Sonntag, 31. Juli 2011

Freiheit ohne Verantwortung

Nach der Präsentation von Driesch #6 kam ich mit einem Leser ins Gespräch. Er fragte, wer die Besprechung "Ciorans Hitlerei" geschrieben habe. Dann bemerkte er, dass er ganz anderer Meinung sei. Ich hätte übertrieben und ihn falsch beschuldigt bzw. verurteilt. Man müsse das anders lesen und sich vor Augen halten, dass es um Literatur, Dichtung gehe. Die ideologische Beurteilung meinerseits sei irrig. Es liege am Rezipienten, mit dem Material umzugehen. Der Künstler, Dichter, habe jede Freiheit.
Kolumne "Wort zum Sonntag" von Haimo L. Handl, 31. 7. 2011
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Mittwoch, 20. Juli 2011

Framing Innocence

A mother's photographs, a prosecutor's zeal, and a small town's response
The New Press, New York London, 2010
Book Review by Hans Durrer

Driesch #6 / 2011

In 1999, amateur photographer and school bus driver Cynthia Stewart dropped off eleven rolls of film at the local drugstore near her home in Oberlin, Ohio. The rolls contained photographs of her eight-year-old daughter Nora, including two that showed the girl in the shower. Some time later, two policemen came to see Cynthia at the farmhouse where she lived with her partner David and Nora. Cynthia was informed that "they had some of her photographs down at the station" and that "there are serious questions about those pictures, ma'am."

Cynthia was flabbergasted, she hadn't the foggiest idea what was going on. She later learned that the  police and the county prosecutor judged the shower-photos pornographic. Cynthia was arrested, taken away in handcuffs, threatened to have her daughter removed from her home, and charged with crimes that carried the possibility of sixteen years in prison. Only in America, the land of hypocrites, I briefly thought (in any case, hypocrites can be found everywhere) but this misses the point completely because not only her friends but most of the community defended Cynthia and fought for her.
Lynn Powell, a poet and neighbour of Cynthia Stewart, put on paper „this riveting and beautifully told story“, as the publisher appropriatly informs us, and „brilliantly probes the many questions raised“, prominently among them: „When does a photograph of a naked child 'cross the line' from innocent snapshot to child porn?“

This is of course largely a question of context for as we all know: „... a snapshot stripped of its context can be made to lie“, as photographer Sally Mann says. But there is also the law and with it the difficutly of defining what exactly constitutes pornography. Since to turn to the legal profession ("I know it when I see it", "the average person with average sex instincts") is not much of help, we need to look for other avenues and one of the most sensible is provided by The Talmud: „We do not see things as they are. We see things as we are.“ 

Framing Innocence is a fascinating read, not least because it, in part, challenged, and altered, my preconceived notions, namely this one: Children Services had appointed a guardian ad litem (for the lawsuit), a Christian fundamentalist whose ideology and lifestyle was fundamentally different from Cynthia's and who had dedicated herself to combating child pornography. Of course, I thought to myself, she will see pornography where others will see only harmless nudity. This is after all typical of fundamentalists.Well, I was wrong, for „she looked at those photographs and she said, 'Wait a minute. That's not child pornography, that's a little girl taking a bath.' She did a 180-degree turnaround and became that family's strongest advocate."

I read books because because I need to be taught. Framing Innocence did an excellent job in this regard.

Dienstag, 19. Juli 2011

Neue Rezensionen in DRIESCH # 6

In DRIESCH # 6 als auch im Portal www.kultur-online.net sind zwei Besprechungen zu lesen:

Weinviertel Kochbuch
Eine interessante Kulturgeschichte und nicht nur eine kuriose Rezeptesammlung!

E. M. Cioran: Über Deutschland
Die berüchtigten Schriften aus den Dreißigerjahren, endlich aus dem Rumänischen übersetzt.
In der sehr langen Rezension geht H. L. Handl enragiert darauf ein.


Samstag, 9. Juli 2011

Musiktheater Interpretationen

In der NZZ ist eine Kritik zweier Musiktheateraufführungen in Madrid und  München zu lesen. Es heißt:

Häufig wird «Saint François d'Assise» von Olivier Messiaen nicht aufgeführt, das verhindern die Anforderungen des Werks. Umso bemerkenswerter, dass jetzt gerade zwei Produktionen herausgekommen sind. Sie zeigen, dass auch neue Musik interpretiert wird und darum in unterschiedlichen Gewändern erscheinen kann.


Erstaunlich, "dass auch neue Musik interpretiert wird". Wer hätte das gedacht? Heutzutage wird ja nicht mehr interpretiert, - und das Regietheater ist offensichtlich keine Interpretation...
Die Besprechung oder Kritik ist ganz interessant, vor allem im Vergleich der Aufführungensarten. Die Geschichte vom heiligen Franz als pompöse Inszenierung? Schon die Monsterkomposition stellt ein Missverstehen dar. Größensucht hat immer schon was Peinliches. Dafür kommt die Imitatio, die Wiederholung und Angleichung an die Natur vor, wie man es sonst nur von den Alten kennt, als man Kunst noch anders verstand.
Aber das hier wird als Musik des 20. Jh. gefeiert. Hm. Und zudem noch interpretiert...


Wir lesen:

Alles, was die Handschrift des 1992 verstorbenen Franzosen ausmacht, kommt hier in einzigartiger Weise zusammen: das Denken in Leitmotiven und damit die Sprachähnlichkeit von Musik, die Arbeit mit Tonarten, die Messiaen für sich synästhetisch mit Farben verbunden hat, die rhythmische Komplexität, wie er sie den Vögeln und ihren Gesängen abgelauscht hat, die Klangwirkungen fernöstlicher Orchester und die Gesten der französischen Spätromantik. 

Leitmotivik schafft Sprachähnlichkeit! Wie? Wagner der Sprachmeister. Und von der Romantik nur die Gesten. Das ist wirklich hochmodern.

In München werde zu viel des Guten geliefert. (Wenn zuviel, wie ist es dann noch gut?):

Auch wenn sie in die Jahre gekommen sein mag, dominiert die Handschrift des 72-jährigen Wiener Künstlers das Geschehen von A bis Z, absorbiert sie die Aufmerksamkeit und stört sie die Kontemplation, welche die Musik verlangt. Einmal mehr plustert sich in einer Produktion der Münchner Staatsoper das Szenische auf und sucht sich das Theater gegenüber der Musik in den Vordergrund zu rücken; es prallt hier allerdings ab an einem musikalischen Entwurf, dessen Grösse unverrückbar in sich zu ruhen scheint.

Nitsch, der Möchtegernopernregisseur ist ein Spektakulateur. Vielleicht auch ein Spekulant. Jedenfalls einer, der im Großen schwelgt. Der, wie es in der Kritik heißt, sich aufplustert. Aber das passt zur Eventkultur, nicht? Nitsch auch als Illustrator:

Zum Vogelkonzert lässt Hermann Nitsch ein Ballett gezeichneter Vögel auf die Bühnenrückwand projizieren, was nicht nur die hier rein instrumentale Musik zur Seite schiebt, sondern auch ein Moment der kitschigen Verniedlichung einbringt, das die Absicht der Stelle verfehlt.

Das lenkt ab von der Frage, warum der Meister Olivier Messiaen überhaupt so stark "abbildet", nachmacht, vielleicht nachäfft, der Natur nachrennt. Wäre es da nicht treffender, gleich über Funk von einem Wald von Mikrofonen die originalen Vogelstimmen in das Spektakelhaus zu bringen? 

Und wieder zeigt der Rezensent seine hohe Bildung, und die Notwendigkeit feststellen zu müssen (anscheinend doch nicht selbstverständlich):

Auch bei Musik des 20. Jahrhunderts ist es so, dass die Interpretation das Gesicht des Kunstwerks mitgestaltet.