Der Schatz der deutschen Prosa. -
Wenn man von Goethe's Schriften absieht und namentlich von Goethe's Unterhaltungen mit Eckermann, dem besten deutschen Buche, das es giebt: was bleibt eigentlich von der deutschen Prosa-Literatur übrig, das es verdiente, wieder und wieder gelesen zu werden? Lichtenberg's Aphorismen, das erste Buch von Jung-Stilling's Lebensgeschichte, Adalbert Stifter's Nachsommer und Gottfried Keller's Leute von Seldwyla, - und damit wird es einstweilen am Ende sein.
Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches II/2/109
Adalbert Stifter (23.10.1805-28.1.1868)
Der Nachsommer (1857)
GW (Insel 1959) Bd. 4, S.
537ff
Unsere Zeit ist eine ganz
verschiedene. Sie ist auf den Zusammensturz jener gefolgt, und erscheint mir
als eine Übergangszeit, nach welcher eine kommen wird, von der das griechische
und römische Altertum weit wird Übertroffen werden. Wir arbeiten an einem besondern
Gewichte der Weltuhr, das den Alten, deren Sinn vorzüglich auf Staatsdinge, auf
das Recht und mitunter auf die Kunst ging, noch ziemlich unbekannt war, an den
Naturwissenschaften. Wir können jetzt noch nicht ahnen, was die Pflege dieses
Gewichtes für einen Einfluß haben wird auf die Umgestaltung der Welt und des
Lebens.
Wir haben zum Teile die Sätze
dieser Wissenschaften noch als totes Eigentum in den Büchern oder Lehrzimmern,
zum Teile haben wir sie erst auf die Gewerbe, auf den Handel, auf den Bau von
Straßen und ähnlichen Dingen verwendet, wir stehen noch zu sehr in dem Brausen
dieses Anfanges, um die Ergebnisse beurteilen zu können, ja wir stehen erst
ganz am Anfange des Anfanges.
Wie wird es sein, wenn wir
mit der Schnelligkeit des Blitzes Nachrichten über die ganze Erde werden
verbreiten können, wenn wir selber mit großer Geschwindigkeit und in kurzer
Zeit an die verschiedensten Stellen der Erde werden gelangen, und wenn wir mit
gleicher Schnelligkeit große Lasten werden befördern können?
Werden die Güter der Erde da
nicht durch die Möglichkeit des leichten Austauschens gemeinsam wer-den, daß
allen alles zugänglich ist? Jetzt kann sich eine kleine Landstadt und ihre
Umgebung mit dem, was sie hat, was sie ist, und was sie weiß, absperren, bald
wird es aber nicht mehr so sein, sie wird in den allgemeinen Verkehr gerissen
werden. Dann wird, um der Allberührung genügen zu können, das, was der Geringste
wissen und können muß, um vieles größer sein als jetzt. Die Staaten, die durch
Entwicklung des Verstandes und durch Bildung sich dieses Wissen zuerst
erwerben, werden an Reichtum, an Macht und Glanz vorausschreiten und die andern
sogar in Frage stellen können. Welche Umgestaltungen wird aber erst auch der
Geist in seinem ganzen Wesen erlangen?
Diese Wirkung ist bei weitem
die wichtigste. Der Kampf in dieser Richtung wird sich fortkämpfen, er ist
entstanden, weil neue menschliche Verhältnisse eintraten, das Brausen, von
welchem ich sprach, wird noch stärker werden, wie lange es dauern wird, welche
Übel entstehen werden, vermag ich nicht zu sagen; aber es wird eine Abklärung
folgen, die Übermacht des Stoffes wird vor dem Geiste, der endlich doch siegen
wird, eine bloße Macht werden, die er gebraucht, und weil er einen neuen
menschlichen Gewinn gemacht hat, wird eine Zeit der Größe kommen, die in der
Geschichte noch nicht dagewesen ist. Ich glaube, daß so Stufen nach Stufen in
Jahrtausenden erstiegen werden. Wie weit das geht, wie es werden, wie es enden
wird, vermag ein irdischer Verstand nicht zu ergründen. Nur das scheint mir
sicher, andere Zeiten und andere Fassungen des Lebens werden kommen, wie sehr
auch das, was dem Geiste und Körper des Menschen als letzter Grund inne wohnt, beharren
mag.«
(Absatzgliederung hinzugefügt)
Vor fast 160 Jahren wurden diese Sätze geschrieben. Fast prophetisch. Jedenfalls voller Fantasie und stark im Vorstellungsvermögen.
Fast 100 Jahre später räsonierte ein französischer Intellektueller, Paul Valéry (30.10.1871-20.7.1945), über eine ähnliche Problematik, ebenfalls hellsichtig und scharf:
"Man muß damit rechnen, daß so bedeutsame Neuerungen die ganze Technik der Künste umwandeln, damit auf den schöpferischen Vorgang selbst wirken - so sehr, daß sie vielleicht in erstaunlicher Weise bestimmen könnten, was künftig unter Kunst zu verstehen sein wird.
(...) Die Werke werden zu einer Art von Allgegenwärtigkeit gelangen. Auf unseren Anruf hin werden sie überall und zu jeder Zeit gehorsam gegenwärtig sein oder sich neu herstellen. Sie werden nicht mehr nur in sich selber da sein - sie alle werden dort sein, wo ein Jemand ist und ein geeignetes Gerät. Sie werden nur mehr etwas wie Quellen oder Wurzelstöcke sein, und ihre Gaben werden sich ungeschmälert überall einfinden oder neu befinden, wo man sie wird haben wollen. Wie das Wasser, wie das Gas, wie der elektrische Strom von weit her in unseren Wohnungen unsere Bedürfnisse befriedigen, ohne daß wir mehr dafür aufzuwenden hätten als eine so gut wie nicht mehr meßbare Anstrengung, so werden wir mit Hör- und Schaubildern versorgt werden, die auf eine Winzigkeit von Gebärde, fast auf ein bloßen Zeichen hin entstehen und vergehen. Wie wir gewohnt - wenn nicht gar abgerichtet - sind, ins Haus die Energie in verschiedenster Gestalt geliefert zu erhalten, so werden wir es ganz natürlich finden, dort jene sehr geschwinden Wechselbilder oder auch Schwingungen zu bekommen oder in Empfang zu nehmen, aus denen unsere Sinnesorgane, die sie aufnehmen und zu Einheiten zusammenfassen, alles machen, was wir wissen."
Paul Valéry: Die Eroberung der Allgegenwärtigkeit. In: Über Kunst, dt.: Frankfurt, Suhrkamp 1959:46ff
(...) Die Werke werden zu einer Art von Allgegenwärtigkeit gelangen. Auf unseren Anruf hin werden sie überall und zu jeder Zeit gehorsam gegenwärtig sein oder sich neu herstellen. Sie werden nicht mehr nur in sich selber da sein - sie alle werden dort sein, wo ein Jemand ist und ein geeignetes Gerät. Sie werden nur mehr etwas wie Quellen oder Wurzelstöcke sein, und ihre Gaben werden sich ungeschmälert überall einfinden oder neu befinden, wo man sie wird haben wollen. Wie das Wasser, wie das Gas, wie der elektrische Strom von weit her in unseren Wohnungen unsere Bedürfnisse befriedigen, ohne daß wir mehr dafür aufzuwenden hätten als eine so gut wie nicht mehr meßbare Anstrengung, so werden wir mit Hör- und Schaubildern versorgt werden, die auf eine Winzigkeit von Gebärde, fast auf ein bloßen Zeichen hin entstehen und vergehen. Wie wir gewohnt - wenn nicht gar abgerichtet - sind, ins Haus die Energie in verschiedenster Gestalt geliefert zu erhalten, so werden wir es ganz natürlich finden, dort jene sehr geschwinden Wechselbilder oder auch Schwingungen zu bekommen oder in Empfang zu nehmen, aus denen unsere Sinnesorgane, die sie aufnehmen und zu Einheiten zusammenfassen, alles machen, was wir wissen."
Paul Valéry: Die Eroberung der Allgegenwärtigkeit. In: Über Kunst, dt.: Frankfurt, Suhrkamp 1959:46ff
Das Verblüffende oder Frappierende liegt weniger in der konkreten Prophetie, im Weitblick, sondern im sensiblen Vorstellungsvermögen, das Veränderungen und Entwicklungen annimmt und sieht, aufgrund damaliger Indizes und Hinweise, die zu deuten es aber genügend Wissen und Vorstellungskraft bedurfte, Qualitäten, die Stifter wie Valéry aufwiesen.
Die erwähnten Bücher von Nietzsche, Stifter und Valéry liegen in unserer Bibliothek auf (und andere von diesen Autoren!).
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