Hier die Links und nachfolgend mein Text.
Facebook weicht weiterhin aus
Der Politik-Verantwortliche bleibt im Bundestag vage - die
Gesichtserkennung jedoch kommt.
Frankfurter Rundschau 20.4.2018
Facebook’s
Fake News Fix
Sue
Halpern
NYRDaily
23.1.2018
January 12,
2018
Starting
Them Young: Is Facebook Hooking Children on Social Media?
by Roberto
J. González, Counterpunch Jan 12, 2018
March 30,
2018
Goodbye
Facebook, and Screw You Too
by
Christopher Ketcham, Counterpunch March 30. 2018
rodrigo
ochigame & james holston
FILTERING
DISSENT
The New
Left Review 99
Cyber
criminals earn $1.5 Trillion through Amazon, Facebook and Instagram
exploitation
Independent,
20.4.2018
Facebook
must face lawsuit ovber facial recognition technology, judge rules
Independent,
17.4.2018
Der Spion im Klassenzimmer
In Frankreich werden Handys auf Anordnung von Präsident
Macron aus den Schulen verbannt. Deutsche Schüler sollen dagegen in einer
Lern-Cloud ausspioniert werden.
Ein Beitrag von Ralf Lankau aus der Frankfurter Allgemeine
Zeitung, 17.01.2018, Nr. 14, S. N4
Datenschutz? Gibt’s doch gar nicht
Ein paar grundsätzliche Überlegungen für Nichtinformatiker
und Lehrende zum Umgang mit Rechnern und Internet
in: Paul Tarmann (Hrsg.) Datenschutz – „Big Data“ als
gesellschaftliche und politische Herausforderung. Gesellschaft & Politik. Zeitchrift
für soziales und wirtschaftliches Engagement, Heft 2/17, S. 17-24
Kompetenzorientierung als Sündenfall in der Pädagogik?
Tagungsbericht von der 1. Frankfurter
(In-)Kompetenzkonferenz vom 7./8. Juli 2017, Gabriela Trutmann und Yasemin
Kanele in Gymnasium Helveticum 5/2017, S. 29-31
Unberechenbare Bildung
Gastbeitrag von Pierangelo Maset
Erschienen in: DAS PLATEAU. Die Zeitschrift im
Radius-Verlag, Ausgabe 149, Juni 2015.
GBW Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V.
Forum für Schule, Ausbildung und Studium
Facebook & Unbildung
Haimo L. Handl
Facebook ist nicht nur die größte und effektivste
Datenmissbrauchsmaschine, ein gigantisches Geschäft, sondern auch eine
politische Waffe im gezielten Missbrauch von Milliarden von User Data. Der
weitaus wichtigste Aspekt liegt aber in der Verdinglichung, der Verstärkung des
Verblendungszusammenhangs, des sozialen Betrugs in der extremen Ausrichtung auf
Quantität(en). Quantität hat jedwede Qualität ersetzt. Insbesondere
Unterschichtler finden in der Belohnungsmaschinerie durch Massenbestätigung
bzw. Anhäufen von „Freunden“ ihre stündliche Bestätigung, was sie noch mehr
dazu verführt, ihre Isolation, ihre Abhängigkeit bzw. Süchtigkeit zu übersehen
und sich anerkannt, „geliked“ (schon das Unwort desavouiert) zu fühlen,
eingepasst in die sich dauernd beschleunigende Tretmühle, den ewigen Wettkampf,
den Kampf um den Platz an der Sonne, der durchdringenden Konkurrenz, die jeden,
der nicht Erster, vielleicht noch Zweiter oder Dritter ist, als Versager, als
Verlierer ausmustert.
Was hat das mit Bildung bzw. Unbildung zu tun? Sehr viel und
wesentlich. Die leichte Lenkbarkeit von Verhalten, die permanente
Konditionierung, die kürzlich zu Untersuchungen in den USA geführt haben, ob
das Wahlverhalten unlauter beeinflusst worden sei, ist nur deshalb überhaupt
ein Problem, weil außerhalb des Konsumverhaltens, wo die fast Pawlowsche
Konditionierung gefördert und unterstützt wird, im Bereich des Politischen
manchmal, je nach Kräfteverhältnissen und Machtverteilungen, zu Abwehren führt,
weil die Lenkung außerhalb der staatlichen oder korporativen Kontrolle erfolgt.
Der Datenmissbrauch durch Facebook ist eigentlich kein
Problem, außer er führt eben zu unkontrolliertem, ungeplantem Verhalten.
Immerhin sind die NSA bzw. in Großbritannien der MI5 und MI6 (Inland- und
Auslandsgeheimdienst) die erfolgreichsten Datenräuber und –missbraucher
weltweit. (Die Russen, die in den westlichen Medien als Teufel und Verbrecher
dargestellt werden, kommen da lange nicht ran.) Der Skandal um Facebook lenkt
vom eigentlichen Verbrechen ab. Der gesellschaftliche, soziale und humane
Hintergrund zeigt jedoch die tieferliegende Problematik.
Wären die Massen gebildet im älteren Bedeutungssinn von
Bildung, gäbe es kein so riesiges Facebook bzw. keine so trottelhafte,
gleichgeschaltete Ausrichtung auf Quantitäten. Die Quantitätsorientierung ist
nur durch Persönlichkeitsmangel, geringe Ichstärke bzw. Unbildung möglich.
Gebildete würden in geringerer Zahl mitmachen. Gebildete würden sich kritisch
äußern. Facebook aber unterminiert Kritik und eigenes Denken, es verstärkt den
Herdentypus, es stärkt den Mob. Es arbeitet wie die Faschisten rechter wie
linker Art (die Nazis und die Bolschewiki mussten noch krude, grobe Mittel der
Beeinflussung einsetzen). Die Datenmissbraucher haben ein mediales Umfeld
geschaffen, das mit geringerem Aufwand früher ungeahnt höhere Effekte erzielt.
Sie haben es sogar geschafft, was ehedem als Traum der Tyrannen unerfüllt
blieb, die Opfer dazu zu bringen, freiwillig mitzumachen, sich auszuliefern,
die Daten zur Verfügung zu stellen.
Das ökonomische Diktat, die kurzsichtige Erfolgsorientierung
der geschäftigen Politik unterstützt das alles durch ihre organisierte
Unbildung. Dazu muss man den Bildungsbegriff hinterfragen und reflektieren. Was
ist Bildung? Was soll Bildung sein? Ist Ausbildung gleich Bildung? Ersetzen
Kompetenzen Wissen? Welche Art von Wissen wird präferiert, weshalb?
Um hier eine fundierte Position einnehmen zu können, muss
man nicht die alten Schriften gelesen haben, von Wilhelm von Humboldt und
andere Autoren des Neuhumanismus. Man muss auch nicht die zahlreichen Werke des
19. Jahrhunderts kennen zu Fragen der (klassischen) Bildung, wiewohl ihre
Kenntnis, die vereinzelt auch heute noch anzutreffen sein mag, sicher von
Vorteil ist hinsichtlich der Historie bzw. des komplexen
Verstehenszusammenhangs. Oft sind es auch nicht ausgewiesene Pädagogen,
Erziehungswissenschaftler oder Lehrer, sondern Philosophen oder Soziologen, die
mit ihren Gedanken, Kritiken, Appellen oder Modellen Entwürfe lieferten, die
„zu denken“ gaben.
Eine kleine, eklektische Auswahl
von Persönlichkeiten:
Bis 19. Jh.:
Platon (428/427 v.Chr.-348/347
v.Chr.)
Baruch de Spinoza (1632-1677)
Jean-Jacques Rousseau (1712-1778)
Johann Bernhard Basedow (1724-1790)
Immanuel Kant (1724-1804)
Johann Gottfried Herder (1744-1803)
Joachim Heinrich Campe (1746-1818)
Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827)
Wilhelm von Humboldt (1767-1835)
Georg Wilhelm Friedrich Hegel
(1770-1831)
Jacob Grimm (1785–1863)
Wilhelm Grimm (1786–1859)
Arthur Schopenhauer (1788-1860)
Søren Aabye Kierkegaard
(1813-1855)
Friedrich Nietzsche (1844-1900)
20. Jh.:
Sigmund Freud (1856-1939)
John Dewey (1859–1952)
Siegfried Bernfeld (1892-1953)
Max Horkheimer (1895-1973)
Theodor W. Adorno (1903-1969)
Otto Friedrich Bollnow
(1903-1991)
Georg Picht (1913-1982)
Hellmut Becker (1913-1993)
Heinz-Joachim Heydorn (1916-1974)
Hartmut von Hentig *1925)
Wolfgang Brezinka (* 1928)
Peter Bieri (* 1944)
Die Frage „Was ist Bildung?“ beantwortet kurz und bündig
Manfred Fuhrmann (1925-2005) in seiner Schrift „Bildung. Europas kulturelle
Identität“, einer Zusammenfassung von Vorträgen, worin er die historischen
Grundlagen hinterfragt, um sich dann der gegenwärtigen Situation zu widmen (Der
Bildungskanon und die Erlebnisgesellschaft) bzw. auch auf „Die Krise der
Geisteswissenschaften“ eingeht.
Folgt man seinen Ausführungen mit wachem Denken, wird klar,
wie bedeutsam die Kenntnis gewisser Schlüsselbegriffe bzw. der Konzepte und
philosophischen Ansichten, der Wertestruktur, ist, um zu begreifen oder annähernd
sich vergegenwärtigen zu können, was war und was ist bzw. wohin die Entwicklung
weist.
Welchen Begriff teile ich bezüglich Person und
Persönlichkeit, Charakter und Veränderbarkeit? Bildung ist ja ein
Veränderungsvorgang. Bliebe jemand, wie er ist, käme es zu keiner Innovation,
keinem Lernprozess, keiner Anpassung oder keinem Widerstand. Die Frage ist, WAS
sich ändert. Heute gilt jedoch das WIE unter Ausblendung des WAS. Bildung ist
kein Garant für Wohlleben. Immerhin haben die Gebildeten der Vergangenheit es
nicht vermocht, die grauenhaften Kriege zu verhindern. Ja, viele haben sich
pervertiert zu kriegsbegeisterten Unterstützern der Kulturvernichtung. Wie war
das mit ihrer vorgeblichen Wertestruktur, dem damals geltenden Bildungskanon,
möglich? Da hilft ein Blick in die Kulturtheorie von Sigmund Freud
(Massenpsychologie und Ich-Analyse – 1921 – , Die Zukunft einer Illusion – 1927
– und Das Unbehagen in der Kultur – 1929-1930). Was ist Freiheit, was
Gemeinschaft, Kollektiv, Gesellschaft? Wie ist letztere möglich? Wie bedingt
ist der Triebverzicht für Kultur? Wie steht es um Lust und Glück? Auf welche
Weise verschaffen wir uns Befriedigung (Glückserfahrung)? Was ist der Kern der
Kulturfeindlichkeit?
Ein paar Zitate aus Freuds Aufsatz „Das Unbehagen in der
Kultur“:
Aus dem Abschnitt III:
Als letzten, gewiß nicht
unwichtigsten Charakterzug einer Kultur haben wir zu würdigen, in welcher Weise
die Beziehungen der Menschen zueinander, die sozialen Beziehungen, geregelt
sind, die den Menschen als Nachbarn, als Hilfskraft, als Sexualobjekt eines
anderen, als Mitglied einer Familie, eines Staates betreffen. Es wird hier
besonders schwer, sich von bestimmten Idealforderungen frei zu halten und das,
was überhaupt kulturell ist, zu erfassen. Vielleicht beginnt man mit der
Erklärung, das kulturelle Element sei mit dem ersten Versuch, diese sozialen
Beziehungen zu regeln, gegeben. Unterbliebe ein solcher Versuch, so wären diese
Beziehungen der Willkür des Einzelnen unterworfen, d. h. der physisch Stärkere
würde sie im Sinne seiner Interessen und Triebregungen entscheiden. Daran
änderte sich nichts, wenn dieser Stärkere seinerseits einen einzelnen noch
Stärkeren fände. Das menschliche Zusammenleben wird erst ermöglicht, wenn sich
eine Mehrheit zusammenfindet, die stärker ist als jeder Einzelne und gegen
jeden Einzelnen zusammenhält. Die Macht dieser Gemeinschaft stellt sich nun als
»Recht« der Macht des Einzelnen, die als »rohe Gewalt« verurteilt wird,
entgegen. Diese Ersetzung der Macht des Einzelnen durch die der Gemeinschaft
ist der entscheidende kulturelle Schritt. Ihr Wesen besteht darin, daß sich die
Mitglieder der Gemeinschaft in ihren Befriedigungsmöglichkeiten beschränken,
während der Einzelne keine solche Schranke kannte. Die nächste kulturelle
Anforderung ist also die der Gerechtigkeit, d. h. die Versicherung, daß die
einmal gegebene Rechtsordnung nicht wieder zu Gunsten eines Einzelnen
durchbrochen werde. Über den ethischen Wert eines solchen Rechts wird hiermit
nicht entschieden. Der weitere Weg der kulturellen Entwicklung scheint dahin zu
streben, daß dieses Recht nicht mehr der Willensausdruck einer kleinen Gemeinschaft
— Kaste, Bevölkerungsschichte, Volksstammes — sei, welche sich zu anderen und
vielleicht umfassenderen solchen Massen wieder wie ein gewalttätiges
Individuum verhält. Das Endergebnis soll ein Recht sein, zu dem alle —
wenigstens alle Gemeinschaftsfähigen — durch ihre Triebopfer beigetragen haben
und das keinen — wiederum mit der gleichen Ausnahme — zum Opfer der rohen
Gewalt werden läßt.
Die individuelle Freiheit ist
kein Kulturgut. Sie war am größten vor jeder Kultur, allerdings damals meist
ohne Wert, weil das Individuum kaum imstande war, sie zu verteidigen. Durch die
Kulturentwicklung erfährt sie Einschränkungen, und die Gerechtigkeit fordert,
daß keinem diese Einschränkungen erspart werden. Was sich in einer
menschlichen Gemeinschaft als Freiheitsdrang rührt, kann Auflehnung gegen eine
bestehende Ungerechtigkeit sein und so einer weiteren Entwicklung der Kultur
günstig werden, mit der Kultur verträglich bleiben. Es kann aber auch dem Rest
der ursprünglichen, von der Kultur ungebändigten Persönlichkeit entstammen und
so Grundlage der Kulturfeindseligkeit werden. Der Freiheitsdrang richtet
sich also gegen bestimmte Formen und Ansprüche der Kultur oder gegen Kultur
überhaupt. Es scheint nicht, daß man den Menschen durch irgendwelche
Beeinflussung dazu bringen kann, seine Natur in die eines Termiten umzuwandeln,
er wird wohl immer seinen Anspruch auf individuelle Freiheit gegen den Willen
der Masse verteidigen. Ein gut Teil des Ringens der Menschheit staut sich um
die eine Aufgabe, einen zweckmäßigen, d. h. beglückenden Ausgleich zwischen
diesen individuellen und den kulturellen Massenansprüchen zu finden, es ist
eines ihrer Schicksalsprobleme, ob dieser Ausgleich durch eine bestimmte
Gestaltung der Kultur erreichbar oder ob der Konflikt unversöhnlich ist.
Die Triebsublimierung ist ein
besonders hervorstechender Zug der Kulturentwicklung, sie macht es möglich, daß
höhere psychische Tätigkeiten, wissenschaftliche, künstlerische, ideologische,
eine so bedeutsame Rolle im Kulturleben spielen. Wenn man dem ersten Eindruck
nachgibt, ist man versucht zu sagen, die Sublimierung sei überhaupt ein von der
Kultur erzwungenes Triebschicksal. Aber man tut besser, sich das noch länger zu
überlegen. Drittens endlich, und das scheint das Wichtigste, ist es unmöglich
zu übersehen, in welchem Ausmaß die Kultur auf Triebverzicht aufgebaut ist, wie
sehr sie gerade die Nichtbefriedigung (Unterdrückung, Verdrängung oder sonst
etwas?) von mächtigen Trieben zur Voraussetzung hat. Diese »Kulturversagung«
beherrscht das große Gebiet der sozialen Beziehungen der Menschen; wir wissen
bereits, sie ist die Ursache der Feindseligkeit, gegen die alle Kulturen zu
kämpfen haben.
Man vergleiche vielleicht mit einer Überlegung von Friedrich
Nietzsche (Zitat aus „Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten“, 5. Rede;
1872):
Es hat etwas Unheimliches, den Wirkungen
nachzudenken, zu denen die gewaltsame Unterdrückung so edler Bedürfnisse führen
muß. Wer die gefährlichsten Förderer und Freunde jener von mir so gehaßten
Pseudokultur der Gegenwart in der Nähe und mit durchdringendem Auge mustert,
findet nur zu häufig gerade unter ihnen solche entartete und entgleiste
Bildungsmenschen, durch eine innere Desperation in ein feindseliges Wüthen
gegen die Kultur getrieben, zu der ihnen Niemand den Zugang zeigen wollte. Es
sind nicht die schlechtesten und die geringsten, die wir dann als Journalisten
und Zeitungsschreiber, in der Metamorphose der Verzweiflung, wiederfinden; ja,
der Geist gewisser jetzt sehr gepflegter Litteraturgattungen wäre geradezu zu
charakterisiren als desperates Studententhum. Wie anders wäre z.B. jenes
ehemals wohlbekannte „junge Deutschland“ mit seinem bis zum Augenblick
fortwuchernden Epigonenthum zu verstehen! Hier entdecken wir ein gleichsam
wildgewordenes Bildungsbedürfniß, welches sich endlich selbst bis zu dem Schrei
erhitzt: ich bin die Bildung. Dort, vor den Thoren der Gymnasien und der
Universitäten, treibt sich die aus ihm entlaufene und sich nun souverän
gebärdende Kultur dieser Anstalten herum, freilich ohne ihre Gelehrsamkeit: so
daß z.B. der Romanschreiber Gutzkow am besten als Ebenbild des modernen, bereits
litterarischen Gymnasiasten zu fassen wäre.
Es ist eine ernste Sache um einen
entarteten Bildungsmenschen: und furchtbar berührt es uns, zu beobachten, daß
unsre gesammte gelehrte und journalistische Öffentlichkeit das Zeichen dieser
Entartung an sich trägt. Wie will man sonst unseren Gelehrten gerecht werden,
wenn sie unverdrossen bei dem Werke der journalistischen Volksverführung
zuschauen oder gar mithelfen, wie anders, wenn nicht durch die Annahme, daß
ihre Gelehrsamkeit etwas Ähnliches für sie sein möge, was für jene die
Romanschreiberei, nämlich eine Flucht vor sich selbst, eine asketische
Ertödtung ihres Bildungstriebs, eine desperate Vernichtung des Individuums. Aus
unserer entarteten litterarischen Kunst ebensowohl als aus der in’s Unsinnige
anschwellenden Buchmacherei unserer Gelehrten quillt der gleiche Seufzer
hervor: ach, daß wir uns selbst vergessen könnten! Es gelingt nicht: die Erinnerung,
durch ganze Berge darübergeschütteten gedruckten Papiers nicht erstickt, sagt
doch von Zeit zu Zeit wieder: „ein entarteter Bildungsmensch! Zur Bildung
geboren und zur Unbildung erzogen! Hülfloser Barbar, Sklave des Tages, an die
Kette des Augenblicks gelegt und hungernd — ewig hungernd!“
Falls jemand eine mittlere oder höhere Schule absolviert hat, wurde ihm nichts vermittelt, was dem früheren Bildungskanon entspricht (Fuhrmann hat das übersichtlich dargelegt). Heute begehren Eltern wie Schüler auf, wenn Forderungen an die Schüler gestellt werden, die über den Spaßmoment hinaus Arbeit bedingen und verlangen. Kürzlich, noch im April 2018, startete ein so gefördertes Wohlstandskind eine Petition, die innert kürzester Zeit die Unterstützung von 30.000 Leidensgenossen fand gegen eine, wie er und die Masse der Überforderten meinten, zu schwierige Abiturprüfung in Englisch.
Abiturprüfung zu schwierig: Rund 30.000 unterschreiben Petition gegen Englisch-Prüfung,
ScienceFiles, 23.4.2018
Baden-Württemberg Schüler starten Petition gegen Englisch-Abi - und sammeln 28.000 Unterschriften.
War das Englisch-Abitur in Baden-Württemberg zu schwer? Mit einer Petition wehren sich Schüler gegen die "unfaire Prüfung" - und finden Tausende Unterstützer.
DER SPIEGEL online, 23.4.2018
Die vermeintliche Überforderung verdeckt eine tieferliegende Intellektuellenfeindlichkeit, eine Abscheu vor dem Denken. Sie korrespondiert auch zum Vereinzelungsgrad einer entfremdeten Gesellschaft, wo Leistung sofort zum Gewinn führen muss, wo man mit geringstem Aufwand höchsten Ertrag (Anerkennung, Preis) zu erzielen vermag. Die Masse, Meute, Plebs der Neuzeit formiert sich in den social media, wo sie in ihren dichten Echokammern sich abschirmen gegen Außen, soweit dieses Außen nicht liefert, was ihren Lustgewinn möglichst direkt erfüllt.
In einem Aufsatz aus dem Jahr 1960, „Der Mensch in der Wandlung seit der Jahrhundertwende“ von Max Horkheimer heißt es:
Mit dem Schrumpfen der
Innerlichkeit entschwindet auch die Freude an der eigenen Entscheidung, an
Bildung und Phantasie. Andere Neigungen und Ziele kennzeichnen die Menschen
dieser Zeit: technische Geschicklichkeit, Geistesgegenwart, Lust an der Herrschaft
über Apparaturen, das Bedürfnis nach Eingliederung, nach Übereinstimmung mit
der großen Mehrheit oder einer als Modell gewählten Gruppe, deren Regel an die
Stelle eigenen Urteils tritt. Anweisungen, Rezepte, Leitbilder treten anstelle
der moralischen Substanz.
Proteste von sich überfordert fühlenden Studenten, die heute gendergerecht „Studierende“ genannt werden sollen, auch wenn sie nicht studieren, gab es immer wieder. Die zuständigen Behörden nivellieren zwar dauernd, aber offensichtlich zu gering. Welche Ironie, dass zur gleichen Zeit die weltgrößte Industriemesse in Hannover stattfindet, welche die Kanzlerin stolz eröffnete und von Expertise und Wissen schwätzte, während die Studenten wehleidig jammern und mehr Zeit für ihre Anliegen des „wirklichen Lebens“ wollen. Da liest sich ein Aphorismus von Nietzsche zur „Vernunft in der Schule“ (Menschliches, Allzumenschliches, I/265) ganz anders:
Die Vernunft in der Schule. - Die
Schule hat keine wichtigere Aufgabe, als strenges Denken, vorsichtiges
Urtheilen, consequentes Schliessen zu lehren: desshalb hat sie von allen Dingen
abzusehen, die nicht für diese Operationen tauglich sind, zum Beispiel von der
Religion. Sie kann ja darauf rechnen, dass menschliche Unklarheit, Gewöhnung
und Bedürfniss später doch wieder den Bogen des allzustraffen Denkens
abspannen. Aber so lange ihr Einfluss reicht, soll sie Das erzwingen, was das
Wesentliche und Auszeichnende am Menschen ist- "Vernunft und Wissenschaft
des Menschen allerhöchste Kraft" - wie wenigstens Goethe urtheilt. - Der
grosse Naturforscher von Baer findet die Ueberlegenheit aller Europäer im
Vergleich zu Asiaten in der eingeschulten Fähigkeit, dass sie Gründe für Das,
was sie glauben, angeben können, wozu Diese aber völlig unfähig sind. Europa
ist in die Schule des consequenten und kritischen Denkens gegangen, Asien weiss
immer noch nicht zwischen Wahrheit und Dichtung zu unterscheiden und ist sich
nicht bewusst, ob seine Ueberzeugungen aus eigener Beobachtung und regelrechtem
Denken oder aus Phantasien stammen. – Die Vernunft in der Schule hat Europa zu
Europa gemacht: im Mittelalter war es auf dem Wege, wieder zu einem Stück und
Anhängsel Asiens zu werden, - also den wissenschaftlichen Sinn, welchen es den
Griechen verdankte, einzubüssen.
Die Zerstörung des Bildungskanons, die Abkoppelung von der Kulturtradition, die extreme Partikularisierung und Fragmentierung macht nicht nur den Einsatz von immer mehr Schriftgelehrten als Experten nötig als „Erklärer“, sondern lässt auch den Zitatenapparat anschwellen, weil auf fast nichts mehr gebaut werden kann. Manfred Fuhrmann hat dies in seiner erwähnten Schrift so kommentiert:
Die allgemeine Tendenz der Einebnung, von
der Mehrheit der Bevölkerung bereitwillig hingenommen, hat nicht nur die
Konsumgewohnheiten des Alltags, die der Nahrung oder der Kleidung usw., sondern
auch das Freizeitgebaren ergriffen, in dem Sinne, dass selbst die Option für
dieses oder jenes „Schema“, für die Hochkultur- oder die Trivialsphäre, weithin
auf individueller Wahl beruht.
Die nivellierte Massengesellschaft der
Gegenwart unterscheidet sich im Bereich der Bildung hauptsächlich dadurch von
der bürgerlichen, der kompetitiven Gesellschaftsform, dass sie sich des
humanistischen Gymnasiums und damit der wichtigsten Voraussetzung des Zugangs
zum einstigen Kanon entäußert hat.
Die Verdrängung der reinen Bildungsfächer
zog bald auch die Beschäftigung mit der muttersprachlichen Literatur in
Mitleidenschaft.
Die bürgerliche Bildung hat hauptsächlich
auf dem Studium von Sprachen und der Beschäftigung mit Literatur beruht(…) Der
Wegfall der alten Sprachen und Literaturen sowie der festen Lektürelisten im
Deutschunterricht hat daher dem bürgerlichen Kanon den Kern genommen(.)
Der bürgerliche Kanon war keine Ansammlung
beliebiger, je für sich stehender Bereiche. Er war ein Ganzes, eine Struktur,
ein Kosmos; seine Teile hingen miteinander zusammen und waren miteinander
verbunden.
Die pädagogische Komponente des Kanons ist
großenteils verschwunden, und geblieben ist in der Hauptsache ein
Vergnügungspark [= Spaßkultur] von allerlei Kunstgenüssen. (…) Im Übrigen ist
man bestrebt, an Ort und Stelle auszugleichen, was das lesende, Theater
besuchende oder historische Stätten bereisende Publikum nicht mehr von der
Schulbank mitbringt: Die modernen Ausgaben selbst deutscher Klassiker enthalten
oft Wort- und Sacherklärungen; die Programmhefte für Schauspiele und Opern
bemühen sich, den Besuchern die Sujets und deren künstlerische Formung nahe zu
bringen; in den Museen, Schlössern und Kirchen stehen kundige, keineswegs nur
auswewndig Gelerntes aufsagende Führer bereit usw.
Einst waren es wenige, die sich den ganzen
Kanon gründlich zu eigen gemacht hatten; jetzt sind es viele, die sich mehr
oder weniger oberflächlich auf einen Teil davon einlassen. Dieser Teil aber ist
dem heutigen Publikum nicht mehr vollauf aus sich heraus selbst verständlich –
daher hat auch bei ihm, wie bei dem anderen Teil, dem Gymnasium, das Prinzip
der Allgemeinheit Einbußen erlitten(.)
George Steiner (* 1929, amerikanischer Literaturwissenschaftler, Philosoph, Kulturkritiker mit langer Lehrtätigkeit in europäischen Ländern), der sich intensiv mit Kultur, Literatur und Bildung auseinandergesetzt hat, schrieb in einem frühen Aufsatz „To civilize our gentlemen“(1965) am Beispiel des Studiums englischer Literatur von denselben Problemen, wie sie Fuhrmann anschnitt. Er führt zu Beginn drei Aspekte an, drei Ausgangsbasen, Annahmen, die er hinterfragt: „We must look there for the assumptions on which faculties of English Litertur were founded.“
The
critical, textual, historical study of Greek and Latin literature not only gave
precedent and justification for a similar study of the European vulgate; they
were foundations on which that study was built.
The second major assumption was nationalism. It is no accident that German philology and Germanic textual criticism coincided with the dynamic rise of the German national consciousness (and let us not forget that it was on the genius of the German scholars that the rest of Europe, England, and America drew so heavily). As Herder, the Grimm brothers, and the whole lineage of German literary teachers and critics were frank to proclaim, the study of one’s own literary past played a vital part in affirming national identity.
The third major body of assumption is even more vital, but I find it difficult to analyze briefly. Perhaps I could put it this way: behind the formation of modern literary analysis, editorial scholarship, and literary history, lies a kind of rational and moral optimism. In its philological and historical methods the field of literary study reflects a large hope, a great positivism, an ideal of being something like a science, and we find this all the way from Auguste Comte to I. A. Richards.
The second major assumption was nationalism. It is no accident that German philology and Germanic textual criticism coincided with the dynamic rise of the German national consciousness (and let us not forget that it was on the genius of the German scholars that the rest of Europe, England, and America drew so heavily). As Herder, the Grimm brothers, and the whole lineage of German literary teachers and critics were frank to proclaim, the study of one’s own literary past played a vital part in affirming national identity.
The third major body of assumption is even more vital, but I find it difficult to analyze briefly. Perhaps I could put it this way: behind the formation of modern literary analysis, editorial scholarship, and literary history, lies a kind of rational and moral optimism. In its philological and historical methods the field of literary study reflects a large hope, a great positivism, an ideal of being something like a science, and we find this all the way from Auguste Comte to I. A. Richards.
As
footnotes lengthen, as glossaries become more elementary (right now it might still be ‘Troilus: Trojan
hero in love with Cressida, daughter of Calchas, and betrayed by her,’ but in a
few years the Iliad itself may require identification), the poetry loses
immediate impact. It moves out of any direct line of vision into a place of
special learning. This fact marks a very large change in the consensus assumed
between poet and public. The world of classical mythology, of historical
reference, of scriptural allusion, on which a preponderant part of English and
European literature is built from Chaucer to Milton and Dryden, from Tennyson
to Eliot’s Sweeney Agonistes, is receding from our natural reach.
M u s s e u n d
M ü s s i g g a n g. ‑- Es ist eine indianerhafte, dem Indianer-Blute
eigentümliche Wildheit in der Art, wie die Amerikaner nach Gold trachten: und
ihre atemlose Hast der Arbeit ‑ das eigentliche Laster der neuen Welt - beginnt
bereits durch Ansteckung das alte Europa wild zu machen und eine ganz
wunderliche Geistlosigkeit darüber zu breiten. Man schämt sich jetzt schon der
Ruhe; das lange Nachsinnen macht beinahe Gewissensbisse. Man denkt mit der Uhr
in der Hand, wie man zu Mittag isst, das Auge auf das Börsenblatt gerichtet, ‑
man lebt wie einer, der fortwährend etwas »versäumen könnte«. »Lieber irgend
etwas tun als nichts« ‑ auch dieser Grundsatz ist eine Schnur, um aller Bildung
und allem höheren Geschmack den Garaus zu machen. Und so wie sichtlich alle
Formen an dieser Hast der Arbeitenden zugrundegehn: so geht auch das Gefühl für
die Form selber, das Ohr und Auge für die Melodie der Bewegungen zugrunde. Der
Beweis dafür liegt in der jetzt überall geforderten p l u m p e n
D e u t l i c h k e i t, in allen den Lagen, wo der Mensch einmal
redlich mit Menschen sein will, im Verkehre mit Freunden, Frauen, Verwandten,
Kindern, Lehrern, Schülern, Führern und Fürsten ‑ man hat keine Zeit und keine
Kraft mehr für die Zeremonien, für die Verbindlichkeit mit Umwegen, für allen
Esprit der Unterhaltung und überhaupt für alles
O t i u m. Denn das Leben auf der Jagd nach Gewinn zwingt fortwährend
dazu, seinen Geist bis zur Erschöpfung auszugeben, im beständigen
Sich-Verstellen oder Überlisten oder Zuvorkommen: die eigentliche Tugend ist
jetzt, etwas in weniger Zeit zu tun als ein anderer. Und so gibt es nur selten
Stunden der e r l a u b t e n Redlichkeit: in diesen aber ist man müde und
möchte sich nicht nur »gehen lassen«, sondern lang und breit und plump sich h i n s t r e c k e n. Gemäß diesem Hange
schreibt man jetzt seine Briefe: deren Stil und Geist immer das eigentliche
»Zeichen der Zeit« sein werden. Gibt es noch ein Vergnügen an Gesellschaft und
an Künsten, so ist es ein Vergnügen, wie es müde gearbeitete Sklaven sich
zurecht machen. Oh über diese Genügsamkeit der »Freude« bei unsern Gebildeten
und Ungebildeten! Oh über diese zunehmende Verdächtigung aller Freude! Die A r b e i t
bekommt immer mehr alles gute Gewissen auf ihre Seite: der Hang zur Freude nennt sich bereits
»Bedürfnis der Erholung« und fängt an sich vor sich selber zu schämen. »Man ist
es seiner Gesundheit schuldig« ‑ so redet man, wenn man auf einer Landpartie
ertappt wird. Ja es könnte bald so weit kommen, dass man einem Hange zur vita
contemplativa (das heißt zum Spazierengehen mit Gedanken und Freunden) nicht
ohne Selbstverachtung und schlechtes Gewissen nachgäbe. ‑- Nun! Ehedem war es
umgekehrt: die Arbeit hatte das schlechte Gewissen auf sich. Ein Mensch von
guter Abkunft v e r b a r g seine Arbeit, wenn die Not ihn zum Arbeiten
zwang. Der Sklave arbeitete unter dem Druck des Gefühls, dass er etwas
Verächtliches tue ‑ das »Tun« selber war etwas Verächtliches. »Die Vornehmheit
und die Ehre sind allein bei otium und bellum«: so klang die Stimme des antiken
Vorurteils!
Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, 4/329
Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, 4/329
Vor diesem Hintergrund, auch eingedenk der Kulturkritik von Ralph Waldo Emerson bzw. Henry David Thoreau werden die Sätze von Nietzsche noch bedeutsamer.
Klagelied. — Es sind
vielleicht die Vorzüge unserer Zeiten, welche ein Zurücktreten und eine
gelegentliche Unterschätzung der vita contemplativa mit sich bringen. Aber
eingestehen muss man es sich, dass unsere Zeit arm ist an grossen Moralisten,
dass Pascal, Epictet, Seneca, Plutarch wenig noch gelesen werden, dass Arbeit
und Fleiss — sonst im Gefolge der grossen Göttin Gesundheit — mitunter wie eine
Krankheit zu wüthen scheinen. Weil Zeit zum Denken und Ruhe im Denken fehlt,
so erwägt man abweichende Ansichten nicht mehr: man begnügt sich, sie zu
hassen. Bei der ungeheuren Beschleunigung des Lebens wird Geist und Auge an
ein halbes oder falsches Sehen und Urtheilen gewöhnt, und Jedermann gleicht den
Reisenden, welche Land und Volk von der Eisenbahn aus kennen lernen.
Selbständige und vorsichtige Haltung der Erkenntniss schätzt man beinahe als
eine Art Verrücktheit ab, der Freigeist ist in Verruf gebracht, namentlich
durch Gelehrte, welche an seiner Kunst, die Dinge zu betrachten, ihre
Gründlichkeit und ihren Ameisenfleiss vermissen und ihn gern in einen einzelnen
Winkel der Wissenschaft bannen möchten: während er die ganz andere und höhere
Aufgabe hat, von einem einsam gelegenen Standorte aus den ganzen Heerbann der
wissenschaftlichen und gelehrten Menschen zu befehligen und ihnen die Wege und
Ziele der Cultur zu zeigen. — Eine solche Klage, wie die eben abgesungene, wird
wahrscheinlich ihre Zeit haben und von selber einmal, bei einer gewaltigen
Rückkehr des Genius’ der Meditation, verstummen. Nietzsche, MA-I-V-282
Zurück zu Freud und seinen zitierten Aufsatz. Im Abschnitt V hießt es unter anderem:
Das gern verleugnete Stück Wirklichkeit
hinter alledem ist, daß der Mensch nicht ein sanftes, liebebedürftiges Wesen
ist, das sich höchstens, wenn angegriffen, auch zu verteidigen vermag, sondern
daß er zu seinen Triebbegabungen auch einen mächtigen Anteil von
Aggressionsneigung rechnen darf. Infolgedessen ist ihm der Nächste nicht nur
möglicher Helfer und Sexualobjekt, sondern auch eine Versuchung, seine
Aggression an ihm zu befriedigen, seine Arbeitskraft ohne Entschädigung
auszunützen, ihn ohne seine Einwilligung sexuell zu gebrauchen, sich in den
Besitz seiner Habe zu setzen, ihn zu demütigen, ihm Schmerzen zu bereiten, zu
martern und zu töten. Homo homini lupus; wer hat nach allen Erfahrungen
des Lebens und der Geschichte den Mut, diesen Satz zu bestreiten?
Die Kommunisten glauben den Weg zur
Erlösung vom Übel gefunden zu haben. Der Mensch ist eindeutig gut, seinem
Nächsten wohlgesinnt, aber die Einrichtung des privaten Eigentums hat seine
Natur verdorben. Besitz an privaten Gütern gibt dem einen die Macht und damit
die Versuchung, den Nächsten zu mißhandeln; der vom Besitz Ausgeschlossene muß
sich in Feindseligkeit gegen den Unterdrücker auflehnen. Wenn man das
Privateigentum aufhebt, alle Güter gemeinsam macht und alle Menschen an deren
Genuß teilnehmen läßt, werden Übelwollen und Feindseligkeit unter den Menschen
verschwinden. Da alle Bedürfnisse befriedigt sind, wird keiner Grund haben, in
dem anderen seinen Feind zu sehen; der notwendigen Arbeit werden sich alle
bereitwillig unterziehen.
Im nächsten Paragraph notiert Freud eine bedeutsame Beobachtung:
Es wird den Menschen offenbar nicht
leicht, auf die Befriedigung dieser ihrer Aggressionsneigung zu verzichten; sie
fühlen sich nicht wohl dabei. Der Vorteil eines kleineren Kulturkreises, daß er
dem Trieb einen Ausweg an der Befeindung der Außenstehenden gestattet, ist
nicht geringzuschätzen. Es ist immer möglich, eine größere Menge von Menschen
in Liebe aneinander zu binden, wenn nur andere für die Äußerung der Aggression
übrigbleiben. Ich habe mich einmal mit dem Phänomen beschäftigt, daß gerade
benachbarte und einander auch sonst nahestehende Gemeinschaften sich
gegenseitig befehden und verspotten, so Spanier und Portugiesen, Nord- und
Süddeutsche, Engländer und Schotten usw. Ich gab ihm den Namen
»Narzißmus der kleinen Differenzen«, der nicht viel zur Erklärung beiträgt. Man
erkennt nun darin eine bequeme und relativ harmlose Befriedigung der
Aggressionsneigung, durch die den Mitgliedern der Gemeinschaft das
Zusammenhalten erleichtert wird. Das überallhin versprengte Volk der Juden hat
sich in dieser Weise anerkennenswerte Verdienste um die Kulturen seiner
Wirtsvölker erworben; leider haben alle Judengemetzel des Mittelalters nicht
ausgereicht, dieses Zeitalter friedlicher und sicherer für seine christlichen
Genossen zu gestalten. Nachdem der Apostel Paulus die allgemeine Menschenliebe
zum Fundament seiner christlichen Gemeinde gemacht hatte, war die äußerste
Intoleranz des Christentums gegen die draußen Verbliebenen eine unvermeidliche
Folge geworden; den Römern, die ihr staatliches Gemeinwesen nicht auf die Liebe
begründet hatten, war religiöse Unduldsamkeit fremd gewesen, obwohl die
Religion bei ihnen Sache des Staates und der Staat von Religion durchtränkt
war. Es war auch kein unverständlicher Zufall, daß der Traum einer germanischen
Weltherrschaft zu seiner Ergänzung den Antisemitismus aufrief, und man erkennt
es als begreiflich, daß der Versuch, eine neue kommunistische Kultur in Rußland
aufzurichten, in der Verfolgung der Bourgeois seine psychologische
Unterstützung findet. Man fragt sich nur besorgt, was die Sowjets anfangen
werden, nachdem sie ihre Bourgeois ausgerottet haben.
Der Urmensch hatte es in der Tat darin
besser, da er keine Triebeinschränkungen kannte. Zum Ausgleich war seine
Sicherheit, solches Glück lange zu genießen, eine sehr geringe. Der
Kulturmensch hat für ein Stück Glücksmöglichkeit ein Stück Sicherheit eingetauscht.
Kultur ist nur durch Beschränkung der Freiheit des Einzelnen zu gewinnen. Jede Zivilisierung stellt ein Korsett dar. Aber ohne Korsett hätten wir keine Gemeinschaft und Gesellschaft, blieben tierhaft am Boden und könnten den Ängste noch weniger begegnen, als in der zivilisierten Gesellschaft. Angst und Schuld bzw. Schuldgefühle dominieren. Wir leben nicht im Paradies und haben nur die Chance, über eine möglichst humane Kultivierung unsere Schuldgefühle und Ängste wenn schon nicht zu lösen, so doch unter Kontrolle zu bringen, in Zaum zu halten. Freud sagt es so:
Wir können uns also erst bei der Aussage
beruhigen, der Kulturprozeß sei jene Modifikation des Lebensprozesses, die er
unter dem Einfluß einer vom Eros gestellten, von der Ananke, der realen Not
angeregten Aufgabe erfährt, und diese Aufgabe ist die Vereinigung vereinzelter
Menschen zu einer unter sich libidinös verbundenen Gemeinschaft. Fassen wir
aber die Beziehung zwischen dem Kulturprozeß der Menschheit und dem
Entwicklungs- oder Erziehungsprozeß des einzelnen Menschen ins Auge, so werden
wir uns ohne viel Schwanken dafür entscheiden, daß die beiden sehr ähnlicher
Natur sind, wenn nicht überhaupt derselbe Vorgang an andersartigen Objekten.
Der Kulturprozeß der Menschenart ist natürlich eine Abstraktion von höherer Ordnung
als die Entwicklung des Einzelnen, darum schwerer anschaulich zu erfassen, und
die Aufspürung von Analogien soll nicht zwanghaft übertrieben werden; aber bei
der Gleichartigkeit der Ziele — hier die Einreihung eines Einzelnen in eine
menschliche Masse, dort die Herstellung einer Masseneinheit aus vielen
Einzelnen — kann die Ähnlichkeit der dazu verwendeten Mittel und der zustande
kommenden Phänomene nicht überraschen.
Das Kultur-Über-Ich hat seine Ideale
ausgebildet und erhebt seine Forderungen. Unter den letzteren werden die,
welche die Beziehungen der Menschen zueinander betreffen, als Ethik
zusammengefaßt. Zu allen Zeiten wurde auf diese Ethik der größte Wert gelegt,
als ob man gerade von ihr besonders wichtige Leistungen erwartete. Und wirklich
wendet sich die Ethik jenem Punkt zu, der als die wundeste Stelle jeder Kultur
leicht kenntlich ist. Die Ethik ist also als ein therapeutischer Versuch
aufzufassen, als Bemühung, durch ein Gebot des Über-Ichs zu erreichen, was
bisher durch sonstige Kulturarbeit nicht zu erreichen war. Wir wissen bereits,
es fragt sich hier darum, wie das größte Hindernis der Kultur, die
konstitutionelle Neigung der Menschen zur Aggression gegeneinander, wegzuräumen
ist, und gerade darum wird uns das wahrscheinlich jüngste der kulturellen
Uber-Ich-Gebote besonders interessant, das Gebot: »Liebe deinen Nächsten wie
dich selbst.«
Eine Wertung der menschlichen Kultur zu
geben liegt mir aus den verschiedensten Motiven sehr ferne. Ich habe mich
bemüht, das enthusiastische Vorurteil von mir abzuhalten, unsere Kultur sei das
Kostbarste, was wir besitzen oder erwerben können und ihr Weg müsse uns
notwendigerweise zu Höhen ungeahnter Vollkommenheit führen.
Meine Unparteilichkeit wird mir dadurch
leicht, daß ich über all diese Dinge sehr wenig weiß, mit Sicherheit nur das
eine, daß die Werturteile der Menschen unbedingt von ihren Glückswünschen
geleitet werden, also ein Versuch sind, ihre Illusionen mit Argumenten zu
stützen.
So sinkt mir der Mut, vor meinen
Mitmenschen als Prophet aufzustehen, und ich beuge mich ihrem Vorwurf, daß ich
ihnen keinen Trost zu bringen weiß, denn das verlangen sie im Grunde alle, die
wildesten Revolutionäre nicht weniger leidenschaftlich als die bravsten
Frommgläubigen.
Ich möchte mich zum Abschluss dem prominentesten Vertreter der Frankfurter Schule, Theodor W. Adorno zuwenden, weil er schon während des 2. Weltkrieges im amerikanischen Exil die Auswüchse der Kulturindustrie studiert und kritisiert hat, und nach seiner Rückkehr nach Deutschland hellwach, scharf und klar seine Kulturkritik (neben seinen philosophischen, soziologischen und musikwissenschaftlichen Arbeiten) formuliert hat. Zu seiner Zeit gab es noch kein Internet, noch keine asozialen „social media“; der Verdummungsgrad war hoch, aber im Vergleich zur Gegenwart viel geringer, da doch Kritiken aus verschiedenen Lagern geäußert wurden, was heute kaum mehr der Fall ist: die Gleichschaltung hat sich vom früher verordneten Zwang privatisiert und verinnerlicht. Obwohl er und seine Kollegen sich also nicht zu Zuständen äußern konnten, die uns heute bestimmen, haben sie doch feinnervig und hellsichtig Tendenzen erkannt und mögliche Entwicklungen visioniert, weil sie den Kern der Ausbeutegesellschaft, des organisierten Betrugs durchleuchteten. Seine Sätze zum Fernsehen („Prolog zum Fernsehen“ und „Fernsehen als Ideologie“, beide 1953) widerspiegeln z. B. eine Einschätzung, die sich folgerichtig ans den heutigen Massenmedien und social media ablesen lässt, falls man des Lesens kundig ist. Das Gleiche gilt von seinen Beobachtungen des Bildungswesens und der Erziehung. Drei Aufsätze möchte ich dabei hervorheben: Theorie der Halbbildung (1959), „Tabus über dem Lehrberuf“ (1965) und „Erziehung nach Auschwitz“ (1967). Diese Aufsätze sind auch in preisgünstigen Taschenbüchern im Suhrkamp Verlag erschienen.
Adorno geht in seinem Aufsatz „Notiz über Geisteswissenschaft und Bildung“ (1972) zuerst auf den Unterschied von Bildung und Ausbildung ein und führt dann seine Kritik an einem falsch verstandenen Bildungsideal von Wissenschaft aus.
Unter den Aspekten der gegenwärtigen Universität, denen gegenüber
der Ausdruck Krise mehr ist als bloße Phrase, möchte ich einen hervorheben, den
ich gewiß nicht entdeckt habe, der jedoch in der öffentlichen Diskussion kaum
die genügende Aufmerksamkeit fand. Er hängt zusammen mit jenem Komplex, der als
Divergenz von Bildung und fachlicher Schulung bekannt ist, deckt sich aber
keineswegs damit.
Er gilt der Frage, ob der Universität heute Bildung dort noch
gelinge, wo sie nach Thematik und Tradition an deren Begriff festhält, also in
den sogenannten Geisteswissenschaften; ob im allgemeinen der Akademiker durch
deren Studium überhaupt noch jene Art geistiger Erfahrung gewinnen kann, die
vom Begriff Bildung gemeint war, und die im Sinn der Gegenstände selber liegt,
mit denen er sich befaßt. Vieles spricht dafür, daß von eben dem Begriff der
Wissenschaft, wie er nach dem Verfall der großen Philosophie aufkam und seitdem
eine Art Monopol erlangte, jene Bildung unterhöhlt wird, welche er kraft des
Monopols beansprucht.
Die Funktion des Wissenschaftsbegriffs ist umgeschlagen. Die
vielberufene methodische Sauberkeit, allgemeine Kontrollierbarkeit, der
Consensus der zuständigen Gelehrten, die Belegbarkeit aller Behauptungen,
selbst die logische Stringenz der Gedankengänge ist nicht Geist: das Kriterium
des Hieb- und Stichfesten wirkt jenem immer zugleich auch entgegen. Wo der
Konflikt gegen die unreglementierte Einsicht entschieden ist, kann es zur
Subjekt und Objekt gar nicht kommen, den man im Humboldtschen Zeitalter
konzipierte. Organisierte Geisteswissenschaft ist Bestandsaufnahme und
Reflexionsform des Geistes eher als dessen eigenes Leben; als Unähnliches will
sie ihn erkennen und erhebt die Unähnlichkeit zur Maxime. Setzt sie sich aber
an seine Stelle, so verschwindet er, auch in der Wissenschaft selbst. Das
geschieht, sobald Wissenschaft als einziges Organon von Bildung sich
betrachtet, und die Einrichtung der Gesellschaft sanktioniert kein anderes. Zur
Intoleranz gegen den Geist, der ihr nicht gleicht, neigt Wissenschaft offenbar
um so mehr, pocht um so mehr auf ihr Privileg, je tiefer sie ahnt, daß sie das
nicht gewährt, was sie verspricht.
Die Verdinglichung des Bewußtseins, die Verfügung über seine
eingeschliffenen Apparaturen schiebt sich vielfach vor die Gegenstände und
verhindert die Bildung, die eins wäre mit dem Widerstand gegen Verdinglichung.
Der philosophisch dubiose Kultus der Ursprünglichkeit, der von der
Heideggerschen Schule betrieben wird, hätte schwerlich die
geisteswissenschaftliche Jugend so sehr fasziniert, käme er nicht auch einem
wahrhaften Bedürfnis entgegen.
Indem jedoch der gesellschaftliche Prozeß verkannt wird, der das
Denken verdinglicht, machen sie Ursprünglichkeit selbst wiederum zu einer
Branche, zur angeblich radikalen und eben darum spezialistischen Frage. Was das
verdinglichte wissenschaftliche Bewußtsein anstelle der Sache begehrt, ist aber
ein Gesellschaftliches: Deckung durch den institutionellen Wissenschaftszweig,
auf welchen jenes Bewußtsein als einzige Instanz sich beruft, sobald man es
wagt, an das sie zu mahnen, was sie vergessen. Das ist der implizite
Konformismus der Geisteswissenschaft.
Zwischen Geist und Wissenschaft lagert sich ein Vakuum. Nicht nur
die Fachausbildung, sondern auch Bildung selber bildet nicht mehr. Sie
polarisiert sich nach den Momenten des Methodischen und des Informatorischen.
Was heute als Bildungskrise offenbar wird,
ist weder bloß Gegenstand der pädagogischen Fachdisziplin, die unmittelbar
damit sich zu befassen hat, noch von einer Bindestrichsoziologie – eben der der
Bildung – zu bewältigen. Die allerorten bemerkbaren Symptome des Verfalls von
Bildung, auch in der Schicht der Gebildeten selber, erschöpfen sich nicht in
den nun bereits seit Generationen bemängelten Unzulänglichkeiten des
Erziehungssystems und der Erziehungsmethoden. Isolierte pädagogische Reformen
allein, wie unumgänglich auch immer, helfen nicht. Zuweilen mögen sie, im Nachlassen
des geistigen Anspruchs an die zu Erziehenden, auch in argloser Unbekümmertheit
gegenüber der Macht der außerpädagogischen Realität über jene, eher die Krise
verstärken.
Sie ist zu sozialisierter Halbbildung
geworden, der Allgegenwart des entfremdeten Geistes. Nach Genesis und Sinn geht
sie nicht der Bildung voran, sondern folgt auf sie. Alles ist darin von den
Maschen der Vergesellschaftung eingefangen, nichts mehr ungeformte Natur; deren
Roheit aber, das alte Unwahre, erhält zäh sich am Leben und reproduziert sich
erweitert. Inbegriff eines der Selbstbestimmung entäußerten Bewußtseins,
klammert sie sich unabdingbar an approbierte Kulturelemente. Aber unter ihrem
Bann gravitieren sie, als Verwesende, zum Barbarischen.
Daß Halbbildung, aller Aufklärung und
verbreiteten Information zum Trotz und mit ihrer Hilfe, zur herrschenden Form
des gegenwärtigen Bewußtseins wird – eben das erheischt weiter ausgreifende
Theorie.
Denn Bildung ist nichts anderes als Kultur
nach der Seite ihrer subjektiven Zueignung. Kultur aber hat Doppelcharakter.
Bildung, welche davon absieht, sich selbst
setzt und verabsolutiert, ist schon Halbbildung geworden.
Vermöge des Drucks, den sie [die Anpassung]
auf die Menschen ausübt, perpetuiert sie in diesen das Ungestalte, das sie
geformt zu haben wähnt, die Aggression. Das ist, nach Freuds Einsicht, der
Grund des Unbehagens in der Kultur.
Bildung sollte sein, was dem freien, im
eigenen Bewußtsein gründenden, aber in der Gesellschaft fortwirkenden und seine
Triebe sublimierenden Individuum rein als dessen eigener Geist zukäme. Sie galt
stillschweigend als Bedingung einer autonomen Gesellschaft: je heller die
Einzelnen, desto erhellter das Ganze.
Je weniger die gesellschaftlichen
Verhältnisse, zumal die ökonomischen Differenzen dies Versprechen einlösen, um
so strenger wird der Gedanke an die Zweckbeziehung von Bildung verpönt. Nicht
darf an die Wunde gerührt werden, daß Bildung allein die vernünftige
Gesellschaft nicht garantiert. Man verbeißt sich in die von Anbeginn trügende
Hoffnung, jene könne von sich aus den Menschen geben, was die Realität ihnen
versagt. Der Traum der Bildung, Freiheit vom Diktat der Mittel, der sturen und
kargen Nützlichkeit, wird verfälscht zur Apologie der Welt, die nach jenem
Diktat eingerichtet ist. Im Bildungsideal, das die Kultur absolut setzt,
schlägt die Fragwürdigkeit von Kultur durch.
Versuche zur pädagogischen Abhilfe
mißrieten zur Karikatur. Alle sogenannte Volksbildung – mittlerweile ist man
hellhörig genug, das Wort zu umgehen – krankte an dem Wahn, den
gesellschaftlich diktierten Ausschluß des Proletariats von der Bildung durch
die bloße Bildung revozieren zu können.
Aber der Widerspruch zwischen Bildung und
Gesellschaft resultiert nicht einfach in Unbildung alten Stils, der
bäuerlichen. Eher sind die ländlichen Bezirke heute Brutstätten von
Halbbildung. Dort ist, nicht zuletzt dank der Massenmedien Radio und Fernsehen,
die vorbürgerliche, wesentlich an der traditionellen Religion haftende
Vorstellungswelt jäh zerbrochen. Sie wird verdrängt vom Geist der
Kulturindustrie; das Apriori des eigentlich bürgerlichen Bildungsbegriffs
jedoch, die Autonomie, hat keine Zeit gehabt, sich zu formieren. Das Bewußtsein
geht unmittelbar von einer zur anderen Heteronomie über; anstelle der Autorität
der Bibel tritt die des Sportplatzes, des Fernsehens und der »Wahren
Geschichten«, die auf den Anspruch des Buchstäblichen, der Tatsächlichkeit
diesseits der produktiven Einbildungskraft sich stützt.
Im Klima der Halbbildung überdauern die
warenhaft verdinglichten Sachgehalte von Bildung auf Kosten ihres
Wahrheitsgehalts und ihrer lebendigen Beziehung zu lebendigen Subjekten.
Die
Kulturindustrie im weitesten Umfang jedoch, all das, was der Jargon als
Massenmedien bestätigend einordnet, verewigt jenen Zustand, indem sie ihn
ausbeutet, eingestandenermaßen Kultur für jene, welche die Kultur von sich
stieß, Integration des gleichwohl weiter Nichtintegrierten. Halbbildung ist ihr
Geist, der mißlungener Identifikation.
Die gegenwärtig in Wahrheit wirksamen
Leitbilder sind das Konglomerat der ideologischen Vorstellungen, die in den
Subjekten sich zwischen diese und die Realität schieben und die Realität
filtern. Sie sind affektiv derart besetzt, daß sie nicht ohne weiteres von der
ratio weggeräumt werden können. Halbbildung faßt sie zusammen. Unbildung, als
bloße Naivetät, bloßes Nichtwissen, gestattete ein unmittelbares Verhältnis zu
den Objekten und konnte zum kritischen Bewußtsein gesteigert werden kraft ihres
Potentials von Skepsis, Witz und Ironie – Eigenschaften, die im nicht ganz
Domestizierten gedeihen. Der Halbbildung will das nicht glücken.
Der Sozialcharakter, den man mit einem
selber höchst anrüchigen Wort auf deutsch geistiger Mensch nennt, stirbt aus.
Der vermeintliche Realismus jedoch, der ihn beerbt, ist nicht näher zu den
Sachen, sondern lediglich bereit, unter Verzicht auf toil and trouble, die
geistige Existenz komfortabel einzurichten und zu schlucken, was in ihn
hineingestopft wird. Weil kaum mehr ein Junge sich träumt, einmal ein großer
Dichter oder Komponist zu werden, darum gibt es wahrscheinlich, übertreibend
gesagt, unter den Erwachsenen keine großen ökonomischen Theoretiker, am Ende
keine wahrhafte politische Spontaneität mehr.
Geist wird davon affiziert, daß er und
seine Objektivation als Bildung überhaupt nicht mehr erwartet werden, damit
einer gesellschaftlich sich ausweise. Das allbeliebte Desiderat einer Bildung,
die durch Examina gewährleistet, womöglich getestet werden kann, ist bloß noch
der Schatten jener Erwartung. Die sich selbst zur Norm, zur Qualifikation
gewordene, kontrollierbare Bildung ist als solche so wenig mehr eine wie die
zum Geschwätz des Verkäufers degenerierte Allgemeinbildung.
In Amerika, dem bürgerlich
fortgeschrittensten Land, hinter dem die anderen herhinken, läßt
Bilderlosigkeit des Daseins als gesellschaftliche Bedingung universaler
Halbbildung kraß sich beobachten.
Halbbildung beschränkt sich längst nicht
mehr bloß auf den Geist, sondern entstellt das sinnliche Leben. Sie antwortet
auf die psychodynamische Frage, wie das Subjekt es unter einer selber
schließlich irrationalen Rationalität aushalten könne.
So wie der Sozialcharakter des
Handlungsangestellten, des Kommis alten Stils, mittlerweile als
Angestelltenkultur überwuchert – noch bei Karl Kraus, der die Ursprünge dieses
Prozesses verfolgte, ist von der ästhetischen Diktatur des Kommis die Rede –,
so haben die ehrwürdigen Profitmotive der Bildung wie Schimmelpilze die gesamte
Kultur überzogen. Daß sie das von ihr Abweichende kaum mehr durchläßt, einzig
dies Totalitäre ist am neuen Zustand das Neue.
Zugleich aber wächst mit dem
Lebensstandard der Bildungsanspruch als Wunsch, zu einer Oberschicht gerechnet
zu werden, von der man ohnehin subjektiv weniger stets sich unterscheidet. Als
Antwort darauf werden immense Schichten ermutigt, Bildung zu prätendieren, die
sie nicht haben. Was früher einmal dem Protzen und dem nouveau riche
vorbehalten war, ist Volksgeist geworden. Ein großer Sektor der kulturindustriellen
Produktion lebt davon und erzeugt selbst wiederum das halbgebildete Bedürfnis;
die Romanbiographien, die über Bildungstatsachen berichten und gleichzeitig
billige und nichtige Identifikationen bewirken; der Ausverkauf ganzer
Wissenschaften wie der Archäologie oder Bakteriologie, der sie in grobe
Reizmittel verfälscht und dem Leser einredet, er sei au courant.
[Heute haben
sensationsgeile Filme als "Infotainment" diese Rolle übernommen:
"History" und '"Universum" z. B. sind solche Häppchen, die
die Halbgebildeten munter unterhalten.]
Die Dummheit, mit welcher der Kulturmarkt
rechnet, wird durch diesen reproduziert und verstärkt. Frisch-fröhliche
Verbreitung von Bildung unter den herrschenden Bedingungen ist unmittelbar eins
mit ihrer Vernichtung.
Halbbildung siedelt parasitär im cultural
lag sich an. Daß Technik und höherer Lebensstandard ohne weiteres der Bildung
dadurch zugute komme, daß alle von Kulturellem erreicht werden, ist
pseudodemokratische Verkäuferideologie – »Music goes into mass production« –,
und sie wird es darum nicht weniger, weil man den, der an ihr zweifelt,
snobistisch schilt.
Das Halbverstandene und Halberfahrene ist
nicht die Vorstufe der Bildung sondern ihr Todfeind: Bildungselemente, die ins
Bewußtsein geraten, ohne in dessen Kontinuität eingeschmolzen zu werden,
verwandeln sich in böse Giftstoffe, tendenziell in Aberglauben, selbst wenn sie
an sich den Aberglauben kritisieren (.)
In Amerika existiert ein außerordentlich
verbreitetes Buch, »Great Symphonies«, von Sigmund Spaeth. Es ist hemmungslos
auf ein halbgebildetes Bedürfnis zugeschnitten: das, dadurch sich als
kultiviert auszuweisen, daß man die im Musikbetrieb ohnehin unausweichlichen
Standardwerke der symphonischen Literatur sofort erkennen kann.
An dieser Explosion von Barbarei, die
sicherlich das musikalische Bewußtsein von Millionen von Menschen beschädigt
hat, läßt viel auch über die diskretere mittlere Halbbildung sich lernen. Die
idiotischen Sätze, die da gesungen werden, haben mit dem Gehalt der Werke nichts
zu tun, sondern saugen sich wie Blutegel an deren Erfolg fest, bündige
Zeugnisse des Fetischismus der Halbbildung im Verhältnis zu ihren Gegenständen.
Die Objektivität des Kunstwerks wird verfälscht durch Personalisierung: ein
stürmischer Satz, der zu einer lyrischen Episode sich beruhigt, wäre danach ein
Porträt Tschaikowskys.
Die Attitüde, in der Halbbildung und
kollektiver Narzißmus sich vereinen, ist die des Verfügens, Mitredens, als
Fachmann sich Gebärdens, Dazu-Gehörens. Die Phänomenologie der Sprache in der
verwalteten Welt, die Karl Korn jüngst entworfen hat, zumal die »Sprache des
Angebers«, ist geradezu die Ontologie von Halbbildung, und die sprachlichen
Monstrositäten, die er interpretierte, sind die Male der mißlungenen
Identifikation mit dem objektiven Geist an diesem. Um überhaupt noch den
Anforderungen zu genügen, welche die Gesellschaft an die Menschen richtet,
reduziert Bildung sich auf die Kennmarke gesellschaftlicher Immanenz und
Integriertheit und wird unverhohlen sich selber ein Tauschbares, Verwertbares.
Der Halbgebildete betreibt Selbsterhaltung
ohne Selbst.
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