Sehr geehrte
Damen und Herren, liebe Leserinnen und Leser, liebe
Kolleginnen und Kollegen,„Mühsame Eleganz verhält sich zur
wirklichen Eleganz wie eine Perücke zu echtem Haar“, meinte Honoré de Balzac. Publizistische Zöpfe und
ideologische Perücken waren unsere Sache nie – und so glänzt im Sommerheft das
echte Haar der Eleganz in vielen
kulturellen Farben. Die Texte zur Eleganz in Europa, China, Japan und Arabien
von Hannes Böhringer, Yang Lian, Siham
Bouhlal u. a. werden
begleitet von faszinierender Photographie von Hans Hansen und Stanislas
Guigui.Was gibt es
noch in Lettre International Nr. 105? Wir präsentieren Beiträge zu einer
Anthropologie der Macht, konfrontieren uns mit bitteren Einsichten
Machiavellis, untersuchen die Rolle von Charisma, Ruhm, Angst und Gewalt,
analysieren die Inszenierung von Politik und inspizieren mit Marcel Hénaff die politische Bühne.
Starke Vorwürfe erhebt der Enthüllungsjournalist Seymour Hersh gegen die Regierung der
Vereinigten Staaten. Reportagen entführen uns in die Ukraine, auf die
Krim und nach Workuta, Barcelona und Skopje, und Georg Stefan Troller erinnert sich an sein
Leben im Paris unter deutscher Besatzung. William Langewiesche durchleuchtet die größte
private Sicherheitsfirma der Welt und ihre Söldnerabteilungen; Philippe Videlier begleitet meuternde Matrosen
auf dem Panzerkreuzer Potemkin im Jahre 1905; Atelierbesuche bei
Jean Fautrier und Antoni Tàpies unternehmen Patricia Görg und Colm Toíbin. Wir riskieren eine poetische
Reise zum Mond und betreten ein Universum aus sechs unmöglichen
Dingen. Und auch Lettre wird vom brasilianischen
Futebol-Fieber gepackt ...DIE POESIE DER
PILLE!Das Multitalent José
Manuel Wisnik ist nicht nur Komponist, Musikologe und Dichter,
sondern auch profunder Kenner der Fußballkultur und -geschichte seines
Heimatlandes Brasilien. Das Runde muß auch hier ins Eckige; gedribbelt, geflankt
und gefoult wird jedoch im Rhythmus von Samba und Bossa Nova. Wir erinnern uns
an Pier Paolo Pasolinis Vorstellung vom „poetischen Fußball“ und pfeifen an zu
Lebenskunst und Lebensfreude im Rhythmus des
SpielsIDEALE DER
ELEGANZ„Das elegante
Leben“, konstatierte Balzac, „ist
der Ausdruck aller Fortschritte, die ein Land macht, da es ja alle Arten des
Luxus in sich begreift.“ Gehört
Eleganz zum alten Eisen oder ist es ein zukunftsfähiger Begriff? Privileg
aristokratisch-höfischer Lebensweise vor der Französischen Revolution, wurde sie
im 19. Jahrhundert zunehmend zum Lebensstil des arbeitsfreien wohlhabenden
Bürgertums, später dem Dandy zum Distinktionsgestus gegenüber der aufkommenden
Massengesellschaft. Im 20. Jahrhundert erklimmt Eleganz die lichten Höhen
massenhaft produzierter Modeprodukte. Und heute? Ist Eleganz noch etwas
erstrebenswertes, und wenn ja, für wen? Ist Eleganz einer stillen Aristokratie
vorbehalten? Kann man Eleganz kaufen, erlernen, oder ist sie eine natürliche
Mitgabe? Was verbindet Eleganz mit Luxus, Stil, Manieren, Garderobe? Mit
Funktionalität, Sachlichkeit, Einfachheit, Gelassenheit, Souveränität? Mit Ethik
und gelingendem Leben? Birgt Eleganz gar ein Potential für die
Zukunft?Der Philosoph Hannes Böhringer reflektiert Über Eleganz und Lässigkeit. Zwischen schön
und gut, Ordnung und Unordnung, trügerischem Schein und spielerischer Wahrheit
entfaltet Eleganz ihre Faszination und Verführungskraft. Sie oszilliert zwischen
Leichtigkeit und Sorgfalt, Raffinesse und Anmut, Angemessenheit und
Ehrenhaftigkeit, Schicklichkeit und Scharfsinn, Smartness und Coolness,
Unscheinbarkeit und Einfachheit, aristokratischer Lebenskunst und mondäner
Gelassenheit. Immer sucht sie nach spielerischen Lösungen zwischen Maß und
Übermaß. Eleganz kostet Geld, Zeit und Verzicht auf Angeberei. Für den Umbruch
setzt sie eher auf Klugheit denn auf Gewalt. Wenn es ihr gelingt, überraschende
Lösungen für schwierige Fragen zu erfinden, dann kann sie ihre Funktion der
sozialen Distinktion transzendieren und zum Ereignis werden. Dann ist etwas
schön, gut und vollkommen.Der
chinesische Dichter Yang Lian führt
uns ins China der Literati-Kultur und
schildert Konfuzius, Laozi und den Dichter Qu Yuan als drei überragende
Persönlichkeiten, welche die Tradition der „Literati“ in China begründet haben.
Poetisches Talent und philosophische Begabung, Engagement für das Land, Kritik
und Mut gegenüber Machthabern, Feinsinn und Geschmack zeichneten diese gelehrten
Intellektuellen Chinas aus, deren offizielle Funktion auf ein imperiales
Prüfungs- und Kooptationssystem gegründet war. Durch Anregungen und Kritik
sollten sie zur Verbesserung der Gesellschaft beitragen. Scheiterten sie in der
politischen Praxis, zogen sie sich als Privatiers zurück, um sich ganz der
Poesie und Musik, der Kalligraphie und Malerei, der Porzellanherstellung und
Gartenkunst zu widmen. Einen Eindruck von der Verfeinerung ihrer gelebten
Eleganz vermittelt die Erinnerung an den romantischen Schriftsteller Zhou
Shoujuan (1895 bis 1968): „Er gab später das Schreiben auf und zog sich in
sein Haus in Suzhou zurück. In der zweiten Hälfte seines Lebens widmete er sich
der Gartenkunst und Pengjing, der kleinen, transportablen Landschaft mit
winzigen Bäumen, die man in einem Blumentopf arrangiert, und er genoß das Leben.
Jemand schrieb ihm und fragte, welche Art von Tee er trinke. Er antwortete, daß
er einen grünen Tee wähle und diesen sehr früh im Jahr pflücke, wenn die Blätter
noch sehr weich und zart seien. Er faltete einen Teebeutel aus Reispapier, durch
das die Luft hindurchdringen könne, und lege diesen Teebeutel am Nachmittag ins
Herz einer offenen Lotusblüte. Am Abend schließe sich der Lotus, um sich am
nächsten Morgen wieder zu öffnen. Dann nehme er den Teebeutel heraus und gieße
ihn auf. Dieser Tee mit dem Geschmack frischen grünen Tees besitze nun einen
zarten Lotusduft. Großartig, man möchte fast weinen, wenn man sich vorstellt,
wie elegant der Lebensstil dieser Literati war.“JAPANISCHE ELEGANZDer japanische Schriftsteller Sagakuchi Ango leidet an der Aufdringlichkeit
des Überflüssigen. Aller Zierrat ist ihm ein Graus und im Zentrum seines
Schönheitsideals schlummern Notwendigkeit und Substanz. Nur die Reduktion auf
reine Notwendigkeit und Substanz läßt das Wesen der Dinge erkennen, und so
begründet er, warum das Kasuge-Gefängnis, eine Trockeneisfabrik und ein
Militärschiff die Verkörperung seines ästhetischen Ideals darstellen. Auch der
japanische Philosoph Tadao Ando
verehrt den ästhetischen Minimalismus und verehrt den Geist des Wabi-Sabi. Wabi-Sabi, das sind
Flohmärkte, nicht Kaufhäuser, gealtertes Holz, nicht Laminat, Reispapier, nicht
Glas, es feiert Risse und Sprünge, und all die anderen Spuren, die Zeit, Wetter
und liebevoller Gebrauch hinterlassen. Durch Wabi-Sabi lernen wir, Altersflecke,
Rost und ausgefranste Säume zu lieben; Wabi-Sabi ist die Art von stiller,
unerklärter Schönheit, die geduldig darauf wartet, entdeckt zu werden. Dem
Zen-Buddhismus ist Wabi-Sabi die aktive ästhetische Wertschätzung der Armut, und
wie diese Vorlieben mit Frieden, Ruhe, Harmonie und Ausgeglichenheit
zusammenhängen, lernen wir vom Teemeister Jo-o, der uns die Poesie der Dinge und
auch die Poesie des Teewegs eröffnet.Die marokkanische Kulturhistorikerin Siham Bouhlal widmet sich der Eleganz in der arabischen Kultur. Sie
sucht angesichts der Misere der religionsverhafteten, gewaltdurchzogenen
arabischen Gesellschaften nach neuem Elan. Die Erinnerung an die einstige
arabische Eleganz könnte helfen, den Platz der einzelnen auf dem Schachbrett
zerbrechender Gesellschaften neu zu definieren. Im Arabischen wird
„Eleganz“ oder „Raffinement“ durch das Wort zharf bezeichnet; es
manifestiert sich im Handeln, im Lebensstil, in der Existenz, in den Beziehungen
zu Familienmitgliedern, Freunden oder Liebhabern, im Akt der Anbetung, in der
politischen Praxis, in Bräuchen, Gewohnheiten und mentalen Dispositionen. Um die
Bedeutung von zharf in der frühen arabo-islamischen Kultur zu verstehen,
muß man weit zurückgehen; man muß reisen in eine Stadt auf ihrem kulturellen
Höhepunkt, die heute von Attentaten im Rhythmus von Schießereien, Explosionen
und zerfetzten Körpern erschüttert wird: Bagdad. In der zweiten Hälfte des 3.
Jahrhunderts der Hidschra (dem 10. Jahrhundert n. Chr.) tritt das abbasidische
Kalifat in seinen Niedergang ein, die persönliche Autorität der Kalifen
schwindet, die Provinzen befreien sich, und es kommt zu Aufständen abessinischer
Sklaven, die in den Salzsümpfen des südlichen Iraks arbeiten. „Von diesen
unruhigen Zeitläuften unberührt, verfaßt ein Bagdader Gelehrter sein Buch
des Brokats, eine Abhandlung über Kunst und Schönheit, eine einzigartige
Quelle hinsichtlich der Kenntnis der eleganten Gesellschaft. Es schildert die
Verfeinerung der Sitten, das Savoir-vivre, und beruft sich dabei auf Zeugnisse
kultivierter Stadtbewohner und Beobachtungen im Bereich der Gastronomie, der
Kleidung, der Parfums und der Kalligraphie. Das Buch ist von der Schönheit eines
Gedichts, das mit den kostbarsten Tinten auf Brokat- und Seidengewebe
kalligraphiert wurde und nach Weihrauch und Parfum duftet. Schmuck,
Musikinstrumente, Porzellan, Mobiliar, Schreibfedern, mit Liebesbotschaften
beschriftete Äpfel ... alles ist möglicher Untergrund für den Künstler, Wangen,
Stirn, Handflächen, Fußsohlen werden zur Leinwand einer Kalligraphie, die die
Schönheit der damit Beglückten rühmt und die Leidenschaft besingt, die sie
erweckt.“Der französische
Slawist Georges Nivat, Herausgeber
der Werke Alexander Solschenizyns, erlebt die Ukrainische Verwerfung. Auf einer Reise nach
Kiew, Charkiw und Moskau vergegenwärtigt er die wechselhafte politische
Geographie des Landes, seine doppelte Kultur zwischen östlichen und westlichen
Landesteilen, ukrainischer und russischer Sprache, Literatur und Gedankenwelt.
Er konstatiert die erneute Konfrontation zwischen „Westlern“ und „Slawophilen“.
„Der Abstand zwischen Europa und Rußland nimmt zu. (...) Dieser Abstand wird
auch uns Europäer leiden lassen, denn die Russen sind ja trotz allem Europäer.
Die Europäer werden schnell spüren, daß ihnen dieses riesige Phantomglied
amputiert wurde, das ihnen den Weg zum Pazifik weist und das sie belebt hat,
indem es ihnen Tolstoi und Dostojewski, Mussorgski und Rimski-Korsakow,
Malewitsch und Ziolkowski schenkte (...). Europa ist in Rußlands Schicksal
einbezogen, so wie Rußland in Europas Schicksal, und die Ukraine – selbst die
geteilte, selbst die an der Freiheit krankende Ukraine – befindet sich
zwangsläufig auf dem Weg Rußlands nach Europa. Ihre Provinzialisierung, die drei
Jahrhunderte gedauert hat, ist beendet, doch ihr Erwachsenenalter hat noch nicht
begonnen. Die Utopie eines ‘Dritten Europa’, in das die Ukraine und Rußland
eintreten werden, gehört weiterhin zur europäischen Zukunft; kein eurasisches
Projekt kann diese grundlegende Konstellation
ändern.“Philippe Videlier entführt uns in die Zeit der russischen Revolution
von 1905, nach Odessa, zu hungernden, meuternden Matrosen, die mit der Übernahme
ihres Panzerkreuzers Potemkin
spektakulär zum revolutionären Zeitgeschehen
beitrugen. Die Ereignisse um den Panzerkreuzer auf dem Schwarzen Meer strahlten
ab auf ganz Europa. Videliers historische Reportage erzählt, was aus den von
Eisenstein filmisch zum Mythos stilisierten Akteuren des gekaperten und
umherirrenden Schiffes geworden ist. Legendäre Ereignisse, neu erzählt durch die
Augen der Matrosen: historische Konflikte und Erschütterungen, auch zu lesen als
Vorgeschichte der heutigen Ukraine.Söldner und Sicherheit: Der amerikanische Reporter
William Langewiesche porträtiert das
größte private Sicherheitsunternehmen der Welt: G4S. Diese „Chaos Company“
bewacht Gebäude, Krankenhäuser und Gated Communities, führt Gefangenentransporte
durch, sorgt für die Repatriierung abgewiesener Emigranten und kontrolliert
Verurteilte mit elektronischen Fußfesseln. Ihre Einsatzkräfte bewachen
Rockkonzerte, Sportereignisse, Häfen, Minenfelder, Ölraffinerien, Atomanlagen
und verfügen über modernste Überwachungstechnologien. Die gigantische Firma
greift da ein, wo Militär und Polizei nicht mehr tätig werden. G4S hat mehr als
600.000 Menschen unter Vertrag und ist nach Mitarbeiterzahl das drittgrößte
Unternehmen der Welt. Der Autor begleitet die Söldner bei Konflikten im
Südsudan, in Nigeria und den USA. Die vielen Schauplätze der Welt werden immer
explosiver und schwieriger zu managen; G4S ist ein bedrohliches Symptom dafür,
daß der Staat das Monopol legitimer Gewalt abgibt und hoheitliche, polizeiliche
wie militärische Aufgaben zunehmend in die Hände privater Söldner gelegt
werden.Seymour M. Hersh widmet sich einem brisanten Thema: Syrien und Sarin.
Der investigative amerikanische Journalist, weltberühmt für seine Aufdeckung des
My-Lay-Massakers amerikanischer Truppen im Vietnamkrieg und seine Enthüllung
US-amerikanischer Folterpraktiken im irakischen Abu Ghraib-Gefängnis,
Pulitzerpreisträger, geehrt mit zahlreichen Journalistenpreisen, langjähriger
Mitarbeiter des New Yorker und
der New York Post, hat seinen
jüngsten Text in Großbritannien veröffentlicht. Hersh stellt darin die
offizielle Darstellung der amerikanischen Regierung zum Giftgasangriff in Syrien
am 21. August 2013 in Frage. Nach Präsident Barack Obama und Außenminister John
Kerry war die Sache klar: Die syrische Regierung war schuldig, sie allein
verfügte über Sarin, sie tötete damit mehr als 1.000 Menschen und beging nicht
nur ein ungeheuerliches Verbrechen, sondern hatte damit auch die von Obama
lautstark definierte „Rote Linie“ überschritten, weshalb die USA nun militärisch
intervenieren würden. Die Beweise waren unwiderleglich, jeder Zweifel
deplaziert, der Krieg unausweichlich. Im letzten Augenblick lenkten Obama und
Kerry erstaunlicherweise ein und bliesen den Angriff ab. Welche Vorgänge
verbergen sich hinter den bekannten Abläufen? Hershs akribische Analyse der
Hintergründe des Geschehens unter Berufung auf hochrangige Zeugen und Insider
aus Militär, Geheimdienst und Regierung wirft ernste Zweifel an der Version der
US-Regierung auf. Vieles deutet demnach darauf hin, daß der Sarinangriff nicht
von der syrischen Regierung, sondern in Kooperation von türkischen
Geheimdienststellen mit der islamistischen Al-Nusra-Front unter falscher Flagge
durchgeführt wurde, um die USA mittels der Vortäuschung eines Giftgasangriffs
durch Assad zur Intervention in Syrien zu veranlassen. Die detektivische
Zusammensetzung des Puzzles ergibt das Bild einer zynisch kalkulierten
Medieninszenierung zur Täuschung der Weltöffentlichkeit über die wahre
Urheberschaft dieses Giftgasangriffs. Der Text wurde in englischer Sprache am 4.
April 2014 in der London Review of Books erstveröffentlicht; seither sah sich keine deutsche
Publikation veranlaßt, diese Analyse des wohl besten Enthüllungsjournalisten der
Welt auf Deutsch zu veröffentlichen. Lettre International holt dies nach, weil die Recherche dieses
herausragenden investigativen Journalisten den deutschen Lesern nicht
vorenthalten werden sollte: Seymour Hersh, Rote
Linie, Rattenlinie.(In der Los Angeles
Times erschien am 1. Juni 2014 unter
dem Titel „A Dangerous Method” eine polemische Kritik von Muhammad Idrees Ahmad
an Hershs Text.)ARCHITEKTUREN
DER MACHTDer italienische
Psychoanalytiker Sergio Benvenuto
betrachtet den Übergang von der Bewunderung Silvio Berlusconis zur Bejubelung
Matteo Renzis. Welche Verführungskräfte besitzen diese politischen
Persönlichkeiten? Warum genießen sie derartige Popularität? Wirksam scheinen
weniger ihre Ideen oder Argumente als ihr „sound“ und ihre geradezu animalische
Ausstrahlung. Mit der Stimme, dem Körper, mit Worten, Taten und Blicken scharen
die Führer Anhänger um sich und aktivieren zum Kampf. Diese Führer machen aus
ihrem eigenen Körper den Hochsitz der Macht. Führer genießen die Erweiterung der
eigenen Potenz, sie inszenieren sich als Sieger, und mit Siegern identifiziert
sich die Masse. Über die Liebe zum Führer als dem verkörperten
Ideal.Der russische Philosoph
Valeri Podoroga skizziert die
„monströse Herrschaft“ in Rußland von der Zarenzeit über Stalin bis zum heutigen
„Oligarchen der Oligarchen“. Sein bitteres Urteil über die heutige
postsowjetischen Zustände lautet: „Zuletzt ist eine neue Figur in Erscheinung
getreten: Das Herren-Monster. Etabliert werden die Bilder vom neuen
Herrn vermittels der Massenmedien: Diese Medienbilder tragen einen
Anstrich sadistischer und bestialischer Erotik (wie auch die
Tschetschenienkriege, das ‛Sprengen von Wohnblöcken’, die Geiseldramen im
Dubrowka-Theater und in „Beslan“, die private Beschlagnahmung nationaler
Reichtümer). Die Gesellschaft hat eine rapide Feudalisierung durchlaufen, die
Konkurrenz wurde ausgeschaltet wie auch die Gleichheit vor dem Gesetz; etabliert
wurde erneut die Idee der Rangordnung; wir haben es mit einer Monstrosität neuen
Ausmaßes zu tun. Einerseits existiert eine neue Herrenklasse, andererseits eine
geknechtete, unterwürfige und teilnahmslose Bevölkerung. Jeglicher Widerstand
ist versiegt. (...) In den neunziger Jahren wurden zielgerichtet die Kräfte von
Haß und Mißgunst geschürt, ebenso wie das Streben nach Profit, Niedertracht und
Verrat. Der postsowjetische Prototyp jenes Herren-Monsters ist der
kriminelle Typus, der Homo criminalis.“Der Historiker Robert
Morrissey schildert Napoleons virtuose Inszenierung des Ruhms; die Aura des
unbesiegbaren Feldherrn diente Bonaparte zur Verfestigung seiner Herrschaft.
Inszenierungen ließen ihn zur mythischen Heldengestalt werden, zum Nachfolger
des Achilles, gestützt auf Heldentaten, umstrahlt von geradezu antikem Ruhm.
Zwar verehrte man nach der Französischen Revolution bereits das Geld, das
Interesse, den kalten Egoismus. Dennoch gelang es Napoleon, seine Tugend, seine
Hingabe, seine Selbstlosigkeit zum Indiz der eigenen Größe zu stilisieren. Die
Gloriole des Unsagbaren und Wunderbaren umwehte ihn und die Dankbarkeit und
Begeisterung des Volkes ließen ihn triumphieren. Napoleon vermochte es, aus
seinem Ruhm Kapital zu schlagen und dadurch seine politische Legitimität zu
begründen. Über Ruhm als System und die politische Ökonomie.Der Philosoph Marcel
Hénaff analysiert Die politische
Bühne. Wie unterschieden sich im antiken demokratischen Griechenland,
im christlichen Königtum des Mittelalters, im Feudalabsolutismus oder in den
Renaissancestaaten Italiens die Schauplätze des Politischen? Analog zur
Entwicklung der Perspektive in der Malerei sucht auch Machiavellis „Fürst“ nach
einer idealen Position des Sehens und Gesehenwerdens, von der aus er den
Schauplatz der Gesellschaft souverän beobachten und beherrschen kann. Wie
verhält es sich heute? Zur Bühne der Demokratie gehören Diskurs, Rationalität,
Parlament. Doch ins Imaginäre einer Demokratie mischen sich auch
kommerzialisierte Bildwelten, instrumentalisierte Affekte, vermachtete Medien.
Könnte die Vielfalt dieser Symbole, Erzählungen, Traditionen und Institutionen
zu einer sichtbaren Verkörperung demokratischer Souveränität
verschmelzen?Der französische
Philosoph Étienne Balibar widmet sich
Machiavellis Tragik. Dessen
Fürst handelt von Tatmenschen und Masse, Klugheit und Gewalt, aber auch
von der tragischen Dimension der Macht. Mord, Folter und Verrat werden zum
Werkzeug rationaler Herrschaftsstrategien. Um unter den Bedingungen eines
endemischen Bürgerkriegs ein Monopol der Macht errichten zu können, ist eine
Politik der Grausamkeit erforderlich. Doch die Eroberer und Helden sind
letztlich zum Scheitern bestimmt, das Rad der Fortuna dreht sich weiter, im
Aufstieg sind Scheitern und Verfall bereits angelegt.Die Kommunisten Karl Marx und Antonio Gramsci waren
Bewunderer Machiavellis. Dieser war ihnen nicht Lehrer des Bösen, sondern
Aufklärer über das zynische Funktionieren von Macht. In den 1970er Jahren sahen
Philosophen wie Louis Althusser und Claude Lefort in Machiavelli einen
geeigneten Katalysator zur Erneuerung des linken Denkens. Man suchte eine
Antwort auf die Paralyse des Marxismus. Materialismus und Aleatorik wollte man
zusammendenken; statt eines vereinfachenden Essentialismus, Determinismus und
Holismus wollte man nun Abweichungen, Zufälle, Kontingenzen denken können; das
Ziel der Aufhebung aller Widersprüche der Gesellschaft wurde abgelöst von der
Einsicht in die Unaufhebbarkeit bleibender Spaltungen. Der amerikanische
Ideengeschichtler Warren Breckman
über das „Gehen unbegangener Wege“.KÜNSTLER IN IHRER ZEITInmitten eines verwunschenen Parks voller seltener
Bäume und Pflanzen liegt das auratische Refugium des informellen Malers und
Bildhauers Jean Fautrier. Ganz seinem Werk hingegeben, lebt das einstige
Résistance-Mitglied in Zurückgezogenheit. Mit Pinsel und Spachtel, Leinwand,
Papier, Lehm, Sand, Farbe, Paste und Puder sucht der Künstler das innere Bild
von Gegenständen zu erfassen, balancierend zwischen Konkretion und Abstraktion.
Patricia Görg unternimmt imaginäre
Annäherungen an eine einzigartige Persönlichkeit. Undurchdringlich das Gebüsch
am Rand, undurchdringlich jener Maler, der wortkarg, hager, konzentriert in
Chateaubriands einstiger Villa einen Zufluchtsort vor der Gestapo, dann ein
Zuhause findet. Fautrier lebt inmitten von alten Fauteuils, großflächiger
Wandgemälde, Blumenteppichen, besessen von seiner Kunst, durchdringt die
Gegenstände, die er porträtiert, und läßt sie aus schwimmendem Steinstaub,
Klebstoff, Chemikalien entstehen, um sie dann Schicht für Schicht zu zerkratzen,
bis ein amorphes Schorfrelief etwas nicht Darstellbares offenbart: die
verstümmelten Köpfe getöteter Widerstandskämpfer und anderer Geiseln aus dem
Weltkrieg: WohnzimmerwolkenColm Tóibín widmet sich Tàpies
und Barcelona. Antoni Tàpies, Joan Miró und Pablo Picasso stehen für
schöpferische Aufbrüche wie für eine dramatische Epoche ihrer Stadt. Tàpies,
Sproß einer etablierten katalanischen Familie, wandelte sich vom privilegierten
Bürger zum risikobereiten Widersacher des Franco-Regimes, erfuhr Repression,
begegnete Orwell, Klee, Chillida, Dubuffet und entwickelte seine Kunst zu
amorpher, gestischer Malerei. Er arbeitete mit Stroh, Schlamm, Holz, Lumpen,
Packpapier und Farbe; statt Schönheit inszenierte er Dunkelheit, okkulte Gesten
und Zeichen. Seine unorthodoxen Bildwelten gehören heute zum künstlerischen Erbe
Kataloniens. Szenen aus einer brodelnden Stadt, abenteuerlich und modern, nach
Unabhängigkeit strebend.Mal
Sichel, mal halb gelutschtes Bonbon, meist aber großer runder Zirkel, leuchtende
Scheibe, riesiger Hintern ... Joachim
Kalka ist mondsüchtig und durchblättert die Bücher nach lunatischen
Spuren. Von Peterchens Mondfahrt bis zu Nikolai Gogols Aufzeichnungen
eines Wahnsinnigen, von Wilhelm Busch bis zu Lawrence Sterne – der Mond hat
es den Dichtern schon immer angetan. Auch Dschingis Kahn fand man häufig im
Geröll bei der Betrachtung des Mondes, sogar Maikäfer wurden schon auf den Mond
geschossen. Den Europäern zeigt er die Stunde des Werwolfs an, während Chinesen
einen göttlichen Hasen in ihm erkennen. Anderen ist er eine blutlose kosmische
Leiche, welche die Erde umkreist. Lunatische Bruchstücke einer zauberhaften
Archäologie des
Mondes.Eine
unmögliche Stadt, ein unmöglicher Garten, eine unmögliche Liebe, ein unmögliches
Wesen, ein unmögliches Multiversum, eine unmögliche Zukunft ... Mit ihrer
Karte von sechs unmöglichen Dingen
bezaubert und entführt uns die iranisch-amerikanische Schriftstellerin Lila Azam Zanganeh in ein phantastisches
Universum möglicher Unmöglichkeiten, von einer Stadt der verbundenen Inseln, in
den Garten eines Gemäldes, zu monatelang haltbaren Küssen, audienzerheischenden
Vögeln, zu Worten, die aus Kristallmolekülen bestehen, von Schönheit, die in der
Handfläche wohnt, und einer Penelope, die nach Rom reist
...STÄDTE UND
MENSCHENGeorg
Stefan Troller, Autor des legendären
Pariser Journals, kam erstmals 1939 als Flüchtling nach Paris, mit
gefälschtem uruguayischen Paß, ein zweites Mal kurz vor der deutschen Besatzung,
ein drittes Mal nach der Befreiung durch die Alliierten im August 1944. Nach dem
Krieg entschloß er sich dann, dort zu bleiben und die widerspenstige Stadt durch
das Bild, den Dokumentarfilm zu erobern. Über eine wahre Metropole, ihre
Labyrinthe und Launen, Kurtisanen und Soutanen, Helden und Opportunisten, voller
Pferdewägen und Improvisation, Jazz und Juliette Gréco, über das Paris unter der
Vichy-Regierung, den Résistance-Mythos und die Wandlungen der Nachkriegszeit bis
heute – Gespräche, Träume, Amouren und Betrachtungen eines scharfen Auges.
Troller erinnert sich für Lettre an Damals in
Paris.Ein einstiges
Strafgebiet von der Größe Deutschlands mit 41 Kohleschächten, eine Betoninsel,
abgeschnitten vom russischen Festland, eine Region, in der neun Monate lang
Winter herrscht mit Temperaturen von bis zu minus fünfzig Grad: Workuta, eine
von Stalins größten Inseln kurz vor dem Eismeer. Hannes Opel fragt, wie die Menschen heute in
dieser Region leben, in der große Arbeitslosigkeit herrscht und in der sich der
ganze Wahnsinn des 20. Jahrhunderts spiegelt. Er trifft auf Workutas Krieger, Männer, die in Kampfmontur
ihre mit weißen Kunststoffkugeln geladenen Waffen ziehen, um mit Kameraden Krieg
zu spielen und den Heldentod zu sterben vor der unwirklichen Kulisse einer
zerstörten, ehemaligen Arbeiterwohnsiedlung. Ein Versuch, der Leere und der
Sinnlosigkeit einer ganzen Region zu entgehen.Die mazedonische Stadt Skopje erlebt einen Bauboom. Gebäude und
Monumente sollen eine glorreiche Vergangenheit heraufbeschwören – ein urbanes
Riesenprojekt, das sich an der monumentalen Architektur des 19. Jahrhunderts
orientiert, vorangetrieben von der nationalistischen Regierung. Der kroatische
Journalist Jurica Pavičić untersucht
diese Instrumentalisierung des Urbanismus zur Neuerfindung der Vergangenheit.
Ein Rückfall in eine vormoderne Zeit, eine Orgie militanten Kitsches, mit dem
Ziel, kulturell alles zu verdrängen, was im vergangenen Jahrhundert erreicht
wurde: Ausradierung der ModerneBRIEFE, KOMMENTARE,
KORRESPONDENZENIn Wiesel unterm Cocktailschrank erinnert sich
Heathcote Williams an seinen Freund
Harold Pinter, den britischen Literaturnobelpreisträger, dessen Lieblingszeile
von John Webster lautete: „Selbst ein Mann von reinem Herz/Der zur Nacht
seine Gebete spricht/Kann zum Wolf werden, wenn der Wolfshut blüht/Und der
Herbstmond scheint hell ...“ Über Dichtung und Drama, Kneipen, Kricket,
Cupido und Musen und das Vermögen, im richtigen Augenblick zum Wolf zu
werden.Der kolumbianische
Schriftsteller Héctor Abad erinnert
an seinen Freund Gabriel Garciá Márquez, Romancier voller Worterfindungskraft
und erzählerischer Magie. Mit Hundert Jahre Einsamkeit gelang ihm der
„Urknall des Gegenwartsromans“. Ein Gigant der Literatur aller Zeiten,
mit einem Instinkt, schärfer als die Summe der fünf Sinne, zu dem erstaunliche
poetische Intuition und eine tiefe Kenntnis des menschlichen Herzens hinzukamen.
Trotz aller Übertreibungen des „Magischen Realismus“ und trotz seiner
fragwürdigen Faszination für die Macht: Seine wunderbaren Geschichten voller
Erotik, Krieg, Intimität und Gewalt werden ihren Zauber bewahren: Gabo und die Seele der
Schrift.Der Romancier
Jaume Cabré stellt den sich
verschärfenden Konflikt zwischen Spanien und den katalanischen
Unabhängigkeitsbefürwortern dar. Er plädiert für das Recht Kataloniens auf ein
Referendum, analog zum von der britischen Regierung anerkannten Referendum zur
Unabhängigkeit Schottlands. Die Bedrohung der katalanischen Sprache mit ihren 10
Millionen Sprechern, die Infragestellung des vom spanischen Parlament
verabschiedeten katalanischen Autonomiestatuts durch das spanische
Verfassungsgericht, die finanzielle Benachteiligung des Landes durch die
Zentralregierung und auch die Tatsache, daß in den letzten 20 Jahren 14 neue
Staaten in Europa entstanden sind, sind ihm Argumente genug für einen neu zu
schaffenden Staat Katalonien mit eigenen Strukturen, aber einer Existenz im
Rahmen der EU.„Korruption ist
der Mißbrauch anvertrauter Macht zum privaten Nutzen oder Vorteil“.
Wolfgang
Wodarg fragt, inwieweit heute
zivilgesellschaftliche Organisationen zum Objekt der Beeinflussung und
Instrumentalisierung für privatwirtschaftliche oder politische Zwecke werden.
Die Verlockungen des Geldes, der wirtschaftlichen oder politischen Macht, führen
in fast allen NGOs zu Interessenkonflikten. „Die Pharmaindustrie kauft
Selbsthilfeorganisationen, die Automobilindustrie Verkehrsclubs und die
Getränkeindustrie Sportvereine.“ Doch eine „Zivilgesellschaft, in der NGOs
systematisch auf ihre wirtschaftliche Verwertbarkeit gescannt, unterwandert oder
mit Geld geködert werden, ist nicht zu retten.“ Ein Plädoyer für saubere Trennungen und gegen Segler
unter falscher Flagge.Mikhail Ryklin nimmt Abschied von
der Krim und erinnert sich an
ihre einmalige Schönheit und das gute Leben im Urlaubsparadies, in dem jedes
Auto zum Taxi, jedes Kämmerchen vermietet wurde und man sommerlich fieberhaft
mit Geldverdienen beschäftigt war, um nach der Saison bis zum nächsten Mai in
den Winterschlaf zu fallen. Er versteht die Nostalgie der Halbinselbewohner nach
den privilegierten sowjetischen Zeiten, doch angesichts der erneuten russischen
Einverleibung der Krim erinnert er an das Sprichwort „Umsonst gibt’s den Käse
nur in der Mausefalle.“VORSCHAUDas Ende September erscheinende Herbstheft von
Lettre wird sich in einem großen Themenschwerpunkt der Theorie und Praxis des Theaters
widmen.Wir wünschen Ihnen
inspirierende Lektüre, frohe Pfingsttage und eine prächtige und bezaubernde
Sommerzeit!
Mit freundlichen Grüßen,Lettre InternationalPS. Unsere Website www.lettre.de bietet nicht nur Informationen zur Zeitschrift, unseren Kunsteditionen und eine kontinuierlich aktualisierte Archiv-Suchfunktion. Dort finden Sie ebenso unsere aktuellen Mediadaten. Vernetzen Sie sich mit uns auch auf Facebook (www.facebook.com/Lettre.International), um über aktuelle Text- und Veranstaltungshinweise, Neuigkeiten, Pressestimmen oder Fundstücke aus dem Archiv informiert zu werden.
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