes durch die Zentralregierung und auch die Tatsache, daß in den letzten 20 Jahren 14 neue Staaten in Europa entstanden sind, sind ihm Argumente genug für einen neu zu schaffenden Staat Katalonien mit eigenen Strukturen, aber einer Existenz im Rahmen der EU.Korruption ist der Mißbrauch anvertrauter Macht zum privaten Nutzen oder Vorteil“. Wolfgang Wodarg fragt, inwieweit heute zivilgesellschaftliche Organisationen zum Objekt der Beeinflussung und Instrumentalisierung für privatwirtschaftliche oder politische Zwecke werden. Die Verlockungen des Geldes, der wirtschaftlichen oder politischen Macht, führen in fast allen NGOs zu Interessenkonflikten. „Die Pharmaindustrie kauft Selbsthilfeorganisationen, die Automobilindustrie Verkehrsclubs und die Getränkeindustrie Sportvereine.“ Doch eine „Zivilgesellschaft, in der NGOs systematisch auf ihre wirtschaftliche Verwertbarkeit gescannt, unterwandert oder mit Geld geködert werden, ist nicht zu retten.“ Ein Plädoyer für saubere Trennungen und gegen Segler unter falscher Flagge.Mikhail Ryklin nimmt Abschied von der Krim und erinnert sich an ihre einmalige Schönheit und das gute Leben im Urlaubsparadies, in dem jedes Auto zum Taxi, jedes Kämmerchen vermietet wurde und man sommerlich fieberhaft mit Geldverdienen beschäftigt war, um nach der Saison bis zum nächsten Mai in den Winterschlaf zu fallen. Er versteht die Nostalgie der Halbinselbewohner nach den privilegierten sowjetischen Zeiten, doch angesichts der erneuten russischen Einverleibung der Krim erinnert er an das Sprichwort „Umsonst gibt’s den Käse nur in der Mausefalle.“VORSCHAUDas Ende September erscheinende Herbstheft von Lettre wird sich in einem großen Themenschwerpunkt der Theorie und Praxis des Theaters widmen.Wir wünschen Ihnen inspirierende Lektüre, frohe Pfingsttage und eine prächtige und bezaubernde Sommerzeit!

Mit freundlichen Grüßen,
Lettre InternationalPS. Unsere Website www.lettre.de bietet nicht nur Informationen zur Zeitschrift, unseren Kunsteditionen und eine kontinuierlich aktualisierte Archiv-Suchfunktion. Dort finden Sie ebenso unsere aktuellen Mediadaten. Vernetzen Sie sich mit uns auch auf Facebook (www.facebook.com/Lettre.International), um über aktuelle Text- und Veranstaltungshinweise, Neuigkeiten, Pressestimmen oder Fundstücke aus dem Archiv informiert zu werden.

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