Samstag, 4. November 2017

Hoffnungslos heiter



Eine kurze Geschichte von Louis Christian Wolff:

Im Salon lastet die Leere. Keiner der Gäste merkt die Schwere. Das Wetter ist vergessen. Der Lärm prallt ab an den schmutzigen Scheiben. Es ist Abend. Reklamelichter zeugen vom prosperierenden, trubeligen Leben. Niemand spaziert. Keiner schlendert. Es wird nicht herumgelungert oder sinnlos dagestanden. Auch wankt niemand betrunken. Keine fetten Männer halten ihre Säcke oder glotzen blöde, wie sonst. Die plärrenden Kinder sind verstummt, wie die Tauben, die heute nicht mehr scheißen. Der Salon ist eine Insel im vergifteten Ozean des Alltags. Er ist Teil davon, aber dennoch anders. Kein Bunker, trotzdem ein Schutzraum. Angepasst an die Um- und Abstände. Das alles ist verständlich der oder dem, die Kenntnis haben. Die nicht blind sind. Die deshalb sich in die Insel retteten. Denn diese Insel ist innen und nicht auf. Hier rettet sich niemand rauf und drauf sondern drein und rein.

Gleich schaltet jemand das Licht an. Die Bilder werden hochkommen, von damals, im Garten, bei Oma und Opa. Es war zwar bei Urgroßmutter und Urgroßvater, aber alles Frühere, Alte ist Oma. Und Opa.

Anneliese ist jemand. Sie kippte den Schalter. Es ward Licht.

Die Stille brach ab. "Ton ab", das heißt, Ton an: Die Große Fuge in B-Dur, opus 133 von Beethoven. Das herausragende späte Streichquartett. Nicht nur Anneliese wusste: "Beethovens Streichquartette, und hier insbesondere die späten, sind wohl das Großartigste und Ergreifendste, was je für diese Gattung geschrieben wurde. Die späten Quartette stehen mit ihrer tiefgründigen Einmaligkeit geradezu wie ein Monolith in der abendländischen Kulturlandschaft." (Michael Denhoff) Die späten Klänge zur späten Stunde hüllten die Bilder nicht sanft, sondern rhythmisch ein. Die andere Welt war hereingebrochen.

Die kitschige Wunscherotik der Plüschkultivierten erzählte von den vergeblichen Sehnsüchten. Gartenkultur bei Opa. Mit der Oma und ihrer Freundin. Oma hatte sich dargeboten, ihrem Opa. Sie, Anneliese, würde das nie machen. Oma hatte sich hingegeben. War sie erfüllt worden? Beider Leben war hart. Opa hat sich nie nackt fotografieren lassen. Aber Oma. Hingabe. Gab Anneliese sich hin? Wem? Nicht einmal sich selbst. Obwohl sie in keiner Plüschkultur mehr lebte. Aber Wunscherotik hatte sie immer noch. Ihre Wunscherotik. Ohne Park. Ohne Beethoven. Die alte Musik störte befremdlich. Sie war den Lärm gewöhnt, die harten, pochenden Rhythmen. Die einfachen Muster. The easy listening. Doch heute war es still draußen. Tödlich still. Sie vermisste die Geräuschkulisse. Ludwig störte, weil er den Klangraum füllte. Beanspruchte. Sich mit den Bildern verband, sie wusste nicht warum. Opa hatte Operetten gehört und Oma gar nichts. Sie hatte keine Zeit dazu. Alles war falsch. Ludwig und Oma, das ging nicht.

Anneliese blickte aus dem schmutzigen Fenster. Wie hinter einem Gazevorhang sah sie ganz, ganz langsam einen leeren Autobus vorbeifahren. Es war ein Rollen. Die Omabilder verwandelten sich in eine Szene von Magritte. Anneliese musste husten. Sie wusste nicht, was zu erwarten. Es war hoffnungslos heiter.

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