Freitag, 27. April 2018

Facebook & Unbildung

Kürzlich nahm ich an einem Regionaltreffen von Bibliothekarinnen und Bibliothekaren teil und äußerte zu einem Kommunikationsreferat meinen Einwand gegen FACEBOOK. Um den Verlauf der Veranstaltung aber nicht zu blockieren oder zu stören, elaborierte ich nicht meine Kritik, sondern sandte später an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einige Links zu Facebook und Co. bzw. Bildung und Kommunikation sowie einem Aufsatz von mir, "Facebook & Unbildung", worin ich extensiv aus Werken zitierte, die mir als kritische wichtig erscheinen und die ich zur vertieften Lektüre empfahl.

Hier die Links und nachfolgend mein Text.


Facebook weicht weiterhin aus
Der Politik-Verantwortliche bleibt im Bundestag vage - die Gesichtserkennung jedoch kommt.
Frankfurter Rundschau 20.4.2018

Facebook’s Fake News Fix
Sue Halpern      
NYRDaily 23.1.2018

January 12, 2018
Starting Them Young: Is Facebook Hooking Children on Social Media?
by Roberto J. González, Counterpunch Jan 12, 2018

March 30, 2018
Goodbye Facebook, and Screw You Too
by Christopher Ketcham, Counterpunch March 30. 2018

rodrigo ochigame & james holston
FILTERING DISSENT
The New Left Review 99

Cyber criminals earn $1.5 Trillion through Amazon, Facebook and Instagram exploitation
Independent, 20.4.2018

Facebook must face lawsuit ovber facial recognition technology, judge rules
Independent, 17.4.2018

Der Spion im Klassenzimmer
In Frankreich werden Handys auf Anordnung von Präsident Macron aus den Schulen verbannt. Deutsche Schüler sollen dagegen in einer Lern-Cloud ausspioniert werden.
Ein Beitrag von Ralf Lankau aus der Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.01.2018, Nr. 14, S. N4
               
Datenschutz? Gibt’s doch gar nicht
Ein paar grundsätzliche Überlegungen für Nichtinformatiker und Lehrende zum Umgang mit Rechnern und Internet
in: Paul Tarmann (Hrsg.) Datenschutz – „Big Data“ als gesellschaftliche und politische Herausforderung. Gesellschaft & Politik. Zeitchrift für soziales und wirtschaftliches Engagement, Heft 2/17, S. 17-24

Kompetenzorientierung als Sündenfall in der Pädagogik?
Tagungsbericht von der 1. Frankfurter (In-)Kompetenzkonferenz vom 7./8. Juli 2017, Gabriela Trutmann und Yasemin Kanele in Gymnasium Helveticum 5/2017, S. 29-31

Unberechenbare Bildung
Gastbeitrag von Pierangelo Maset
Erschienen in: DAS PLATEAU. Die Zeitschrift im Radius-Verlag, Ausgabe 149, Juni 2015.

GBW Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V.
Forum für Schule, Ausbildung und Studium



Facebook & Unbildung



Haimo L. Handl



Facebook ist nicht nur die größte und effektivste Datenmissbrauchsmaschine, ein gigantisches Geschäft, sondern auch eine politische Waffe im gezielten Missbrauch von Milliarden von User Data. Der weitaus wichtigste Aspekt liegt aber in der Verdinglichung, der Verstärkung des Verblendungszusammenhangs, des sozialen Betrugs in der extremen Ausrichtung auf Quantität(en). Quantität hat jedwede Qualität ersetzt. Insbesondere Unterschichtler finden in der Belohnungsmaschinerie durch Massenbestätigung bzw. Anhäufen von „Freunden“ ihre stündliche Bestätigung, was sie noch mehr dazu verführt, ihre Isolation, ihre Abhängigkeit bzw. Süchtigkeit zu übersehen und sich anerkannt, „geliked“ (schon das Unwort desavouiert) zu fühlen, eingepasst in die sich dauernd beschleunigende Tretmühle, den ewigen Wettkampf, den Kampf um den Platz an der Sonne, der durchdringenden Konkurrenz, die jeden, der nicht Erster, vielleicht noch Zweiter oder Dritter ist, als Versager, als Verlierer ausmustert.



Was hat das mit Bildung bzw. Unbildung zu tun? Sehr viel und wesentlich. Die leichte Lenkbarkeit von Verhalten, die permanente Konditionierung, die kürzlich zu Untersuchungen in den USA geführt haben, ob das Wahlverhalten unlauter beeinflusst worden sei, ist nur deshalb überhaupt ein Problem, weil außerhalb des Konsumverhaltens, wo die fast Pawlowsche Konditionierung gefördert und unterstützt wird, im Bereich des Politischen manchmal, je nach Kräfteverhältnissen und Machtverteilungen, zu Abwehren führt, weil die Lenkung außerhalb der staatlichen oder korporativen Kontrolle erfolgt.



Der Datenmissbrauch durch Facebook ist eigentlich kein Problem, außer er führt eben zu unkontrolliertem, ungeplantem Verhalten. Immerhin sind die NSA bzw. in Großbritannien der MI5 und MI6 (Inland- und Auslandsgeheimdienst) die erfolgreichsten Datenräuber und –missbraucher weltweit. (Die Russen, die in den westlichen Medien als Teufel und Verbrecher dargestellt werden, kommen da lange nicht ran.) Der Skandal um Facebook lenkt vom eigentlichen Verbrechen ab. Der gesellschaftliche, soziale und humane Hintergrund zeigt jedoch die tieferliegende Problematik.



Wären die Massen gebildet im älteren Bedeutungssinn von Bildung, gäbe es kein so riesiges Facebook bzw. keine so trottelhafte, gleichgeschaltete Ausrichtung auf Quantitäten. Die Quantitätsorientierung ist nur durch Persönlichkeitsmangel, geringe Ichstärke bzw. Unbildung möglich. Gebildete würden in geringerer Zahl mitmachen. Gebildete würden sich kritisch äußern. Facebook aber unterminiert Kritik und eigenes Denken, es verstärkt den Herdentypus, es stärkt den Mob. Es arbeitet wie die Faschisten rechter wie linker Art (die Nazis und die Bolschewiki mussten noch krude, grobe Mittel der Beeinflussung einsetzen). Die Datenmissbraucher haben ein mediales Umfeld geschaffen, das mit geringerem Aufwand früher ungeahnt höhere Effekte erzielt. Sie haben es sogar geschafft, was ehedem als Traum der Tyrannen unerfüllt blieb, die Opfer dazu zu bringen, freiwillig mitzumachen, sich auszuliefern, die Daten zur Verfügung zu stellen.



Das ökonomische Diktat, die kurzsichtige Erfolgsorientierung der geschäftigen Politik unterstützt das alles durch ihre organisierte Unbildung. Dazu muss man den Bildungsbegriff hinterfragen und reflektieren. Was ist Bildung? Was soll Bildung sein? Ist Ausbildung gleich Bildung? Ersetzen Kompetenzen Wissen? Welche Art von Wissen wird präferiert, weshalb?



Um hier eine fundierte Position einnehmen zu können, muss man nicht die alten Schriften gelesen haben, von Wilhelm von Humboldt und andere Autoren des Neuhumanismus. Man muss auch nicht die zahlreichen Werke des 19. Jahrhunderts kennen zu Fragen der (klassischen) Bildung, wiewohl ihre Kenntnis, die vereinzelt auch heute noch anzutreffen sein mag, sicher von Vorteil ist hinsichtlich der Historie bzw. des komplexen Verstehenszusammenhangs. Oft sind es auch nicht ausgewiesene Pädagogen, Erziehungswissenschaftler oder Lehrer, sondern Philosophen oder Soziologen, die mit ihren Gedanken, Kritiken, Appellen oder Modellen Entwürfe lieferten, die „zu denken“ gaben.



Eine kleine, eklektische Auswahl von Persönlichkeiten:



Bis 19. Jh.:

Platon (428/427 v.Chr.-348/347 v.Chr.)

Baruch de Spinoza (1632-1677)

Jean-Jacques Rousseau (1712-1778)

Johann Bernhard Basedow (1724-1790)

Immanuel Kant (1724-1804)

Johann Gottfried Herder (1744-1803)

Joachim Heinrich Campe (1746-1818)

Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827)

Wilhelm von Humboldt (1767-1835)

Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831)

Jacob Grimm (1785–1863)

Wilhelm Grimm (1786–1859)

Arthur Schopenhauer (1788-1860)

Søren Aabye Kierkegaard (1813-1855)

Friedrich Nietzsche (1844-1900)



20. Jh.:

Sigmund Freud (1856-1939)

John Dewey (1859–1952)

Siegfried Bernfeld (1892-1953)

Max Horkheimer (1895-1973)

Theodor W. Adorno (1903-1969)

Otto Friedrich Bollnow (1903-1991)

Georg Picht (1913-1982)

Hellmut Becker (1913-1993)

Heinz-Joachim Heydorn (1916-1974)

Hartmut von Hentig *1925)

Wolfgang Brezinka (* 1928)

Peter Bieri (* 1944)



Die Frage „Was ist Bildung?“ beantwortet kurz und bündig Manfred Fuhrmann (1925-2005) in seiner Schrift „Bildung. Europas kulturelle Identität“, einer Zusammenfassung von Vorträgen, worin er die historischen Grundlagen hinterfragt, um sich dann der gegenwärtigen Situation zu widmen (Der Bildungskanon und die Erlebnisgesellschaft) bzw. auch auf „Die Krise der Geisteswissenschaften“ eingeht.



Folgt man seinen Ausführungen mit wachem Denken, wird klar, wie bedeutsam die Kenntnis gewisser Schlüsselbegriffe bzw. der Konzepte und philosophischen Ansichten, der Wertestruktur, ist, um zu begreifen oder annähernd sich vergegenwärtigen zu können, was war und was ist bzw. wohin die Entwicklung weist.



Welchen Begriff teile ich bezüglich Person und Persönlichkeit, Charakter und Veränderbarkeit? Bildung ist ja ein Veränderungsvorgang. Bliebe jemand, wie er ist, käme es zu keiner Innovation, keinem Lernprozess, keiner Anpassung oder keinem Widerstand. Die Frage ist, WAS sich ändert. Heute gilt jedoch das WIE unter Ausblendung des WAS. Bildung ist kein Garant für Wohlleben. Immerhin haben die Gebildeten der Vergangenheit es nicht vermocht, die grauenhaften Kriege zu verhindern. Ja, viele haben sich pervertiert zu kriegsbegeisterten Unterstützern der Kulturvernichtung. Wie war das mit ihrer vorgeblichen Wertestruktur, dem damals geltenden Bildungskanon, möglich? Da hilft ein Blick in die Kulturtheorie von Sigmund Freud (Massenpsychologie und Ich-Analyse – 1921 – , Die Zukunft einer Illusion – 1927 – und Das Unbehagen in der Kultur – 1929-1930). Was ist Freiheit, was Gemeinschaft, Kollektiv, Gesellschaft? Wie ist letztere möglich? Wie bedingt ist der Triebverzicht für Kultur? Wie steht es um Lust und Glück? Auf welche Weise verschaffen wir uns Befriedigung (Glückserfahrung)? Was ist der Kern der Kulturfeindlichkeit?



Ein paar Zitate aus Freuds Aufsatz „Das Unbehagen in der Kultur“:



Aus dem Abschnitt III:



Als letzten, gewiß nicht unwichtigsten Charakterzug einer Kultur haben wir zu würdigen, in welcher Weise die Beziehungen der Menschen zuein­ander, die sozialen Beziehungen, geregelt sind, die den Menschen als Nachbarn, als Hilfskraft, als Sexualobjekt eines anderen, als Mitglied einer Familie, eines Staates betreffen. Es wird hier besonders schwer, sich von bestimmten Idealforderungen frei zu halten und das, was überhaupt kulturell ist, zu erfassen. Vielleicht beginnt man mit der Erklärung, das kulturelle Element sei mit dem ersten Versuch, diese sozialen Beziehungen zu regeln, gegeben. Unterbliebe ein solcher Versuch, so wären diese Beziehungen der Willkür des Einzelnen unterworfen, d. h. der physisch Stärkere würde sie im Sinne seiner Interessen und Triebregungen entscheiden. Daran änderte sich nichts, wenn dieser Stärkere seinerseits einen einzelnen noch Stärkeren fände. Das menschliche Zusammenleben wird erst ermöglicht, wenn sich eine Mehrheit zusammenfindet, die stärker ist als jeder Einzelne und gegen jeden Einzelnen zusammenhält. Die Macht dieser Gemeinschaft stellt sich nun als »Recht« der Macht des Einzelnen, die als »rohe Gewalt« verurteilt wird, entgegen. Diese Ersetzung der Macht des Einzelnen durch die der Gemeinschaft ist der entscheidende kulturelle Schritt. Ihr Wesen besteht darin, daß sich die Mitglieder der Gemeinschaft in ihren Befriedigungsmöglichkeiten beschränken, während der Einzelne keine solche Schranke kannte. Die nächste kulturelle Anforderung ist also die der Gerechtigkeit, d. h. die Versicherung, daß die einmal gegebene Rechtsordnung nicht wieder zu Gunsten eines Einzelnen durchbrochen werde. Über den ethischen Wert eines solchen Rechts wird hiermit nicht entschieden. Der weitere Weg der kulturellen Entwicklung scheint dahin zu streben, daß dieses Recht nicht mehr der Willensausdruck einer kleinen Gemeinschaft — Kaste, Bevölkerungsschichte, Volksstammes — sei, welche sich zu anderen und vielleicht umfas­senderen solchen Massen wieder wie ein gewalttätiges Individuum verhält. Das Endergebnis soll ein Recht sein, zu dem alle — wenigstens alle Gemeinschaftsfähigen — durch ihre Triebopfer beigetragen haben und das keinen — wiederum mit der gleichen Ausnahme — zum Opfer der rohen Gewalt werden läßt.



Die individuelle Freiheit ist kein Kulturgut. Sie war am größten vor jeder Kultur, allerdings damals meist ohne Wert, weil das Individuum kaum imstande war, sie zu verteidigen. Durch die Kulturentwicklung erfährt sie Einschränkungen, und die Gerechtigkeit fordert, daß keinem diese Einschrän­kungen erspart werden. Was sich in einer menschlichen Gemeinschaft als Freiheitsdrang rührt, kann Auflehnung gegen eine bestehende Ungerechtigkeit sein und so einer weiteren Entwicklung der Kultur günstig werden, mit der Kultur verträglich bleiben. Es kann aber auch dem Rest der ursprünglichen, von der Kultur ungebändigten Persönlichkeit entstammen und so Grundlage der Kulturfeindseligkeit werden. Der Freiheitsdrang richtet sich also gegen bestimmte Formen und Ansprüche der Kultur oder gegen Kultur überhaupt. Es scheint nicht, daß man den Menschen durch irgendwelche Beeinflussung dazu bringen kann, seine Natur in die eines Termiten umzuwandeln, er wird wohl immer seinen Anspruch auf individuelle Freiheit gegen den Willen der Masse verteidigen. Ein gut Teil des Ringens der Menschheit staut sich um die eine Aufgabe, einen zweckmäßigen, d. h. beglückenden Ausgleich zwischen diesen individuellen und den kulturellen Massenansprüchen zu finden, es ist eines ihrer Schicksalsprobleme, ob dieser Ausgleich durch eine bestimmte Gestaltung der Kultur erreichbar oder ob der Konflikt unversöhnlich ist.



Die Triebsublimierung ist ein besonders hervorstechender Zug der Kulturentwicklung, sie macht es möglich, daß höhere psychische Tätigkeiten, wissenschaftliche, künstlerische, ideologische, eine so bedeutsame Rolle im Kulturleben spielen. Wenn man dem ersten Eindruck nachgibt, ist man versucht zu sagen, die Sublimierung sei überhaupt ein von der Kultur erzwungenes Triebschicksal. Aber man tut besser, sich das noch länger zu überlegen. Drittens endlich, und das scheint das Wichtigste, ist es unmöglich zu übersehen, in welchem Ausmaß die Kultur auf Triebverzicht aufgebaut ist, wie sehr sie gerade die Nichtbefriedigung (Unterdrückung, Verdrängung oder sonst etwas?) von mächtigen Trieben zur Voraussetzung hat. Diese »Kulturversagung« beherrscht das große Gebiet der sozialen Beziehungen der Menschen; wir wissen bereits, sie ist die Ursache der Feindseligkeit, gegen die alle Kulturen zu kämpfen haben.



Man vergleiche vielleicht mit einer Überlegung von Friedrich Nietzsche (Zitat aus „Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten“, 5. Rede; 1872):



Es hat etwas Unheimliches, den Wirkungen nachzudenken, zu denen die gewaltsame Unterdrückung so edler Bedürfnisse führen muß. Wer die gefährlichsten Förderer und Freunde jener von mir so gehaßten Pseudokultur der Gegenwart in der Nähe und mit durchdringendem Auge mustert, findet nur zu häufig gerade unter ihnen solche entartete und entgleiste Bildungsmenschen, durch eine innere Desperation in ein feindseliges Wüthen gegen die Kultur getrieben, zu der ihnen Niemand den Zugang zeigen wollte. Es sind nicht die schlechtesten und die geringsten, die wir dann als Journalisten und Zeitungsschreiber, in der Metamorphose der Verzweiflung, wiederfinden; ja, der Geist gewisser jetzt sehr gepflegter Litteraturgattungen wäre geradezu zu charakterisiren als desperates Studententhum. Wie anders wäre z.B. jenes ehemals wohlbekannte „junge Deutschland“ mit seinem bis zum Augenblick fortwuchernden Epigonenthum zu verstehen! Hier entdecken wir ein gleichsam wildgewordenes Bildungsbedürfniß, welches sich endlich selbst bis zu dem Schrei erhitzt: ich bin die Bildung. Dort, vor den Thoren der Gymnasien und der Universitäten, treibt sich die aus ihm entlaufene und sich nun souverän gebärdende Kultur dieser Anstalten herum, freilich ohne ihre Gelehrsamkeit: so daß z.B. der Romanschreiber Gutzkow am besten als Ebenbild des modernen, bereits litterarischen Gymnasiasten zu fassen wäre.

Es ist eine ernste Sache um einen entarteten Bildungsmenschen: und furchtbar berührt es uns, zu beobachten, daß unsre gesammte gelehrte und journalistische Öffentlichkeit das Zeichen dieser Entartung an sich trägt. Wie will man sonst unseren Gelehrten gerecht werden, wenn sie unverdrossen bei dem Werke der journalistischen Volksverführung zuschauen oder gar mithelfen, wie anders, wenn nicht durch die Annahme, daß ihre Gelehrsamkeit etwas Ähnliches für sie sein möge, was für jene die Romanschreiberei, nämlich eine Flucht vor sich selbst, eine asketische Ertödtung ihres Bildungstriebs, eine desperate Vernichtung des Individuums. Aus unserer entarteten litterarischen Kunst ebensowohl als aus der in’s Unsinnige anschwellenden Buchmacherei unserer Gelehrten quillt der gleiche Seufzer hervor: ach, daß wir uns selbst vergessen könnten! Es gelingt nicht: die Erinnerung, durch ganze Berge darübergeschütteten gedruckten Papiers nicht erstickt, sagt doch von Zeit zu Zeit wieder: „ein entarteter Bildungsmensch! Zur Bildung geboren und zur Unbildung erzogen! Hülfloser Barbar, Sklave des Tages, an die Kette des Augenblicks gelegt und hungernd — ewig hungernd!“

„Der Sklave des Tages“ ist heute ein Sklave der Stunde, ja der Minute geworden, verdrahtet, vernetzt, total kontrolliert und überwacht, sich frei dünkend in der organisierten „Freizeit“, aber durch und durch „betreut“ (erinnert sich wer an das Buch „Aus dem Wörterbuch des Unmenschen“ von Sternberger, Storz und Süskind?), verplant für die Vernutzung. 

Falls jemand eine mittlere oder höhere Schule absolviert hat, wurde ihm nichts vermittelt, was dem früheren Bildungskanon entspricht (Fuhrmann hat das übersichtlich dargelegt). Heute begehren Eltern wie Schüler auf, wenn Forderungen an die Schüler gestellt werden, die über den Spaßmoment hinaus Arbeit bedingen und verlangen. Kürzlich, noch im April 2018, startete ein so gefördertes Wohlstandskind eine Petition, die innert kürzester Zeit die Unterstützung von 30.000 Leidensgenossen fand gegen eine, wie er und die Masse der Überforderten meinten, zu schwierige Abiturprüfung in Englisch.

Abiturprüfung zu schwierig: Rund 30.000 unterschreiben Petition gegen Englisch-Prüfung,
ScienceFiles, 23.4.2018


Baden-Württemberg Schüler starten Petition gegen Englisch-Abi - und sammeln 28.000 Unterschriften.
War das Englisch-Abitur in Baden-Württemberg zu schwer? Mit einer Petition wehren sich Schüler gegen die "unfaire Prüfung" - und finden Tausende Unterstützer.
DER SPIEGEL online, 23.4.2018


Die vermeintliche Überforderung verdeckt eine tieferliegende Intellektuellenfeindlichkeit, eine Abscheu vor dem Denken. Sie korrespondiert auch zum Vereinzelungsgrad einer entfremdeten Gesellschaft, wo Leistung sofort zum Gewinn führen muss, wo man mit geringstem Aufwand höchsten Ertrag (Anerkennung, Preis) zu erzielen vermag. Die Masse, Meute, Plebs der Neuzeit formiert sich in den social media, wo sie in ihren dichten Echokammern sich abschirmen gegen Außen, soweit dieses Außen nicht liefert, was ihren Lustgewinn möglichst direkt erfüllt. 

In einem Aufsatz aus dem Jahr 1960, „Der Mensch in der Wandlung seit der Jahrhundertwende“ von Max Horkheimer heißt es:


Mit dem Schrumpfen der Innerlichkeit entschwindet auch die Freude an der eigenen Entscheidung, an Bildung und Phantasie. Andere Neigungen und Ziele kennzeichnen die Menschen dieser Zeit: technische Geschicklichkeit, Geistesgegenwart, Lust an der Herrschaft über Apparaturen, das Bedürfnis nach Eingliederung, nach Übereinstimmung mit der großen Mehrheit oder einer als Modell gewählten Gruppe, deren Regel an die Stelle eigenen Urteils tritt. Anweisungen, Rezepte, Leitbilder treten anstelle der moralischen Substanz.

Es klingt, als habe er damals schon in einer Voraussicht die blöden, sturen, stumpfen smart phone user gekennzeichnet, dessen Kompetenz des Mediengeräteumgangs von den pervertierten Pädagogen belobigt wird, als ob so eine Kompetenz Bildung sei oder je sein könne. Der entscheidungslose Mensch, nicht unverwandt dem „Mann ohne Eigenschaften“, dem Mitläufer, dem Wendehals, dem infantilen Narziss, giert nach Bestätigung, und die social media liefern sie ihm umstandslos sofort. Das verfestigt die Unbildung und Unkultur.
Proteste von sich überfordert fühlenden Studenten, die heute gendergerecht „Studierende“ genannt werden sollen, auch wenn sie nicht studieren, gab es immer wieder. Die zuständigen Behörden nivellieren zwar dauernd, aber offensichtlich zu gering. Welche Ironie, dass zur gleichen Zeit die weltgrößte Industriemesse in Hannover stattfindet, welche die Kanzlerin stolz eröffnete und von Expertise und Wissen schwätzte, während die Studenten wehleidig jammern und mehr Zeit für ihre Anliegen des „wirklichen Lebens“ wollen. Da liest sich ein Aphorismus von Nietzsche zur „Vernunft in der Schule“ (Menschliches, Allzumenschliches, I/265) ganz anders:


Die Vernunft in der Schule. - Die Schule hat keine wichtigere Aufgabe, als strenges Denken, vorsichtiges Urtheilen, consequentes Schliessen zu lehren: desshalb hat sie von allen Dingen abzusehen, die nicht für diese Operationen tauglich sind, zum Beispiel von der Religion. Sie kann ja darauf rechnen, dass menschliche Unklarheit, Gewöhnung und Bedürfniss später doch wieder den Bogen des allzustraffen Denkens abspannen. Aber so lange ihr Einfluss reicht, soll sie Das erzwingen, was das Wesentliche und Auszeichnende am Menschen ist- "Vernunft und Wissenschaft des Menschen allerhöchste Kraft" - wie wenigstens Goethe urtheilt. - Der grosse Naturforscher von Baer findet die Ueberlegenheit aller Europäer im Vergleich zu Asiaten in der eingeschulten Fähigkeit, dass sie Gründe für Das, was sie glauben, angeben können, wozu Diese aber völlig unfähig sind. Europa ist in die Schule des consequenten und kritischen Denkens gegangen, Asien weiss immer noch nicht zwischen Wahrheit und Dichtung zu unterscheiden und ist sich nicht bewusst, ob seine Ueberzeugungen aus eigener Beobachtung und regelrechtem Denken oder aus Phantasien stammen. – Die Vernunft in der Schule hat Europa zu Europa gemacht: im Mittelalter war es auf dem Wege, wieder zu einem Stück und Anhängsel Asiens zu werden, - also den wissenschaftlichen Sinn, welchen es den Griechen verdankte, einzubüssen.

Wir Europäer afrikanisieren uns, während die von Nietzsche etwas abschätzig bewerteten Chinesen zur bestimmenden Macht werden bzw. geworden sind, nicht zuletzt aufgrund ihres straffen Schul- und Bildungssystems. Kürzlich vernahm ich in einer Doku über chinesische Investitionen in afrikanischen Staaten einen Manager, der die immensen Probleme betonte, die sich den Chinesen stellen, weil es keine kompetenten, ausgebildeten Arbeiter gäbe, keine Effizient, keine annehmbare Produktivität. [Das ist kein wissenschaftlicher Befund, nur eine Überlegung oder Illustration!]

Die Zerstörung des Bildungskanons, die Abkoppelung von der Kulturtradition, die extreme Partikularisierung und Fragmentierung macht nicht nur den Einsatz von immer mehr Schriftgelehrten als Experten nötig als „Erklärer“, sondern lässt auch den Zitatenapparat anschwellen, weil auf fast nichts mehr gebaut werden kann. Manfred Fuhrmann hat dies in seiner erwähnten Schrift so kommentiert:


Die allgemeine Tendenz der Einebnung, von der Mehrheit der Bevölkerung bereitwillig hingenommen, hat nicht nur die Konsumgewohnheiten des Alltags, die der Nahrung oder der Kleidung usw., sondern auch das Freizeitgebaren ergriffen, in dem Sinne, dass selbst die Option für dieses oder jenes „Schema“, für die Hochkultur- oder die Trivialsphäre, weithin auf individueller Wahl beruht.

Die nivellierte Massengesellschaft der Gegenwart unterscheidet sich im Bereich der Bildung hauptsächlich dadurch von der bürgerlichen, der kompetitiven Gesellschaftsform, dass sie sich des humanistischen Gymnasiums und damit der wichtigsten Voraussetzung des Zugangs zum einstigen Kanon entäußert hat.

Die Verdrängung der reinen Bildungsfächer zog bald auch die Beschäftigung mit der muttersprachlichen Literatur in Mitleidenschaft. 


Die bürgerliche Bildung hat hauptsächlich auf dem Studium von Sprachen und der Beschäftigung mit Literatur beruht(…) Der Wegfall der alten Sprachen und Literaturen sowie der festen Lektürelisten im Deutschunterricht hat daher dem bürgerlichen Kanon den Kern genommen(.)


Der bürgerliche Kanon war keine Ansammlung beliebiger, je für sich stehender Bereiche. Er war ein Ganzes, eine Struktur, ein Kosmos; seine Teile hingen miteinander zusammen und waren miteinander verbunden.


Die pädagogische Komponente des Kanons ist großenteils verschwunden, und geblieben ist in der Hauptsache ein Vergnügungspark [= Spaßkultur] von allerlei Kunstgenüssen. (…) Im Übrigen ist man bestrebt, an Ort und Stelle auszugleichen, was das lesende, Theater besuchende oder historische Stätten bereisende Publikum nicht mehr von der Schulbank mitbringt: Die modernen Ausgaben selbst deutscher Klassiker enthalten oft Wort- und Sacherklärungen; die Programmhefte für Schauspiele und Opern bemühen sich, den Besuchern die Sujets und deren künstlerische Formung nahe zu bringen; in den Museen, Schlössern und Kirchen stehen kundige, keineswegs nur auswewndig Gelerntes aufsagende Führer bereit usw. 


Einst waren es wenige, die sich den ganzen Kanon gründlich zu eigen gemacht hatten; jetzt sind es viele, die sich mehr oder weniger oberflächlich auf einen Teil davon einlassen. Dieser Teil aber ist dem heutigen Publikum nicht mehr vollauf aus sich heraus selbst verständlich – daher hat auch bei ihm, wie bei dem anderen Teil, dem Gymnasium, das Prinzip der Allgemeinheit Einbußen erlitten(.) 

Für eine gebildete, fundiert kultivierte Auseinandersetzung fehlt das (Kontext)Wissen; der Zwang zur Andeutung, zum Klischee als Sinnsubstitut gilt als gegeben und unumgänglich: besonders eingepasste Pädagogen, Lehrer und Kulturvermittler sind ja stolz darauf, ihr Publikum, ihre Klientel dort abzuholen, wo sie sich befinden, möglichst ohne jede Barriere (Es gilt Barrierefreiheit!), was die Nivellierung und Anpassung ans Unbedarfte, Ungebildete, bestenfalls Halbgebildete nicht nur nach sich zieht, sondern programmatisch fordert.
George Steiner (* 1929, amerikanischer Literaturwissenschaftler, Philosoph, Kulturkritiker mit langer Lehrtätigkeit in europäischen Ländern), der sich intensiv mit Kultur, Literatur und Bildung auseinandergesetzt hat, schrieb in einem frühen Aufsatz „To civilize our gentlemen“(1965) am Beispiel des Studiums englischer Literatur von denselben Problemen, wie sie Fuhrmann anschnitt. Er führt zu Beginn drei Aspekte an, drei Ausgangsbasen, Annahmen, die er hinterfragt: „We must look there for the assumptions on which faculties of English Litertur were founded.“


The critical, textual, historical study of Greek and Latin literature not only gave precedent and justification for a similar study of the European vulgate; they were foundations on which that study was built.
The second major assumption was nationalism. It is no accident that German philology and Germanic textual criticism coincided with the dynamic rise of the German national consciousness (and let us not forget that it was on the genius of the German scholars that the rest of Europe, England, and America drew so heavily). As Herder, the Grimm brothers, and the whole lineage of German literary teachers and critics were frank to proclaim, the study of one’s own literary past played a vital part in affirming national identity.
The third major body of assumption is even more vital, but I find it difficult to analyze briefly. Perhaps I could put it this way: behind the formation of modern literary analysis, editorial scholarship, and literary history, lies a kind of rational and moral optimism. In its philological and historical methods the field of literary study reflects a large hope, a great positivism, an ideal of being something like a science, and we find this all the way from Auguste Comte to I. A. Richards. 


As footnotes lengthen, as glossaries become more elementary  (right now it might still be ‘Troilus: Trojan hero in love with Cressida, daughter of Calchas, and betrayed by her,’ but in a few years the Iliad itself may require identification), the poetry loses immediate impact. It moves out of any direct line of vision into a place of special learning. This fact marks a very large change in the consensus assumed between poet and public. The world of classical mythology, of historical reference, of scriptural allusion, on which a preponderant part of English and European literature is built from Chaucer to Milton and Dryden, from Tennyson to Eliot’s Sweeney Agonistes, is receding from our natural reach. 

Nietzsche hat aber nicht nur die Chinesen kritisiert oder, sein bevorzugtes Ziel, die Deutschen, sondern auch die Amerikaner, weil sie den Prototyp des entfremdeten Menschen darstellten. Manche seiner Ausführungen klingen wie Steilvorlagen der Kulturkritik nach dem 2. Weltkrieg, und belegen die hohe Sensibilität des Psychologen Nietzsche, der das Gras wachsen hörte, und dessen Urteile Linke wie Rechte beeindruckte und beeinflusste. 


M u s s e  u n d  M ü s s i g g a n g. ‑- Es ist eine indianerhafte, dem Indianer-Blute eigentümliche Wildheit in der Art, wie die Amerikaner nach Gold trachten: und ihre atemlose Hast der Arbeit ‑ das eigentliche Laster der neuen Welt - beginnt bereits durch Ansteckung das alte Europa wild zu machen und eine ganz wunderliche Geistlosigkeit darüber zu breiten. Man schämt sich jetzt schon der Ruhe; das lange Nachsinnen macht beinahe Gewissensbisse. Man denkt mit der Uhr in der Hand, wie man zu Mittag isst, das Auge auf das Börsenblatt gerichtet, ‑ man lebt wie einer, der fortwährend etwas »versäumen könnte«. »Lieber irgend etwas tun als nichts« ‑ auch dieser Grundsatz ist eine Schnur, um aller Bildung und allem höheren Geschmack den Garaus zu machen. Und so wie sichtlich alle Formen an dieser Hast der Arbeitenden zugrundegehn: so geht auch das Gefühl für die Form selber, das Ohr und Auge für die Melodie der Bewegungen zugrunde. Der Beweis dafür liegt in der jetzt überall geforderten  p l u m p e n  D e u t l i c h k e i t, in allen den Lagen, wo der Mensch einmal redlich mit Menschen sein will, im Verkehre mit Freunden, Frauen, Verwandten, Kindern, Lehrern, Schülern, Führern und Fürsten ‑ man hat keine Zeit und keine Kraft mehr für die Zeremonien, für die Verbindlichkeit mit Umwegen, für allen Esprit der Unterhaltung und überhaupt für alles  O t i u m. Denn das Leben auf der Jagd nach Gewinn zwingt fortwährend dazu, seinen Geist bis zur Erschöpfung auszugeben, im beständigen Sich-Verstellen oder Überlisten oder Zuvorkommen: die eigentliche Tugend ist jetzt, etwas in weniger Zeit zu tun als ein anderer. Und so gibt es nur selten Stunden der  e r l a u b t e n  Redlichkeit: in diesen aber ist man müde und möchte sich nicht nur »gehen lassen«, sondern lang und breit und plump sich  h i n s t r e c k e n. Gemäß diesem Hange schreibt man jetzt seine Briefe: deren Stil und Geist immer das eigentliche »Zeichen der Zeit« sein werden. Gibt es noch ein Vergnügen an Gesellschaft und an Künsten, so ist es ein Vergnügen, wie es müde gearbeitete Sklaven sich zurecht machen. Oh über diese Genügsamkeit der »Freude« bei unsern Gebildeten und Ungebildeten! Oh über diese zunehmende Verdächtigung aller Freude! Die  A r b e i t  bekommt immer mehr alles gute Gewissen auf ihre  Seite: der Hang zur Freude nennt sich bereits »Bedürfnis der Erholung« und fängt an sich vor sich selber zu schämen. »Man ist es seiner Gesundheit schuldig« ‑ so redet man, wenn man auf einer Landpartie ertappt wird. Ja es könnte bald so weit kommen, dass man einem Hange zur vita contemplativa (das heißt zum Spazierengehen mit Gedanken und Freunden) nicht ohne Selbstverachtung und schlechtes Gewissen nachgäbe. ‑- Nun! Ehedem war es umgekehrt: die Arbeit hatte das schlechte Gewissen auf sich. Ein Mensch von guter Abkunft  v e r b a r g  seine Arbeit, wenn die Not ihn zum Arbeiten zwang. Der Sklave arbeitete unter dem Druck des Gefühls, dass er etwas Verächtliches tue ‑ das »Tun« selber war etwas Verächtliches. »Die Vornehmheit und die Ehre sind allein bei otium und bellum«: so klang die Stimme des antiken Vorurteils!
Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, 4/329

In der Kulturkritik von Horkheimer & Adorno, die in der Emigration ja selbst Erfahrungen in  den USA sammeln konnten (mussten), finden sich ähnliche Sätze, nur moderner formuliert. Aber auch andere Soziologen, die kritisch Abstand zu halten versuchten, sie nicht einfach kaufen ließen oder aus falsch verstandener Dankbarkeit das neue Paradies nur lobten, sahen die Kehrseiten der Zurichtung des Menschen zum eingepassten Konsumenten. Hier überschneiden sich konservative Kritiken mit den marxistischen, lange bevor Herbert Marcuse oder die Frankfurter Schule sich dazu äußerten. Man denke nur an den Engländer Aldous Huxley, der mit seiner Dystopie „Brave New World“ (1932) das Typische Amerikas als Vorbild und Vormacht behandelte. Später, 1958,  publizierte er „Brave New World Revisited“ sozusagen als update in Form eines Essays. 

Vor diesem Hintergrund, auch eingedenk der Kulturkritik von Ralph Waldo Emerson bzw. Henry David Thoreau werden die Sätze von Nietzsche noch bedeutsamer.


Klagelied. — Es sind vielleicht die Vorzüge unserer Zeiten, welche ein Zurücktreten und eine gelegentliche Unterschätzung der vita contemplativa mit sich bringen. Aber eingestehen muss man es sich, dass unsere Zeit arm ist an grossen Moralisten, dass Pascal, Epictet, Seneca, Plutarch wenig noch gelesen werden, dass Arbeit und Fleiss — sonst im Gefolge der grossen Göttin Gesundheit — mitunter wie eine Krankheit zu wüthen scheinen. Weil Zeit zum Denken und Ruhe im Denken fehlt, so erwägt man abweichende Ansichten nicht mehr: man begnügt sich, sie zu hassen. Bei der ungeheuren Beschleunigung des Lebens wird Geist und Auge an ein halbes oder falsches Sehen und Urtheilen gewöhnt, und Jedermann gleicht den Reisenden, welche Land und Volk von der Eisenbahn aus kennen lernen. Selbständige und vorsichtige Haltung der Erkenntniss schätzt man beinahe als eine Art Verrücktheit ab, der Freigeist ist in Verruf gebracht, namentlich durch Gelehrte, welche an seiner Kunst, die Dinge zu betrachten, ihre Gründlichkeit und ihren Ameisenfleiss vermissen und ihn gern in einen einzelnen Winkel der Wissenschaft bannen möchten: während er die ganz andere und höhere Aufgabe hat, von einem einsam gelegenen Standorte aus den ganzen Heerbann der wissenschaftlichen und gelehrten Menschen zu befehligen und ihnen die Wege und Ziele der Cultur zu zeigen. — Eine solche Klage, wie die eben abgesungene, wird wahrscheinlich ihre Zeit haben und von selber einmal, bei einer gewaltigen Rückkehr des Genius’ der Meditation, verstummen. Nietzsche, MA-I-V-282

Hier wird die Kritik am Utilitarismus, dem extremen Nutzendenken, der instrumentalisierenden Quantifizierung, der falschen Hochwertung falscher Arbeit („Arbeit macht frei“ galt als Programm für die vielen Einwanderer, die sich bereitwillig prostituierten, um am „Aufstieg“, am „Erfolg“ teilhaben zu können.) Wie die Geschichte gezeigt hat und zeigt, führte dies nur zu infameren, verfeinerten Ausbeuteverhältnissen, die für ihre Perpetuierung ein Heer von Spezialisten, Psychoanalytikern, Coaches, Trainer und dergleichen beschäftigt, um den Apparat profitabel am Laufen zu halten. 

Zurück zu Freud und seinen zitierten Aufsatz. Im Abschnitt V hießt es unter anderem:


Das gern verleugnete Stück Wirklichkeit hinter alledem ist, daß der Mensch nicht ein sanftes, liebebedürftiges Wesen ist, das sich höchstens, wenn angegriffen, auch zu verteidigen vermag, sondern daß er zu seinen Triebbegabungen auch einen mächtigen Anteil von Aggressionsneigung rechnen darf. Infolgedessen ist ihm der Nächste nicht nur möglicher Helfer und Sexualobjekt, sondern auch eine Versuchung, seine Aggression an ihm zu befriedigen, seine Arbeitskraft ohne Entschädigung auszunützen, ihn ohne seine Einwilligung sexuell zu gebrauchen, sich in den Besitz seiner Habe zu setzen, ihn zu demütigen, ihm Schmerzen zu bereiten, zu martern und zu töten. Homo homini lupus; wer hat nach allen Erfahrungen des Lebens und der Geschichte den Mut, diesen Satz zu bestreiten?

Das ist eine klare Absage an den Schwärmer Jean-Jacques Rousseau, der vom Gegenteil ausging und viel Leid und Unheil verbreitete.


Die Kommunisten glauben den Weg zur Erlösung vom Übel gefunden zu haben. Der Mensch ist eindeutig gut, seinem Nächsten wohlgesinnt, aber die Einrichtung des privaten Eigentums hat seine Natur verdorben. Besitz an privaten Gütern gibt dem einen die Macht und damit die Versuchung, den Nächsten zu mißhandeln; der vom Besitz Ausgeschlossene muß sich in Feind­seligkeit gegen den Unterdrücker auflehnen. Wenn man das Privateigentum aufhebt, alle Güter gemeinsam macht und alle Menschen an deren Genuß teilnehmen läßt, werden Übelwollen und Feindseligkeit unter den Menschen verschwinden. Da alle Bedürfnisse befriedigt sind, wird keiner Grund haben, in dem anderen seinen Feind zu sehen; der notwendigen Arbeit werden sich alle bereitwillig unterziehen.

Freud enthält sich einer Bewertung oder Beurteilung des kommunistischen Konzepts. Wir haben die historischen Daten und wissen, wie barbarisch dieser als Kommunismus sich gebende Linksfaschismus war, der Abermillionen von Existenzen vernichtete. Was Freud zum Antisemitismus der Nazis anführt, überträgt er auch auf die Bolschewiki; wir müssen es  allerdings auch auf das China Mao Zedongs übertragen, um annähernd das Ausmaß der Barbarei ermessen zu können. 

Im nächsten Paragraph notiert Freud eine bedeutsame Beobachtung:


Es wird den Menschen offenbar nicht leicht, auf die Befriedigung dieser ihrer Aggressionsneigung zu verzichten; sie fühlen sich nicht wohl dabei. Der Vorteil eines kleineren Kulturkreises, daß er dem Trieb einen Ausweg an der Befeindung der Außenstehenden gestattet, ist nicht geringzuschätzen. Es ist immer möglich, eine größere Menge von Menschen in Liebe aneinander zu binden, wenn nur andere für die Äußerung der Aggression übrigbleiben. Ich habe mich einmal mit dem Phänomen beschäftigt, daß gerade benachbarte und einander auch sonst nahestehende Gemeinschaften sich gegenseitig befehden und verspotten, so Spanier und Portugiesen, Nord- und Süddeutsche, Engländer und Schotten usw. Ich gab ihm den Namen »Narzißmus der kleinen Differenzen«, der nicht viel zur Erklärung beiträgt. Man erkennt nun darin eine bequeme und relativ harmlose Befriedigung der Aggressionsneigung, durch die den Mitgliedern der Gemeinschaft das Zusammenhalten erleichtert wird. Das überallhin versprengte Volk der Juden hat sich in dieser Weise anerkennenswerte Verdienste um die Kulturen seiner Wirtsvölker erworben; leider haben alle Judengemetzel des Mittelalters nicht ausgereicht, dieses Zeitalter friedlicher und sicherer für seine christlichen Genossen zu gestalten. Nachdem der Apostel Paulus die allgemeine Menschenliebe zum Fundament seiner christlichen Gemeinde gemacht hatte, war die äußerste Intoleranz des Christentums gegen die draußen Verbliebenen eine unvermeidliche Folge geworden; den Römern, die ihr staatliches Gemeinwesen nicht auf die Liebe begründet hatten, war religiöse Unduldsamkeit fremd gewesen, obwohl die Religion bei ihnen Sache des Staates und der Staat von Religion durchtränkt war. Es war auch kein unverständlicher Zufall, daß der Traum einer germanischen Weltherrschaft zu seiner Ergänzung den Antisemitismus aufrief, und man erkennt es als begreiflich, daß der Versuch, eine neue kommunistische Kultur in Rußland aufzurichten, in der Verfolgung der Bourgeois seine psychologische Unterstützung findet. Man fragt sich nur besorgt, was die Sowjets anfangen werden, nachdem sie ihre Bourgeois ausgerottet haben.

Man muss sich aber auch Fragen, was die Nazis nach der erfolgreichen Endlösung gemacht hätten, machen hätten können. Wer hätte als Feind herhalten müssen? Denn Feindschaft und Kriegsorientierung waren ein Wesensmerkmal der Nazis wie der Bolschewiki, und, kultürlich, der Amerikaner. Wer gibt den Sündenbock ab, wenn keine Juden mehr dafür da sind, keine Moslems, keine Bourgeois oder keine Neger (Schwarze respektive „colored people“)?


Der Urmensch hatte es in der Tat darin besser, da er keine Triebeinschränkungen kannte. Zum Ausgleich war seine Sicherheit, solches Glück lange zu genießen, eine sehr geringe. Der Kulturmensch hat für ein Stück Glücksmöglichkeit ein Stück Sicherheit eingetauscht.

Das alte Dilemma: Freiheit = Unsicherheit, Sicherheit = eingeschränkte Freiheit. Der Begriff „Freiheit“ müsste in sinnvoller Kommunikation erst näher bestimmt werden, soll Vorbeireden oder Klischeegeraspel vermieden werden. 

Kultur ist nur durch Beschränkung der Freiheit des Einzelnen zu gewinnen. Jede Zivilisierung stellt ein Korsett dar. Aber ohne Korsett hätten wir keine Gemeinschaft und Gesellschaft, blieben tierhaft am Boden und könnten den Ängste noch weniger begegnen, als in der zivilisierten Gesellschaft. Angst und Schuld bzw. Schuldgefühle dominieren. Wir leben nicht im Paradies und haben nur die Chance, über eine möglichst humane Kultivierung unsere Schuldgefühle und Ängste wenn schon nicht zu lösen, so doch unter Kontrolle zu bringen, in Zaum zu halten. Freud sagt es so:


Wir können uns also erst bei der Aussage beruhigen, der Kulturprozeß sei jene Modifikation des Lebensprozesses, die er unter dem Einfluß einer vom Eros gestellten, von der Ananke, der realen Not angeregten Aufgabe erfährt, und diese Aufgabe ist die Vereinigung vereinzelter Menschen zu einer unter sich libidinös verbundenen Gemeinschaft. Fassen wir aber die Beziehung zwischen dem Kulturprozeß der Menschheit und dem Entwicklungs- oder Erziehungsprozeß des einzelnen Menschen ins Auge, so werden wir uns ohne viel Schwanken dafür entscheiden, daß die beiden sehr ähnlicher Natur sind, wenn nicht überhaupt derselbe Vorgang an andersartigen Objekten. Der Kulturprozeß der Menschenart ist natürlich eine Abstraktion von höherer Ordnung als die Entwicklung des Einzelnen, darum schwerer anschaulich zu erfassen, und die Aufspürung von Analogien soll nicht zwanghaft übertrieben werden; aber bei der Gleichartigkeit der Ziele — hier die Einreihung eines Einzelnen in eine menschliche Masse, dort die Herstellung einer Masseneinheit aus vielen Einzelnen — kann die Ähnlichkeit der dazu verwendeten Mittel und der zustande kommenden Phänomene nicht überraschen.

Das Kultur-Über-Ich hat seine Ideale ausgebildet und erhebt seine Forderungen. Unter den letzteren werden die, welche die Beziehungen der Menschen zueinander betreffen, als Ethik zusammengefaßt. Zu allen Zeiten wurde auf diese Ethik der größte Wert gelegt, als ob man gerade von ihr besonders wichtige Leistungen erwartete. Und wirklich wendet sich die Ethik jenem Punkt zu, der als die wundeste Stelle jeder Kultur leicht kenntlich ist. Die Ethik ist also als ein therapeutischer Versuch aufzufassen, als Bemühung, durch ein Gebot des Über-Ichs zu erreichen, was bisher durch sonstige Kulturarbeit nicht zu erreichen war. Wir wissen bereits, es fragt sich hier darum, wie das größte Hindernis der Kultur, die konstitutionelle Neigung der Menschen zur Aggression gegeneinander, wegzuräumen ist, und gerade darum wird uns das wahrscheinlich jüngste der kulturellen Uber-Ich-Gebote besonders interessant, das Gebot: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.« 

Freud beendet seinen Essay pessimistisch und illusionslos bescheiden:


Eine Wertung der menschlichen Kultur zu geben liegt mir aus den ver­schiedensten Motiven sehr ferne. Ich habe mich bemüht, das enthusiastische Vorurteil von mir abzuhalten, unsere Kultur sei das Kostbarste, was wir besitzen oder erwerben können und ihr Weg müsse uns notwendigerweise zu Höhen ungeahnter Vollkommenheit führen.


Meine Unparteilichkeit wird mir dadurch leicht, daß ich über all diese Dinge sehr wenig weiß, mit Sicherheit nur das eine, daß die Werturteile der Menschen unbedingt von ihren Glückswünschen geleitet werden, also ein Versuch sind, ihre Illusionen mit Argumenten zu stützen.


So sinkt mir der Mut, vor meinen Mitmenschen als Prophet aufzustehen, und ich beuge mich ihrem Vorwurf, daß ich ihnen keinen Trost zu bringen weiß, denn das verlangen sie im Grunde alle, die wildesten Revolutionäre nicht weniger leidenschaftlich als die bravsten Frommgläubigen.

Wir sind in den Überlegung zum Begriff der Bildung weite Umwege gegangen; ich hoffe aber, nicht über Gebühr wegführend, sondern ausweitend. 

Ich möchte mich zum Abschluss dem prominentesten Vertreter der Frankfurter Schule, Theodor W. Adorno zuwenden, weil er schon während des 2. Weltkrieges im amerikanischen Exil die Auswüchse der Kulturindustrie studiert und kritisiert hat, und nach seiner Rückkehr nach Deutschland hellwach, scharf und klar seine Kulturkritik (neben seinen philosophischen, soziologischen und musikwissenschaftlichen Arbeiten) formuliert hat. Zu seiner Zeit gab es noch kein Internet, noch keine asozialen „social media“; der Verdummungsgrad war hoch, aber im Vergleich zur Gegenwart viel geringer, da doch Kritiken aus verschiedenen Lagern geäußert wurden, was heute kaum mehr der Fall ist: die Gleichschaltung hat sich vom früher verordneten Zwang privatisiert und verinnerlicht. Obwohl er und seine Kollegen sich also nicht zu Zuständen äußern konnten, die uns heute bestimmen, haben sie doch feinnervig und hellsichtig Tendenzen erkannt und mögliche Entwicklungen visioniert, weil sie den Kern der Ausbeutegesellschaft, des organisierten Betrugs durchleuchteten. Seine Sätze zum Fernsehen („Prolog zum Fernsehen“ und „Fernsehen als Ideologie“, beide 1953) widerspiegeln  z. B. eine Einschätzung, die sich folgerichtig ans den heutigen Massenmedien und social media ablesen lässt, falls man des Lesens kundig ist. Das Gleiche gilt von seinen Beobachtungen des Bildungswesens und der Erziehung. Drei Aufsätze möchte ich dabei hervorheben: Theorie der Halbbildung (1959), „Tabus über dem Lehrberuf“ (1965) und „Erziehung nach Auschwitz“ (1967). Diese Aufsätze sind auch in preisgünstigen Taschenbüchern im Suhrkamp Verlag erschienen. 

Adorno geht in seinem Aufsatz „Notiz über Geisteswissenschaft und Bildung“ (1972) zuerst auf den Unterschied von Bildung und Ausbildung ein und führt dann seine Kritik an einem falsch verstandenen Bildungsideal von Wissenschaft aus.


Unter den Aspekten der gegenwärtigen Universität, denen gegenüber der Ausdruck Krise mehr ist als bloße Phrase, möchte ich einen hervorheben, den ich gewiß nicht entdeckt habe, der jedoch in der öffentlichen Diskussion kaum die genügende Aufmerksamkeit fand. Er hängt zusammen mit jenem Komplex, der als Divergenz von Bildung und fachlicher Schulung bekannt ist, deckt sich aber keineswegs damit.

Er gilt der Frage, ob der Universität heute Bildung dort noch gelinge, wo sie nach Thematik und Tradition an deren Begriff festhält, also in den sogenannten Geisteswissenschaften; ob im allgemeinen der Akademiker durch deren Studium überhaupt noch jene Art geistiger Erfahrung gewinnen kann, die vom Begriff Bildung gemeint war, und die im Sinn der Gegenstände selber liegt, mit denen er sich befaßt. Vieles spricht dafür, daß von eben dem Begriff der Wissenschaft, wie er nach dem Verfall der großen Philosophie aufkam und seitdem eine Art Monopol erlangte, jene Bildung unterhöhlt wird, welche er kraft des Monopols beansprucht.



Die Funktion des Wissenschaftsbegriffs ist umgeschlagen. Die vielberufene methodische Sauberkeit, allgemeine Kontrollierbarkeit, der Consensus der zuständigen Gelehrten, die Belegbarkeit aller Behauptungen, selbst die logische Stringenz der Gedankengänge ist nicht Geist: das Kriterium des Hieb- und Stichfesten wirkt jenem immer zugleich auch entgegen. Wo der Konflikt gegen die unreglementierte Einsicht entschieden ist, kann es zur Subjekt und Objekt gar nicht kommen, den man im Humboldtschen Zeitalter konzipierte. Organisierte Geisteswissenschaft ist Bestandsaufnahme und Reflexionsform des Geistes eher als dessen eigenes Leben; als Unähnliches will sie ihn erkennen und erhebt die Unähnlichkeit zur Maxime. Setzt sie sich aber an seine Stelle, so verschwindet er, auch in der Wissenschaft selbst. Das geschieht, sobald Wissenschaft als einziges Organon von Bildung sich betrachtet, und die Einrichtung der Gesellschaft sanktioniert kein anderes. Zur Intoleranz gegen den Geist, der ihr nicht gleicht, neigt Wissenschaft offenbar um so mehr, pocht um so mehr auf ihr Privileg, je tiefer sie ahnt, daß sie das nicht gewährt, was sie verspricht.



Die Verdinglichung des Bewußtseins, die Verfügung über seine eingeschliffenen Apparaturen schiebt sich vielfach vor die Gegenstände und verhindert die Bildung, die eins wäre mit dem Widerstand gegen Verdinglichung.



Der philosophisch dubiose Kultus der Ursprünglichkeit, der von der Heideggerschen Schule betrieben wird, hätte schwerlich die geisteswissenschaftliche Jugend so sehr fasziniert, käme er nicht auch einem wahrhaften Bedürfnis entgegen.



Indem jedoch der gesellschaftliche Prozeß verkannt wird, der das Denken verdinglicht, machen sie Ursprünglichkeit selbst wiederum zu einer Branche, zur angeblich radikalen und eben darum spezialistischen Frage. Was das verdinglichte wissenschaftliche Bewußtsein anstelle der Sache begehrt, ist aber ein Gesellschaftliches: Deckung durch den institutionellen Wissenschaftszweig, auf welchen jenes Bewußtsein als einzige Instanz sich beruft, sobald man es wagt, an das sie zu mahnen, was sie vergessen. Das ist der implizite Konformismus der Geisteswissenschaft.



Zwischen Geist und Wissenschaft lagert sich ein Vakuum. Nicht nur die Fachausbildung, sondern auch Bildung selber bildet nicht mehr. Sie polarisiert sich nach den Momenten des Methodischen und des Informatorischen.

Soweit Adorno. Wenn er die akademische Bildung schon so düster sah, wie wertet er die Allgemeinbildung, die herrschende Halbbildung? Hier eine Auswahl von Sätzen aus seinem bedeutsamen Essay, der nach eigener, genauer Lektüre verlangt:


Was heute als Bildungskrise offenbar wird, ist weder bloß Gegenstand der pädagogischen Fachdisziplin, die unmittelbar damit sich zu befassen hat, noch von einer Bindestrichsoziologie – eben der der Bildung – zu bewältigen. Die allerorten bemerkbaren Symptome des Verfalls von Bildung, auch in der Schicht der Gebildeten selber, erschöpfen sich nicht in den nun bereits seit Generationen bemängelten Unzulänglichkeiten des Erziehungssystems und der Erziehungsmethoden. Isolierte pädagogische Reformen allein, wie unumgänglich auch immer, helfen nicht. Zuweilen mögen sie, im Nachlassen des geistigen Anspruchs an die zu Erziehenden, auch in argloser Unbekümmertheit gegenüber der Macht der außerpädagogischen Realität über jene, eher die Krise verstärken.


Sie ist zu sozialisierter Halbbildung geworden, der Allgegenwart des entfremdeten Geistes. Nach Genesis und Sinn geht sie nicht der Bildung voran, sondern folgt auf sie. Alles ist darin von den Maschen der Vergesellschaftung eingefangen, nichts mehr ungeformte Natur; deren Roheit aber, das alte Unwahre, erhält zäh sich am Leben und reproduziert sich erweitert. Inbegriff eines der Selbstbestimmung entäußerten Bewußtseins, klammert sie sich unabdingbar an approbierte Kulturelemente. Aber unter ihrem Bann gravitieren sie, als Verwesende, zum Barbarischen.


Daß Halbbildung, aller Aufklärung und verbreiteten Information zum Trotz und mit ihrer Hilfe, zur herrschenden Form des gegenwärtigen Bewußtseins wird – eben das erheischt weiter ausgreifende Theorie.


Denn Bildung ist nichts anderes als Kultur nach der Seite ihrer subjektiven Zueignung. Kultur aber hat Doppelcharakter. 


Bildung, welche davon absieht, sich selbst setzt und verabsolutiert, ist schon Halbbildung geworden. 


Vermöge des Drucks, den sie [die Anpassung] auf die Menschen ausübt, perpetuiert sie in diesen das Ungestalte, das sie geformt zu haben wähnt, die Aggression. Das ist, nach Freuds Einsicht, der Grund des Unbehagens in der Kultur.


Bildung sollte sein, was dem freien, im eigenen Bewußtsein gründenden, aber in der Gesellschaft fortwirkenden und seine Triebe sublimierenden Individuum rein als dessen eigener Geist zukäme. Sie galt stillschweigend als Bedingung einer autonomen Gesellschaft: je heller die Einzelnen, desto erhellter das Ganze.


Je weniger die gesellschaftlichen Verhältnisse, zumal die ökonomischen Differenzen dies Versprechen einlösen, um so strenger wird der Gedanke an die Zweckbeziehung von Bildung verpönt. Nicht darf an die Wunde gerührt werden, daß Bildung allein die vernünftige Gesellschaft nicht garantiert. Man verbeißt sich in die von Anbeginn trügende Hoffnung, jene könne von sich aus den Menschen geben, was die Realität ihnen versagt. Der Traum der Bildung, Freiheit vom Diktat der Mittel, der sturen und kargen Nützlichkeit, wird verfälscht zur Apologie der Welt, die nach jenem Diktat eingerichtet ist. Im Bildungsideal, das die Kultur absolut setzt, schlägt die Fragwürdigkeit von Kultur durch.


Versuche zur pädagogischen Abhilfe mißrieten zur Karikatur. Alle sogenannte Volksbildung – mittlerweile ist man hellhörig genug, das Wort zu umgehen – krankte an dem Wahn, den gesellschaftlich diktierten Ausschluß des Proletariats von der Bildung durch die bloße Bildung revozieren zu können.


Aber der Widerspruch zwischen Bildung und Gesellschaft resultiert nicht einfach in Unbildung alten Stils, der bäuerlichen. Eher sind die ländlichen Bezirke heute Brutstätten von Halbbildung. Dort ist, nicht zuletzt dank der Massenmedien Radio und Fernsehen, die vorbürgerliche, wesentlich an der traditionellen Religion haftende Vorstellungswelt jäh zerbrochen. Sie wird verdrängt vom Geist der Kulturindustrie; das Apriori des eigentlich bürgerlichen Bildungsbegriffs jedoch, die Autonomie, hat keine Zeit gehabt, sich zu formieren. Das Bewußtsein geht unmittelbar von einer zur anderen Heteronomie über; anstelle der Autorität der Bibel tritt die des Sportplatzes, des Fernsehens und der »Wahren Geschichten«, die auf den Anspruch des Buchstäblichen, der Tatsächlichkeit diesseits der produktiven Einbildungskraft sich stützt. 


Im Klima der Halbbildung überdauern die warenhaft verdinglichten Sachgehalte von Bildung auf Kosten ihres Wahrheitsgehalts und ihrer lebendigen Beziehung zu lebendigen Subjekten.


 Die Kulturindustrie im weitesten Umfang jedoch, all das, was der Jargon als Massenmedien bestätigend einordnet, verewigt jenen Zustand, indem sie ihn ausbeutet, eingestandenermaßen Kultur für jene, welche die Kultur von sich stieß, Integration des gleichwohl weiter Nichtintegrierten. Halbbildung ist ihr Geist, der mißlungener Identifikation. 


Die gegenwärtig in Wahrheit wirksamen Leitbilder sind das Konglomerat der ideologischen Vorstellungen, die in den Subjekten sich zwischen diese und die Realität schieben und die Realität filtern. Sie sind affektiv derart besetzt, daß sie nicht ohne weiteres von der ratio weggeräumt werden können. Halbbildung faßt sie zusammen. Unbildung, als bloße Naivetät, bloßes Nichtwissen, gestattete ein unmittelbares Verhältnis zu den Objekten und konnte zum kritischen Bewußtsein gesteigert werden kraft ihres Potentials von Skepsis, Witz und Ironie – Eigenschaften, die im nicht ganz Domestizierten gedeihen. Der Halbbildung will das nicht glücken. 


Der Sozialcharakter, den man mit einem selber höchst anrüchigen Wort auf deutsch geistiger Mensch nennt, stirbt aus. Der vermeintliche Realismus jedoch, der ihn beerbt, ist nicht näher zu den Sachen, sondern lediglich bereit, unter Verzicht auf toil and trouble, die geistige Existenz komfortabel einzurichten und zu schlucken, was in ihn hineingestopft wird. Weil kaum mehr ein Junge sich träumt, einmal ein großer Dichter oder Komponist zu werden, darum gibt es wahrscheinlich, übertreibend gesagt, unter den Erwachsenen keine großen ökonomischen Theoretiker, am Ende keine wahrhafte politische Spontaneität mehr.


Geist wird davon affiziert, daß er und seine Objektivation als Bildung überhaupt nicht mehr erwartet werden, damit einer gesellschaftlich sich ausweise. Das allbeliebte Desiderat einer Bildung, die durch Examina gewährleistet, womöglich getestet werden kann, ist bloß noch der Schatten jener Erwartung. Die sich selbst zur Norm, zur Qualifikation gewordene, kontrollierbare Bildung ist als solche so wenig mehr eine wie die zum Geschwätz des Verkäufers degenerierte Allgemeinbildung.

In Amerika, dem bürgerlich fortgeschrittensten Land, hinter dem die anderen herhinken, läßt Bilderlosigkeit des Daseins als gesellschaftliche Bedingung universaler Halbbildung kraß sich beobachten.


Halbbildung beschränkt sich längst nicht mehr bloß auf den Geist, sondern entstellt das sinnliche Leben. Sie antwortet auf die psychodynamische Frage, wie das Subjekt es unter einer selber schließlich irrationalen Rationalität aushalten könne.

So wie der Sozialcharakter des Handlungsangestellten, des Kommis alten Stils, mittlerweile als Angestelltenkultur überwuchert – noch bei Karl Kraus, der die Ursprünge dieses Prozesses verfolgte, ist von der ästhetischen Diktatur des Kommis die Rede –, so haben die ehrwürdigen Profitmotive der Bildung wie Schimmelpilze die gesamte Kultur überzogen. Daß sie das von ihr Abweichende kaum mehr durchläßt, einzig dies Totalitäre ist am neuen Zustand das Neue. 


Zugleich aber wächst mit dem Lebensstandard der Bildungsanspruch als Wunsch, zu einer Oberschicht gerechnet zu werden, von der man ohnehin subjektiv weniger stets sich unterscheidet. Als Antwort darauf werden immense Schichten ermutigt, Bildung zu prätendieren, die sie nicht haben. Was früher einmal dem Protzen und dem nouveau riche vorbehalten war, ist Volksgeist geworden. Ein großer Sektor der kulturindustriellen Produktion lebt davon und erzeugt selbst wiederum das halbgebildete Bedürfnis; die Romanbiographien, die über Bildungstatsachen berichten und gleichzeitig billige und nichtige Identifikationen bewirken; der Ausverkauf ganzer Wissenschaften wie der Archäologie oder Bakteriologie, der sie in grobe Reizmittel verfälscht und dem Leser einredet, er sei au courant. 

[Heute haben sensationsgeile Filme als "Infotainment" diese Rolle übernommen: "History" und '"Universum" z. B. sind solche Häppchen, die die Halbgebildeten munter unterhalten.] 


Die Dummheit, mit welcher der Kulturmarkt rechnet, wird durch diesen reproduziert und verstärkt. Frisch-fröhliche Verbreitung von Bildung unter den herrschenden Bedingungen ist unmittelbar eins mit ihrer Vernichtung.


Halbbildung siedelt parasitär im cultural lag sich an. Daß Technik und höherer Lebensstandard ohne weiteres der Bildung dadurch zugute komme, daß alle von Kulturellem erreicht werden, ist pseudodemokratische Verkäuferideologie – »Music goes into mass production« –, und sie wird es darum nicht weniger, weil man den, der an ihr zweifelt, snobistisch schilt.


Das Halbverstandene und Halberfahrene ist nicht die Vorstufe der Bildung sondern ihr Todfeind: Bildungselemente, die ins Bewußtsein geraten, ohne in dessen Kontinuität eingeschmolzen zu werden, verwandeln sich in böse Giftstoffe, tendenziell in Aberglauben, selbst wenn sie an sich den Aberglauben kritisieren (.)


In Amerika existiert ein außerordentlich verbreitetes Buch, »Great Symphonies«, von Sigmund Spaeth. Es ist hemmungslos auf ein halbgebildetes Bedürfnis zugeschnitten: das, dadurch sich als kultiviert auszuweisen, daß man die im Musikbetrieb ohnehin unausweichlichen Standardwerke der symphonischen Literatur sofort erkennen kann. 


An dieser Explosion von Barbarei, die sicherlich das musikalische Bewußtsein von Millionen von Menschen beschädigt hat, läßt viel auch über die diskretere mittlere Halbbildung sich lernen. Die idiotischen Sätze, die da gesungen werden, haben mit dem Gehalt der Werke nichts zu tun, sondern saugen sich wie Blutegel an deren Erfolg fest, bündige Zeugnisse des Fetischismus der Halbbildung im Verhältnis zu ihren Gegenständen. Die Objektivität des Kunstwerks wird verfälscht durch Personalisierung: ein stürmischer Satz, der zu einer lyrischen Episode sich beruhigt, wäre danach ein Porträt Tschaikowskys.


Die Attitüde, in der Halbbildung und kollektiver Narzißmus sich vereinen, ist die des Verfügens, Mitredens, als Fachmann sich Gebärdens, Dazu-Gehörens. Die Phänomenologie der Sprache in der verwalteten Welt, die Karl Korn jüngst entworfen hat, zumal die »Sprache des Angebers«, ist geradezu die Ontologie von Halbbildung, und die sprachlichen Monstrositäten, die er interpretierte, sind die Male der mißlungenen Identifikation mit dem objektiven Geist an diesem. Um überhaupt noch den Anforderungen zu genügen, welche die Gesellschaft an die Menschen richtet, reduziert Bildung sich auf die Kennmarke gesellschaftlicher Immanenz und Integriertheit und wird unverhohlen sich selber ein Tauschbares, Verwertbares.


Der Halbgebildete betreibt Selbsterhaltung ohne Selbst.

Diese lange Aneinanderreihung von Textstellen ersetzt nicht die gesamte Lektüre, sie soll vorderhand nur einen Überblick verschaffen und stellt eine Einladung dar, sich selbst in den Stoff zu vertiefen. Wie vorher schon erwähnt, sind Adornos Ausführungen zum Fernsehen vor allem deshalb so interessant, weil sie schon früh ideologische Strukturen erkannten, die sich heute mit den social media noch extremer herausgebildet haben. Ich empfehle, um den Beitrag hier nicht weiter aufzublähen, ihre Lektüre (Informationen zu den einzelnen Ausgaben bzw. zu Adornos Gesammelten Schriften sind leicht im Internet zu finden). Die zwei Essays von Adorno, die ich eingangs erwähnte, Tabus über dem Lehrberuf“ und, ganz besonders, „Erziehung nach Auschwitz“ empfehle ich als „Pflichtlektüre“. Sie sind Augenöffner und Anreger sowie fundierte Kritik und Warnung in einem.

 


 

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