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Hans Mayers Büchertagebuch (5)
Geeint in Johann Peter Hebel
Kam es wirklich zu einer Vereinigung in Johann Peter Hebel? Längst ist man – glücklicherweise – davon abgekommen, den Meister der „Alemannischen Gedichte“ und des „Schatzkästleins“ als bloße Fundgrube für Morgenfeiern und jene funkgerechten „Schatzkästlein“-Sendungen zu betrachten, die nun wahrlich wenig zu tun haben mit einem, der die Geschichte vom „Unverhofften Wiedersehen“ geschrieben hat: die Erzählung vom Bergmann aus Falun in Schweden, von welcher an jenem Abend zwischen Bloch und Heidegger nicht ohne Grund die Rede war. Hebel ist durchaus kein platt-erbaulicher, sondern ein unheimlicher Erzähler; genau wie der von ihm verehrte (und ihn verehrende) Jean Paul Friedrich Richter. Was denn war Hebel, worauf beruht diese seine so singuläre Gewalt?
Da ist ein Buch mit Deutungen, Erlebnisberichten und Dankreden erschienen – das einiges von dieser Bannkraft und ihren Mitteln deutlicher werden läßt, als es bisher geschah. Weit mehr wurde hier geboten als eine bloße Addition von Essays und Lobpreisungen. Der Band ist komponiert, sogar gleichsam musikalisch komponiert, und zwar nach der Technik durchgehender Themen, wenn nicht gar richtiger Leitmotive.
Theodor Heuss bringt die thematische Exposition. Seine Dankesrede für die Verleihung des Hebel-Preises 1952 enthält eigentlich alle Motive, die dann vor allem von Carl J. Burckhardt und Robert Minder aufgenommen werden. Für Heuss bedeutet – in dieser Rede wenigstens – der Verfasser jener aus Erinnerung und Kindheitssehnsucht geschaffenen „Alemannischen Gedichte“ das geistige Zentrum seiner Hebel-Deutung. Aber mit diesem Hinweis auf Muttersprache und Jugendlandschaft verbindet der Historiker Heuss sogleich die Analyse des geschichtlichen Augenblicks. Hebel schuf in einer Zeit erstaunlicher „Ungleichzeitigkeiten“. Die „Alemannischen Gedichte“ von 1803 erscheinen im gleichen Jahr wie Schillers „Braut von Messina“. „Im Jahre 1811 entstand die erste Sammlung des ‚Schatzkästleins‘. Es ist das Jahr von Fouqués ‚Undine‘, von Justinus Kerners ‚Reiseschatten‘ – das sind die Prosaglanzstücke der frühen Romantik –, aber es ist keinerlei Berührung zwischen Hebel und ihnen. Sie und manches andere aus jener Zeit sind untergegangen, beachtenswert, ja achtungswürdig für die literarische Kommentierung. Auch Schillers ‚Braut von Messina‘ gehört dazu. Hebel aber blieb lebendig.“
Es sind jedoch nicht bloß diese geschichtlichen Pluralitäten. Schon Heuss betont, ebenso wie später Burckhardt: „Für mein Begreifen ist der so oft vereinfachte Hebel eine sehr vielschichtige Natur.“ Noch deutlicher: „Mit ‚Volksdichtung‘ und ‚Heimatdichtung‘ ist es nicht getan bei Hebel.“ Die eigentümliche Größe dieses Mannes sei in dem Bemühen zu finden, in einer Welt äußerster politischer, nationaler Spannungen für sich selbst eine sehr eigentümliche Synthese gefunden zu haben: „Was Hebel gelang, ist die Vermählung von Poesie und Verständigkeit.“ Wobei Verständigkeit für Heuss natürlich mit der Aufklärung zu tun hat.
Liest man die einzelnen Stücke dieses Bundes hintereinander, so drängt sich immer wieder die Einsicht auf, daß für jeden dieser Sprecher die Gestalt des Johann Peter Hebel zum Anlaß einer Selbstaussage wird. Bei Heuss wird sie folgendermaßen angedeutet: „Und doch ist seine Erscheinung im hintergründigen, im ‚metapolitischen‘ Sinn eine über das Private hinaus wirkende, eine sammelnde, vielleicht eine bindende Kraft geblieben.“ Worauf man sich daran erinnert, daß der Soziologe Adorno vor kurzem erst den Soziologen Theodor Heuss so zu deuten suchte: „Er war der Stellvertreter einer Art von Person, wie sie allgemein erst unter verwirklichter Freiheit gedeihen würde. In ihm schien der Dialekt unmittelbar Träger des Humanen.“
Hebel als Repräsentant und als Vermittler: auch zwischen den Nachbarkulturen der Deutschen und der Franzosen. An Carl J. Burckhardts Erzählung „Ein Vormittag beim Buchhändler“ erinnert bereits der Württemberger Historiker und Soziologe Heuss. Der Basler Historiker und Literarhistoriker Carl J. Burckhardt hatte die Geschichte erlebt und aufgeschrieben. Der aus dem Elsaß stammende Germanist Robert Minder, heute Professor am College de France, kommt gleichfalls auf Burckhardts Erzählung zu sprechen, die auch für ihn sowohl eigenes Erleber. wie Forschungsthema geworden war.
Burckhardt schilderte damals bekanntlich eine Episode aus der ersten Nachkriegszeit. In einer heiter-peinlichen Situation war der Erzähler in Paris mit Rilke zusammengetroffen, ging mit ihm zu einem Buchhändler, wo sie den Elsässer Lucien Herr trafen, einen für die Heutigen fast unbekannt gewordenen Mann, der aber damals – in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts – auf die jungen französischen Denker und Schriftsteller als Philosoph und Historiker gewaltigen Einfluß ausgeübt hatte.
Rilke, Herr, Burckhardt, der Buchhändler. Ein literarisches Gespräch zwischen Deutschland und Frankreich hebt an. Rilke, der Dichter des „Rühmens“, spricht von den Fabeln Lafontaines. Lucien Herr und Carl J. Burckhardt konfrontieren die Fabelwelt des Franzosen mit der Natur- und Menschenwelt eines Johann Peter Hebel, der für Rilke kaum mehr zu sein scheint als ein bloßer Name.
An diese Geschichte erinnert sich Robert Minder mitten in den schwersten Tagen des Zweiten Weltkriegs, und bei seiner Dankesrede für die Verleihung des Hebel-Preises 1963 erinnert er auch seine deutschen Hörer daran: Schutzgeister waren plötzlich um mich versammelt, ein alemannisches Fähnlein der Aufrechten: Hebel, der Badener, Burckhardt, der Schweizer, und Lucien Herr, der Oberelsässer aus Altkirch, der einer meiner Mentoren in den Pariser Studienjahren auf der Ecole Normale Superieure gewesen war – ein Mann von umfassendstem Wissen und zugleich ein unerschrockener Bürger. Er gehörte zu denen, die alles aufs Spiel gesetzt hatten, um den unschuldig verurteilten Hauptmann Dreyfus zu seinem Recht zu verhelfen.“
Abermals – auch bei Robert Minder – die unlösliche Einheit von Erlebnis und Erkenntnis im Zeichen Hebels: „Und Hebel gab mir in jener Nacht der Verlassenheit und Bedrohung die Kraft, weiter daran zu glauben, daß das Humane gerade auch im Verborgenen wirke und daß in den Tagen des Schreckens dem Einzelnen eine Verantwortung und bisweilen eine Macht ohnegleichen zufalle. So ist es tatsächlich bald darauf dem Ermessen eines deutschen Generals anheimgestellt gewesen, ob er mit einem einzigen Wink Paris in die Luft sprengen lasse oder nicht: Hebel hätte ihm ein Denkmal im Hausfreund errichtet wie einst den französischen Offizieren, die zu Napoleons Zeiten das Recht über die Gewalt setzten.“
Spürt man, wie auch hier die Dankrede auf den „Rheinischen Hausfreund“ zum Anlaß der Selbstaussage geworden war?
Burckhardt stellt seine Dankrede für den Empfang des Hebel-Preises 1959 unter das Motto „Der treue Hebel“. Auch hier ist sowohl von Hebel wie von Burckhardt die Rede. Aber noch eine andere Gestalt ist insgeheim gleichfalls im Spiel, wenngleich sie nicht ausdrücklich genannt wird. Indem Burckhardt von Hebel spricht, kommt es für ihn immer wieder zur Annäherung an die große Freundesgestalt seines Lebens, an Hugo von Hofmannsthal. „Reden über etwas, was zu unserm innersten Bereich gehört, ist immer ein gewagtes Unternehmen; man muß dort, wo lauter stummes, glückliches Einverständnis herrscht, Worte benützen, die ihre Bewährungsfrist noch nicht bestanden haben.“ Wer spricht hier eigentlich? Es sind Worte aus Burckhardts Dankesrede: Aber, so sprachen auch der Graf Bühl und der Lord Chandos bei Hofmannsthal. Die Art, wie Hebels Erzählung „Der Spaziergang am See“ hier von Burckhardt gedeutet wird, verrät eine innere Verwandtschaft zu den Antithesen des „Turms“ in Hofmannsthals letztem Trauerspiel.
Kein Wunder dies alles, denn auch Hofmannsthal hatte mit Hebel zu tun: nicht bloß in der Nachgestaltung der Geschichte vom Bergwerk zu Falun. Die Beziehung zwischen Hebel und Jean Paul, schon von Heuss und Minder angedeutet, wird auch hier hervorgehoben. „Eine Kenntnis des Menschen, wie sie in dieser Weise so effektlos lauter nicht wiedergekehrt ist, hatten diese beiden Zeitgenossen gemeinsam, aber bei beiden ging diese Erkenntnis bis zum Unheimlichen.“
Genauso hat Robert Minder übrigens in einer anderen Studie die Unheimlichkeit und Gegenwärtigkeit der Menschen Jean Pauls erläutert.
Der gegenwärtige Hebel. Ein Satz bei Carl J. Burckhardt macht ahnen, wie Hebel in seinen Kalendergeschichten gelungen war, was den Schriftstellern unserer Tage zur schwersten Bewährungsprobe werden sollte: die Darstellung des „Positiven“ in der Literatur und durch die Literatur.
„Wenn Hebel an ein dunkles Verhängnis, an Unheil und Untergang rührt, so ruft er sogleich die Kräfte auf, die die Menschenwelt rettend über dem Abgrund halten, sittliche Kräfte. Sein ganzes Werk steht wie zwischen Eckpfeilern, zwischen Dichtungen, als da sind: Unverhofftes Wiedersehen’, ‚Die lange. Kriegsfuhr‘ und etwa ‚Der Statthalter von Schopfheim‘. Es ist leicht, das Böse darzustellen, unendlich schwer, dem Guten in der Weise zu seinem Recht zu verhelfen, daß es uns ergreift.“
Vielleicht dachte Burckhardt, als er dies niederschrieb, auch an jenes Kapitel über das „Böse in der Weltgeschichte“, das sein eigener großer Verwandter und Namensvetter in den Mittelpunkt von „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ gestellt hatte.
Bleibt noch übrig, von Martin Heideggers Vortrag zu reden. (Die sehr formvollen Beiträge Hausensteins und Reifenbergs sind als Gedenkaufsätze konzipiert und dringen durch diese Anlage weniger zur Selbstaussage vor. Bergengruen gibt sehr reizvolle Erinnerungen: Hebel zwischen nördlichem und südlichem Gelände; der Beitrag trägt übrigens eine Widmung „An Carl J. Burckhardt“.) Heidegger scheint sich, obenhin betrachtet, auf die Deutung eines Hebel-Gedichts aus dem Alemannischen Zyklus zu beschränken, „Der Sommerabend“. Aber „Sprache und Heimat“ wurde als Titel darübergesetzt.
Eine Beschwörung, wie sooft bei Heidegger. Verse Eichendorffs werden als Beschwörungsformel verwendet. „Schläft ein Lied in allen Dingen...“ In welchen Dingen? Für Heidegger schläft es in der Muttersprache, womit für ihn ganz naiverweise natürlich das Alemannische gemeint ist. „Die Mundart ist nicht nur die Sprache der Mutter, sondern zugleich und zuvor die Mutter der Sprache.“ Das ist nicht so neu, fand sich als Grunderkenntnis schon bei den Ostpreußen Hamann und Herder. Freilich hätten diese beiden niemals, bei aller Begeisterung für Volkssprache und Volkslied, Heideggers Folgerung gezogen. Hier nämlich wird folgendes versucht: die dichterische Sprache von aller Aussage zu trennen, was bei Heidegger äußerst schroff geschieht: „Wie aber, wenn die Sache sich ganz anders verhielte, wenn das dichterische Sagen das ursprüngliche wäre, die Aussage jedoch das Sagen der undichterischen Sprache?“
Womit nun dieser Hebel-Deuter, wie einer irrigerweise vermuten könnte, in die Gegend der gegenstandslosen Lyrik geriete. Das Gegenteil ist der Fall. Der Dialekt ist für Heidegger bereits Dichtung. Je mehr man sich sowohl in der Richtung auf irgendeine Aussage wie in Richtung auf eine literarische Hochsprache oder erst recht – in unserer Gegenwart – in Richtung auf die deutsche Gegenwartssprache von diesen sprachlichen „Ursprüngen“ entfernt, nimmt – nach Heidegger – die dichterische Möglichkeit ab.
Dann freilich wäre, folgt man Heidegger, Johann Peter Hebels Weg von den „Allemannischen Gedichten“ zum „Schatzkästlein“ ein Abstieg gewesen. „Sprache als Heimat“: so schließt Heidegger seine Rede mit dem Titel „Sprache und Heimat“. Dies ist eine Ästhetik der Regression, der Rückkehr aufs Dorf, die mit Hebel, dem wirklichen Hebel nämlich, wenig zu tun hat.
Wie gut ist es, noch einmal Robert Minder zu hören. Der französische Germanist spricht über die Nachfolger der alemannischen Bauerngeschichten in der deutschen Literatur seit Hebel. Er nennt den Elsässer Alexandre Weill, der eine der ersten deutschen Dorfgeschichten schrieb. (Übrigens auch ein bis heute bemerkenswertes Buch über den deutschen Bauernkrieg von 1525.) Minder erinnert an Berthold Auerbach, seine Dorfgeschichten und seine Hebel-Rede. Dann fährt Minder, immer noch für den Schwarzwälder Juden Auerbach sprechend, so fort: „Frische; Anschaulichkeit, innere Wahrheit haben diese ersten Erzählungen bis heute bewahrt. Das Schwarzwälder Volksleben ist durch sie der deutschen Literatur erschlossen worden, wie später durch Karl Emil Franzos, Joseph Roth und andere jüdische Schriftsteller die Dorfgemeinschaften des Ostens, die ein Chagall mit noch genialerem Mittel ins Blickfeld der europäischen Malerei gerückt hat.“
Hier nun ist der Ort, auch von Franz Kafka zu sprechen. Mit Recht und Nachdruck wies Adorno nach der Lektüre von Kafkas Briefen und Tagebüchern nach, wie sehr die Geschichten und Parabeln des Pragers sprachlich und kompositorisch von Hebel mitgeprägt wurden. (Und von Lessing und von Kleists Anekdoten.)
„Hier ist der Stil unmittelbar, was er in allem großen Schrifttum (streng bei Kafka, hart bei Brecht) so indirekt wie unverloren mit sich führt: Landluft. Nichts kann der späteren ‚Heimatkunst‘ ferner sein als die Kalendergeschichte weitesten Sinns, als ihr biblisch erzogener, bedeckender Ton.“
Der hier spricht, meint abermals Johann Peter Hebel. Die Sätze aber stammen aus dem Jahre 1926. Schade, daß dieser Aufsatz von Ernst Bloch („Hebel, Gotthelf und bäurisches Tao“; in „Verfremdungen I“, Bibliothek Suhrkamp) nicht in unseren Band aufgenommen wurde: Er hätte die Komposition um ein bedeutsames Gegenthema erweitert.
Erstaunlich zunächst, wie hier, vor nahezu vierzig Jahren, bereits die Beziehung Hebels zu Kafka und Brecht hergestellt wird. Die „Kalendergeschichten“ Brechts nach Hebels Vorbild entstanden erst zehn Jahre später. Vieles von dem, was Heuss und Minder über Hebel sagen, klingt an bei Ernst Bloch aus Ludwigshafen, Auch Bloch stellt – wie Heuss – das „Schatzkästlein“ von 1811 in seine harte Ursprungszeit,
„Freundlich ist es, von Hebel zuerst an die Hand genommen zu werden. Der Hausfreund geht mit, ist der Knabe, mit dem man als mit seinesgleichen sich so wohl versteht Das könnte in Burckhardts Betrachtungen über den „treuen Hebel“ stehen, steht aber bei Bloch zu lesen. Unter „Tao“ verstehen die Chinesen den Welttakt. „Das Haus gut im Gang, das Leben und sein Streben gut im Lauf, woran Segen ist.“
„Und derselbe Mann, der sich’s so heimisch Wohlsein ließ, steht den Franzosen näher als vielen Deutschen, er lehrt die Heimat, aber die Menschlichkeit dazu.“ Dies könnte bei Minder stehen, der seine Hebel-Studie unter den Titel stellte „Hebel und Heimatkunst – von Frankreich gesehen“.
Allein „Sprache als Heimat“ in Heideggers Sinne kommt bei Ernst Bloch nicht vor. Das sei merkwürdig, denn Blochs „Prinzip Hoffnung“ ende schließlich mit dem Wort Heimat? Aber „Heimat“ ist für den Philosophen Bloch jener Bereich, wo noch niemand war, zukünftiger und erstrebenswerter Bereich. Für Heidegger ist damit Vergangenheit, Ursprung, Beharrung gemeint.
Sie sprachen damals, Ernst Bloch und Martin Heidegger, über Johann Peter Hebel, Kaum ein anderes Thema indessen wäre imstande gewesen, die tiefe, keine Überbrückung zulassende Verschiedenheit ihrer Denkweisen deutlicher zu demonstrieren.
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