Die Zeitschrift Lettre International liegt in der Gleichgewicht Bibliothek, Hauptstr. 13, 2265 Drösing, auf. (Info zu Öffnungszeiten hier!)
Sehr
geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,
„Nun ist er endlich
kommen doch / in grünem Knospenschuh“
so Theodor Fontane, und auch wir
sind bereit: Heute, Donnerstag, den 13. März 2014, erscheint die Frühjahrsausgabe Nr. 104 von Lettre International, die das 26. Jahr unserer publizistischen Aktivität eröffnet. Mit über
1.200 neuen Abonnenten seit vergangenem Oktober blicken wir zuversichtlich
voraus. Werden auch Sie Mitglied im Klub, gönnen Sie sich den
Romanée-Conti
unter den Zeitschriften!
Eine weltoffene, unabhängige, vielstimmige Zeitschrift erwartet
Sie!
Die aktuelle Ausgabe widmet sich dem Umbruch von
1989 als Weltereignis: Neues Europa, andere Welt. Sie enträtselt
die Biographie eines berüchtigten Attentäters und untersucht das Brodeln in
islamischen Gesellschaften. Reportagen führen durch Italien, von
Petersburg nach Wladiwostok, ins Erdölgebiet von Aserbaidschan,
nach Prag und Kigali. Wir sind zu Gast im Theater und
bei Künstlern, genießen einen legendären Tropfen, trainieren in
der Muckibude und entschweben in kosmische
Unendlichkeiten.
Die portugiesische Künstlerin Adriana Molder gestaltet die Ausgabe
mit atemberaubenden Gouachen: Blutbad. Photographien von Joachim Richau entführen uns nach
Skandinavien: Stenbrott.
Die spanische Schriftstellerin
Nuria
Amat geht in ihrem essayistischen Politthriller einem Geheimnis der
politischen Geschichte des 20. Jahrhunderts nach: dem Mord an Stalins
Gegenspieler Leo Trotzki im mexikanischen Exil, 1941 durch Ramón Mercader. Wie
wurde ein 27-jähriger Katalane, Sproß des Bürgertums, zu einem der
kaltblütigsten Mörder des 20. Jahrhunderts? Welche Rolle spielte seine Mutter,
eine kommunistische Kämpferin im Spanischen Bürgerkrieg? Wie bildete man ihn zum
Attentäter aus? Amat recherchierte jahrelang zur Persönlichkeit des Mörders, zu
den Motiven des (von Stalin angeordneten) Verbrechens und zur Struktur des
sowjetischen Spionagenetzes, als dessen bedeutendster Agent Mercader bald galt.
Nachdem er Trotzki in seinem Haus mit einem Eispickel ermordet hatte, verbrachte
er 20 Jahre in einem mexikanischen Gefängnis, ging nach der Entlassung in die
Sowjetunion und siedelte später nach Kuba über, wo er bis zu seinem Tode lebte.
Über die Drahtzieher des Attentats schwieg er bis ins Grab.
1989 ALS
WELTEREIGNISJacques Rupnik, langjähriger Berater des tschechischen Präsidenten Václav Havel und
eine profunder Analytiker Europas, unternimmt in seinem Essay
1989 als
Weltereignis den Versuch einer Klärung. 1989 gilt als
Jahr des
Wunders. Diktaturen und
die vom Kalten Krieg bestimmte internationale Ordnung brachen zusammen. Es war
auch das Jahr der blutigen Niederschlagung der Demokratiebewegung in China und
das Jahr, in dem Ajatollah Khomeini die Fatwa gegen Salman Rushdie verkündete.
Es war der Abschluß des „kurzen 20. Jahrhunderts“, das von zwei Weltkriegen und
zwei totalitären Systemen geprägt war, die in Europa ihren Ursprung hatten. Und
es war möglicherweise das letzte Mal, daß Europa Schauplatz eines
Weltereignisses war. Danach begann das globale Gravitationszentrum, sich vom
Atlantik zum Pazifik hin zu verschieben. Was ist aus den großen Hoffnungen
geworden, die mit den damals zentralen Begriffen von Zivilgesellschaft,
Menschenrechten, Frieden und demokratischer Revolution verbunden waren? Rupnik
skizziert die fundamentale Transformation des politischen Weltsystems, und
zeigt, wie wir in zweieinhalb Dekaden von der „Samtenen Revolution“ und der
Ausbreitung der Demokratie zu einem Europa gelangt sind, das sich vereint findet
in der größten Finanzkrise seit 1929 sowie einer Krise der Demokratie, die durch
Technokratie und Populismus verstärkt wird. Der Glaube an die europäische Idee
wird schwächer. Worin könnten Fortschrittserwartungen noch wurzeln?
„Jede Suche nach einem
Ausweg aus der schwierigen Lage muß beginnen mit einer Reflexion über die
Versprechen und Illusionen, über die Errungenschaften und Sackgassen von 1989“.
Rupnik beginnt
damit.
Für den Dichter und Dissidenten
Václav
Havel begann das Jahr 1989 im Gefängnis; gegen Ende desselben Jahres
residierte er als tschechoslowakischer Präsident im Prager Schloß. Sein
Schicksal symbolisierte das historische momentum.
Lettre
präsentiert einen unbekannten Text von Havel: Geschichte und Geduld. Darin resümiert er die Erfahrung der „Samtenen
Revolution“. Er beschreibt die Verlegenheit der Dissidenten, als das totalitäre
System 1989 wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel und sie nun politische
Verantwortung übernehmen mußten. Überrascht und unvorbereitet suchten sie in
komplizierten Situationen nach politischen Lösungen. Havel reflektiert über das
Erfordernis der Demut und die Schwierigkeit, Verantwortung zu übernehmen, ohne
den Ausgang der Dinge zu kennen, und über die Unvorhersehbarkeit der
Geschichte.
Ungarn. Horthy ist eine fulminante
Abrechnung Lacy
Kornitzers mit der in Ungarn grassierenden
Geschichtsklitterung und Rehabilitierung des Reichsverwesers und antisemitischen
Gefolgsmanns Adolf Hitlers: „Es ist auch nicht sicher, ob ihm (...) Assoziationen gekommen sind
zu der Verwüstung, die er in Ungarn zurückgelassen hatte, oder zu seinen
Gendarmen, welche die Juden in die Waggons geprügelt und in den Tod geschickt
hatten. Über 600.000 in kürzester Zeit. Viele wurden auch vor Ort erschlagen.
(...) Oder kam ihm die Armee in den Sinn, die auf seinen Befehl hin nach Rußland
marschierte und am Don unterging, weitere 400.000 Tote für die Ewigkeit? Das auf
Fahrrädern in den Krieg radelnde Bataillon, das, bevor es noch die eigenen
Landesgrenzen überschritt, im Schlamm steckengeblieben war, weil es, welch
Mißgeschick, unablässig geregnet hatte. Gut bestückt war die ungarische Armee
ohnehin nicht, weshalb Hitler Horthys Ansinnen, ungarische Divisionen gemeinsam
mit der Wehrmacht kämpfen zu lassen, zurückgewiesen hatte. So hatte Horthy der
Sowjetunion seinen eigenen Krieg erklärt und ihn allen Prognosen entsprechend
verloren“.
POESIERaoul Schrott zieht in seinen
Gedichten alle Stimmregister. Von einem Leben im Mittelfeld, die Lunge leer, am Limit handelt
Der
Sechser, verfolgt von
Ersatzbank, Kontrahent und Selbstbetrug. Alleinstehend Anfang vierzig macht eine Inventur des eigenen Lebens,
Familienstand geklärt, gut genährt, in Positur, mit Vorstellungen von sich, die
zur Hälfte erlogen sind. Die Rückenschwimmerin richtet den Blick ins Nichts, empfindet das Wasser, kommt nirgends
an, reckt sich von einem Beckenrand zum anderen, während Quadrate das Licht der
Decke auf die Abtauchende zurückwerfen. Der Museumswächter beobachtet erschöpfte Touristen, Schulklassen mit Themenlisten,
Empörung über Pinselstrich und Zentralperspektive und benötigt gutes Schuhwerk,
während die Putzkolonne nachts alle Verschmutzungen des Tages aufwischt.
Die
Dolmetscherin zeichnet
Denkfiguren in die Luft, kritzelt Notizen und macht Skizzen, ein Engel der
Schrift, dem Planetenschriften Gedankenstützen sind.
ISLAM / DEMOKRATIE /
FREIHEITWelche Rolle
spielen die Neuen Medien
in Syrien? Mit Facebook, Skype und Smartphones unterwegs im
Bürgerkrieg war James
Harkin. In seiner
Reportage berichtet er von der anfänglichen Begeisterung junger Medienaktivisten
für Satellitentelephone, Sender, High-Tech-Walkie-Talkies, Proxy-Software,
Bloggen und Online-Social-Networking. Die Bewegung spuckte bald große Töne, doch
über Handyfilmen und Videos im Internet hat die technologisch versierte junge
Opposition die Politik vernachlässigt. Die leicht herzustellenden, aber
schwachen Bande der neuen Medien haben darüber hinweggetäuscht, daß es gilt,
Bündnisse über Syriens komplexes ethnisches und religiöses Mosaik hinweg
aufzubauen. Fast 100 Medienaktivisten haben mittlerweile ihr Leben verloren. Von
Armee und islamistischen Extremisten verfolgt, sind viele ins Ausland geflohen.
Die einstige Begeisterung ist einer Ernüchterung und Desillusionierung
gewichen.
Galt die Türkei vor kurzem noch als
vielversprechender politischer Akteur im Nahen Osten, wird das Land heute von
einer tiefen Krise bestimmt. Die vom Arabischen Frühling beflügelte Hoffnung,
daß politischer Islam und liberale Demokratie einen gemeinsamen alternativen Weg
zur Moderne erproben könnten, scheint verflogen. Erdogans AKP-Regierung sieht
sich zunehmendem Widerstand gegenüber, nicht nur durch Kurden und schiitische
Alawiten, sondern auch durch die eigene Wählerschaft. Sein neo-osmanisches
Auftreten, Übergriffe auf das Privatleben, Eingriffe in die Unabhängigkeit der
Justiz, die gewaltsame Niederschlagung von Protesten haben Erdogan Zustimmung
gekostet. Korruptionsaffären, weltlich orientierter Dissens, drohende
Wahlniederlagen in Istanbul und Ankara, entgleitende Loyalitäten – die
Selbstsicherheit der AKP schwindet. Im Herrschaftsgefüge treten Risse auf. Wird
die türkische Demokratie überleben?, fragt Roger Friedland in
Körper des
Osmanen
Abdelwahab Meddeb widmet sich aus Anlaß
der Diskussion über die neue tunesische Verfassung dem Verhältnis von Religion
und Verfassung, Islam und Säkularismus. Eine Verteidigung des Islamismus durch
akademische Kreise im Westen greift um sich. Am Beispiel des US-amerikanischen
Intellektuellen Noah Feldman, Jurist, Mitglied des Council on Foreign
Relations und
Fürstenberater, Spiritus rector der jüngsten afghanischen und irakischen
Verfassungen sowie Berater des tunesischen Islamistenführers Rachid Ghannouchi,
zeichnet Meddeb nach, wie in einflußreichen westlichen Kreisen die Strategie um
sich greift, es müsse „säkularen Autokratien“ in der islamisch geprägten Welt
Unterstützung entzogen werden, um diese den Islamisten zu gewähren. Anzustreben
sei ein demokratischer Islamismus. Der Säkularismus selbst wird nunmehr mit
Diktatur gleichgesetzt, der Islamismus mit Demokratie. Meddeb macht diese
westliche Unterminierung des Säkularismus kenntlich und plädiert für einen
Rückgriff auf das Heilmittel der Aufklärung.
In Orgasmus und Gewalt
erkundet der marokkanische Philosoph
Rachid
Boutayeb die Beziehungen zwischen Schrift, Patriarchat, Individualität,
Körper, Sexualkontrolle und Weiblichkeit im Islam. „Das islamische Subjekt ist Opfer einer
archivalen Gewalt, und sein Körper ist als archive interdit zu verstehen. Die
verbotene Sprache des Körpers versucht, Literatur, Malerei und Tanz zur Sprache
zu bringen – vergeblich. Die Hüter des Archivs sehen – zu Recht – in jeder Form
der Emanzipation des Körpers von der Macht der Orthodoxie eine Infragestellung
ihrer Macht.“ (...)
„Die Ansicht, daß es im
Islam – im Gegensatz zur Leibfeindlichkeit des Christentums – eine lustbetonte
Sexualität gebe, ist ein Mythos und zeugt von Ignoranz, nicht nur, was die
islamische Kultur, sondern auch, was die Moderne betrifft. Freie Sexualität,
freie Körper, freie Subjekte – dies alles sind Geschöpfe der westlichen Moderne.
Wie kann man über eine freie Sexualität im Islam sprechen, wenn die Hälfte der
Gesellschaft, nämlich die Frauen, im islamischen Diskurs nur als Objekt
betrachtet wird?“ (...)
„Lust als legitime Lust
ist im Islam allein männlich. Sexualität bleibt Männersache; Frauen haben keine
Lust, ihnen sind lediglich Pflichten auferlegt.“ Ein flammender Essay gegen die Domestizierung
des Körpers und die Opferung der Frau durch den phallozentrischen Diskurs der
islamischen Orthodoxie.
REISEN UND
REPORTAGENIm Frühling
träumen wir uns mit Bora
Ćosić nach Italien. Zum Beispiel nach Triest, wo Joyce seine Prosa
geschmiedet und der revolutionäre Futurismus seine neue Auffassung von Kunst und
Leben propagiert hat. Der Autor nimmt uns mit auf eine beschwingte Wallfahrt auf
den Spuren von Kunst, Architektur, Literatur, zu betörenden kulturellen
Reichtümern eines herrlichen Landes. Seine Wege führen ihn nach Amalfi, in die
weiße Stadt Catania und zum Ätna, in die Katakomben von Palermo, in die Berge
von Norcia, wo die weltbeste Salami produziert wird und der Benediktinerorden
ins Leben gerufen wurde. Er reist nach Assisi und Monselice, wo Petrarca
gestorben ist. Er lauscht dem Meeresrauschen im Ohr des Dionysos bei Syrakus und
dann, nach Pisa, verrenkt er sich den Hals, um die Türme von San Gimignano zu
erspähen: Wunder über Wunder, Städte, Landschaften, Bauwerke und ein summender
Bienenkorb voller Assoziationen.
Der „poetische Geograph“ und Reporter
Wassili
Golowanow sieht nur eines: Öl, Öl, Öl! In seiner Reise ans Kaspische Meer gerät er in
die größte Erdölregion des einstigen russischen Imperiums und der Sowjetunion.
Die Halbinsel Apscheron, an deren Südküste die Ölstadt Baku liegt, beeindruckte
Geographen mit ihrem schwindelerregenden Ölreichtum schon vor mehr als einem
Jahrhundert. Das Erdreich war derart öldurchtränkt, daß nie verlöschende Feuer
loderten. Doch das boomende Ölbusiness hat die Region von Grund auf umgepflügt.
Wo einst duftende Gärten Besucher in farbigen Blütenstaub hüllten, der von
Aprikosen-, Mandel- oder Feigenbäumen herabwogte, stehen heute Bohrtürme. Vom
alten Leben ist nichts geblieben. „Wo hinter dem Dorf einst die Felder und Gärten lagen, regieren
heute die Hunde, sie bewachen riesige silberfarbige Tanks mit Öl. Das Öl ist von
Stacheldraht umzäunt, MP-Schützen bewachen es, das Öl ist bis an den Dorfrand
gerückt.“ Von der
einstigen spirituellen Kultur Aserbaidschans, von der Geschichte des Erdölbooms,
dem sagenhaften Aufstieg der Familien Nobel und Rothschild, von Reichtum und
Gier: Das Erdölfieber von Aserbaidschan.
Der Rußlandexperte Georges Nivat begibt sich auf eine
Reise von dem westlichen Fenster des eurasischen Imperiums hin zum östlichen
Gegenstück: Er reist von Petersburg nach Wladiwostok, das erste 1703 durch Peter
den Großen gegründet, das zweite 1860 durch Murawiew-Amurski. Zehntausend
Kilometer Luftlinie liegen zwischen beiden Städten, deren eine Rußland nach
Europa hin öffnet, die andere es zum Fernen Osten hin. Trotz seiner immensen
Größe erscheint Rußland heute als erstaunlich homogen. Moskau wendet sich
zunehmend dem Osten zu, um sich ökonomisch zu stärken und neue politische
Allianzen zu schmieden. In großem Stil wird investiert und der Osten als Tor zur
pazifischen Welt aufgebaut. Die schwache Bevölkerungsdichte Sibiriens begünstigt
die familiale Vermischung beider Völker: Immer mehr russische Frauen heiraten
chinesische Männer. Der Osten Rußlands ist nicht mehr Schreckensort der
Zwangsarbeit, sondern Experimentierfeld einer eurasischen Perspektive. Ein Blick
in die Zukunft.
Der polnische Reporter Włodzimierz Nowak konstatiert:
„Mein linkes Kabel hat 28
Zentimeter und mein rechtes 29. Ein blödes Gefühl: Die Jungs haben Kabel von
vierzig Zentimetern“ und
taucht ein in das Universum der Muskelmänner in Poznań: Muckibude. Er findet eine Welt männlicher Körperkultur,
deren Adepten vom Kriminellen über den Hip-Hopper bis zum Studenten und
Professor reichen. Es begegnen ihm Hilfsmittel wie Anabolika, Deca Durabolin,
Omnadren, Superanabolon, Testosteron, Winstrol und fragwürdige bis gefährliche
Methoden, den eigenen Körper gnadenlos zu optimieren. Man erhält diese auf einem
zwielichtigen Markt gepanschter Substanzen, welcher das labile seelische
Gleichgewicht junger Männer auszunutzen weiß. Von dem Versuch, Selbstbewußtsein
durch Körper und Masse zu erlangen.
Die unafrikanischste Stadt des schwarzen
Kontinents ist Ruandas Hauptstadt, Kigali. Frisch gemähte Grünstreifen, kaum
Industrie, ein Verbot von Plastiktüten, überdurchschnittliche öffentliche
Sicherheit, penibel regulierter Autoverkehr: außergewöhnliche Ordnung bestimmt
das Bild und zeigt den Versuch einer Stadt, sich nach dem Völkermord 1994 eine
Wiedergeburt zu verordnen. Peter Stepan beschreibt die Topographie dieser atypischen
afrikanischen Stadt, die, auf Hügeln gelegen, mit einer einzigartigen Natur und
Vogelvielfalt aufwarten kann. Dennoch bleibt die Infrastruktur mangelhaft,
Korruption bei der Stadtplanung luxuriöser Villenviertel führt zu Uniformität
und verdrängt ein armes altes Wohnquartier aus Lehmbauten nach dem anderen. Wie
werden die Erinnerungen an Mord, Gewalt, Blutströme, Brandgeruch aufgearbeitet?
Was verbirgt sich hinter der makellosen Fassade? Und welche Rolle spielt das
heutige Regime, das in seiner Autokratie an die einstige Kolonialherrschaft und
die frühere Tutsi-Monarchie erinnert? Das neue Kigali
THEATER, KUNST UND
KULINARIKFrank M.
Raddatz analysiert in „Erobert Euer Grab!“ das immer
erfolgreichere „postdramatische Theater“. Während das postdramatische Paradigma
eine Krise des Dramatischen mit einer Depotenzierung des Sprachlichen
verklammert, unterscheidet er ein der Literatur zugewandtes Theater von einer
Form, die mit dem Epochenbruch von 1989 und der damit verbundenen Abkehr von
Utopiehorizonten entstand. Der dramatische Text, die zukunftsoffene Handlung,
der Schauspieler, Repräsentation und Mimesis bekommen Konkurrenz vom Performer
in einem Theater ohne Handlung. Kunst hört auf, Zukunftsgenerator zu sein. Der
Geist des Hier und Heute, eine Ästhetik der Präsenz rivalisiert mit Echoräumen
der Geschichte. Das postdramatische Projekttheater entspringt jenem utopielosen
Raum, den die postkommunistische Situation eröffnet. Das Ende der Kritik und die
performative Form des Unschuldsraums scheint tief verschränkt mit jener
Apotheose der Gegenwart, die wir als Postmoderne kennen. Handelt es sich bei der
postulierten Aufrichtigkeitskultur um ein Theater der „objektiven Verlogenheit“
oder haben die fehlgeschlagenen Experimente des 20. Jahrhunderts die Ressource
Zukunft tatsächlich aufgebraucht? Über Gegenwart und Zukunft, Geschichte als
Maske des Tragischen, die Konstellation der Zeithorizonte, über Theaterutopien
und Epochenerfahrungen.
Heinz Peter Schwerfel fragt, warum
Künstler, die ihre Liebe zur Utopie der Avantgarden offen zeigen, seit der Wende
des Mauerfalls nicht mehr hoch im Kurs stehen. Ist die Zeitgleichheit beim
Absturz der Ideologien in Politik und Kultur als Zufall zu betrachten?
Vielleicht nicht: Was der Politik ein sozial verbrämter Neoliberalismus jenseits
aller utopiebasierten Ideologien sein mag, ist der Gegenwartskunst eine
„Postpostmoderne“ genannte ethische Beliebigkeit, konsumorientiert und
avantgardefeindlich, die jede Reflexion des eigenen Status meidet. Kurz vor der
politischen hatte es Anfang der achtziger Jahre eine kulturelle Wende gegeben;
seither will der Künstler nicht mehr Glied einer Kette sein, sondern Anachronist
und Außenseiter, möglichst mißverstanden, jedoch im Segment sechsstelliger
Preise gehandelt. Nach dem von Francis Fukuyama ausgerufenen Ende der Geschichte begann die Post-Pop-Kultur wie niemals zuvor
systematisch frische Trends und Moden zu lancieren, um das Betriebssystem des
Kunstmarkts unter Dampf zu halten. Heute nun regiert, in Ermangelung neuer
Trends, eine Outsider-Kunst. Künstler hingegen, die Kunst und Kunstmarkt in
ihren Werken kritisch reflektieren, sind für Sammler und Galerien eher
uninteressant geworden. Das Geld bestimmt: Insider sind out!
KÖRPER UND GENUSSDer Name Romanée-Conti läßt Gaumenfreunde träumen. Bei einem winzigen Ort in Burgund
wachsen die Trauben einer der besten Weinlagen der Welt. Die Barriquefässer des
Weinguts Domaine de la Romanée-Conti veredeln die Quintessenz eines
einzigartigen Bodens und verkörpern eine jahrhundertealte Geschichte.
Benediktiner- und Zisterziensermönche des Mittelalters haben sich zuerst hier
festgesetzt und die Rebsorte Pinot Noir angebaut. Die Hartnäckigkeit der
Kultivierung hat aus diesem Wein ein Produkt gemacht, das Genießer aus aller
Welt begeistert. Der heutige Eigentümer Aubert de Villaine
spricht mit Renée Kantor über die Geschichte
dieses einzigartigen Weinguts. Er versteht sich als Krieger, der eine große
Schlacht gewinnen will gegen den Gang der Zeit, und die Einförmigkeit des
Weltmarkts. Er spricht über Erfahrungen und Finessen beim Umgang mit Boden und
Klima, mit Erde, Regen und Sonne, mit der Haut und dem Saft der Trauben sowie
der Reife ihres Kerns.
„Eine Flasche dieses großen Weins zu trinken, kann sich als eine letzte
Zeremonie vor dem Ende erweisen: Wenige Tage vor seinem Tod trank Henry Miller
zusammen mit zwei schönen Frauen einen schönen Wein, einen Romanée-Conti. Der
Ritus eines letzten Sakraments, ein letztes Hurra auf das
Leben.“ Ein Gespräch über
Handwerkkunst, Biodynamik, Ästhetik, Marktexzesse und kommerzielle
Wegelagerei.
UNENDLICHKEITENIn Gespräch mit meiner Seele
vertieft sich die libanesische
Dichterin Etel
Adnan in eine schicksalhafte Verbindung; im Dialog mit Klaudia Ruschkowski meditiert sie über
Körper, Ich und Poesie: Durch Nacht zum Licht: „Da ist das Ich, das Bewußtsein. Da ist die Seele, von der wir
nicht wissen, was sie ist. Sie ist wie ein Gefährte, ein Schatten des Ich. Dann
gibt es den Körper, der kein Objekt ist. Er denkt. Er ist du. Absolut du. Du
bist absolut Ich, du bist absolut die Seele, du bist absolut der Körper. Und
alle sind da. Ich kann nicht anders, als mit dieser Seele zu sprechen, als wäre
sie ein lebenslanger Gefährte. Wir waren eins, und wir waren verschieden. Wie
begegneten wir einander? Was taten wir einander an? Also wende ich mich an die
Seele.“
REISE DURCH DEN
KOSMOSDer am MIT
lehrende Astrophysiker und Schriftsteller Alan Lightman versucht, dem
Unendlichen Geheimnisse abzulauschen: Unser Platz im Universum. Wie verhält sich unser Planet zu den gigantischen Distanzen und
Größenordnungen des Kosmos? Der Forscher Garth Illingworth hat als am weitesten
entfernte Galaxie ein Sternengebilde ausgemacht, dessen Licht 13 Milliarden
Jahre braucht, um die Erde zu erreichen. Die Milchstraße allein umfaßt etwa 200
Milliarden Sterne, und ihr Durchmesser wird auf 100.000 Lichtjahre geschätzt:
ein Lichtstrahl benötigt also 100.000 Jahre, um von einer Seite der Milchstraße
zur anderen zu gelangen. Die Astrophysik geht von einem expandieren Universum
aus, und der Moment des Urknalls, an dem die Expansion begann, wird auf circa
13,7 Milliarden Jahre zurückliegend eingeschätzt, als das gesamte Universum noch
eine unendlich dichte Versammlung purer Energie gewesen ist. Die Gesamtheit der
lebenden Materie auf der Erde – Menschen, Tiere, Pflanzen, Bakterien, Algen –
macht heute nur 0,00000001 % der Gesamtmasse des Planeten aus. Lightman nimmt
uns mit auf eine höchst erstaunliche Reise durch die Maßstäbe und Dimensionen
unseres Universums.
„In einer
Geschichte, in der sie von der Zeit erzählt, als sie in Afrika einen Löwen
schoß, behauptet Karen Blixen, daß ‛der König kein Herz besitze, welcher eine
liebliche Melodie höre, ohne sie sich merken zu wollen, eine schöne Frau sehe,
ohne sie zu begehren oder ein wildes Tier erspähe, ohne es schießen zu wollen.’
Karen Blixen besaß ein Herz: Sie schoß den Löwen und schickte sein Fell an den
dänischen König.“ Suzanne Brøgger schildert einen
faustischen Pakt der Schriftstellerin und ihre Begegnung mit dem anderen
„heiligen Monster“ der dänischen Kultur: Karen Blixen trifft Niels Bohr.
BRIEFE UND
KOMMENTAREPrag im
Winter besucht und porträtiert Thomas Knauf. Er trifft Schriftsteller und Dichter, Filmer und Schauspieler,
Intellektuelle und Filmregisseure, Verleger und Künstler. Er erinnert sich an
Daheimgebliebene – wie Bohumil Hrabal –und Emigranten – wie Milos Forman – zu
Zeiten des „Realen Sozialismus“, manche vorsichtig, um weiterhin in ihrer
Sprache schreiben zu können, andere schon vor der „Samtenen Revolution“ von
Prag“ unangepaßt, widerspenstig, erfindungsreich, beunruhigend, risikobereit,
brillant. Sie arbeiteten entsprechend der Maxime des Surrealisten Vítězslav
Nezval, der 1930 bereits schwärmte vom Anbruch „einer Zeit, da alle Menschen
Poesie machen wollen“ und seine Zeitgenossen ermahnte „zur Lockerung alles
Erstarrten, alles Versteinerten (der Form, der Vorstellungskraft, der Sprache,
der Phantasie, der kleinbürgerlichen Moral ...) und zur Konkretisierung,
Materialisierung der Welt, die lacht, der Welt, die duftet.“
Heathcote Williams erinnert sich aus
Anlaß des 100. Geburtstags von William Burroughs an einen Besuch des
mythologisierten Underground-Autors in London zu einer Heroin-Entziehungskur.
Über Landkarten der menschlichen Persönlichkeit, Maya-Kultur, Alan Ginsberg,
Truman Capote und die Schicksalszahl 23, über die mottenzerfressene Königin des
Inselreichs, Sarkasmus gegenüber Love and Peace, kichernde Haschköpfe,
psychedelische Träume und die letzten geschriebenen Worte des „Hombre
invisible“: „Liebe ist
der natürlichste Schmerztöter, den es gibt“.
Hans Christoph Buch hinterfragt
Humboldts Schweigen zu
Haiti. 1804 gründeten die
Führer der Sklavenrevolte nach einem fünfzehnjährigen Bürgerkrieg gegen ihre
französischen, englischen und spanischen Herren die Republik Haiti. Zum ersten
Mal führte der Kampf von Sklaven zur Abschaffung der Sklaverei und zur
Anerkennung ihrer Menschenrechte und zur tatsächlichen Gründung einer
„Negerrepublik“. Alexander von Humboldt, Aufklärer, Sympathisant der
Französischen Revolution, Feind des Sklavenhandels hat dieses historische
Ereignis, das er aus nächster Nähe miterlebte, in seinen Schriften niemals
erwähnt. Warum? Rassistische Vorurteile? Selbstzensur? Zensur? Abscheu vor der
mit dem Freiheitskampf einhergehenden Gewalt? Eine Erkundung
KORRESPONDENZENkommen von Michail Ryklin zu den
Antischwulen-Kampagnen um Sotschi und der Schwulen-Lobby innerhalb der russisch-orthodoxen
Kirche: Nur wer sich
outet, ist schwul!; von Urvashi Butalia über die Beziehung zwischen dem
Identitätsempfinden religiöser Minderheiten und einer um sich greifenden
Zensur in Indien; und von Pier Aldo Rovatti aus Triest zum Verhältnis von Wohnen und Leben und der Entropie der
Stadt.
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