Mittwoch, 31. Mai 2017
Das 4. Buch aus Nietzsches "Fröhliche Wissenschaft"
Ab 1. Juni 2017 erscheinen täglich Absätze aus dem 4. Buch "Sanctus Januarius" der FRÖHLICHEN WISSENSCHAFT (1882) von Friedrich Nietzsche
Sonntag, 21. Mai 2017
Gabriele Folz-Friedl: Mythos Wald
Gabriele Folz-Friedl: Mythos Wald
Henry David Thoreaus "Walden – ein Leben in den Wäldern" vs. Ernst Jüngers "Der Waldgang"
Henry David Thoreau, dessen Geburtstag sich am 12. Juli 2017
zum zweihundertsten Male jährt, verfasste sein bekanntestes Werk „Walden“,
nachdem er sich für zwei Jahre in die Einsamkeit der Wälder rund um den Waldensee
in Massachusetts zurückgezogen hatte, um dort das „einfache Leben“
kennenzulernen. Noch heute ist die Strahlkraft der später in der Hippiebewegung
so bezeichneten „Aussteigerbibel“ ungebrochen und übertrifft an
Bekanntheitsgrad und Wirkung ohne weiteres ein Werk, dessen hier vergleichend
und gegenüberstellend ebenfalls gedacht werden soll: es handelt sich um den knapp hundert Jahre
später erschienen Essay Ernst Jüngers „Der Waldgang“. Ein Text, der, jedenfalls
was dessen gesellschaftspolitische Dimension anlangt, meines Erachtens eine
ungleich größere Sprengkraft aufweist als „Walden“.
Gleichwohl
gibt es neben allen Unterschieden und auch trotz des fundamental verschiedenen
Ansatzes der Autoren nicht wenige thematische Überschneidungen, vor allem aber eine
Leitlinie, deren Bedeutung kaum zu überschätzen ist, da sie sich eines
jahrhundertealten vielgestaltigen und offenbar unsterblichen Mythos bedient,
nämlich des „Mythos Wald“.
Das
gesellschaftskritische Element im Werk Thoreaus ist unübersehbar, es lässt sich
sogar eine grundsätzliche Widerständigkeit gegenüber Staat und Gesellschaft
feststellen, die in der Idee des zivilen Ungehorsams gegenüber der Staatsmacht
gipfelt - was in diesem Fall jede Art
von Widerstand einschließt, sofern er gewaltlos ist. Eine Haltung, von der sich
in der Folge etliche historische Personen mit bürgerrechtlichen Anliegen, wie
zum Beispiel Gandhi und Martin Luther King, inspirieren ließen und daraus ihre
Legitimation herleiteten. Bei Thoreau führte dies in einer bestimmten Phase
seines Lebens zu Steuerverweigerung und Gefängnis, da er auf solche Weise
seinen Protest gegen die Sklaverei und die Kriegspolitik der USA gegenüber
Mexiko ausdrücken wollte. So aufs Nachdrücklichste seine Auffassung
unterstreichend vom absoluten Primat des persönlichen Gewissens vor den
staatlichen Gesetzen. Er machte deutlich, dass er sein Wort : „Der wahre Platz
eines freien Menschen in einem Verbrecherstaat ist das Gefängnis“,ohne Umstände
mit allen Konsequenzen in die Realität umzusetzen bereit war. Folgerichtig
entgegnete er seinem Freund Emerson, der ihn finanziell auslöste, auf dessen
entgeisterte Bemerkung, warum er hier (eben im Gefängnis) sei, lakonisch: „Und
warum bist du nicht hier?“ (Wobei der Ordnung halber zu bemerken ist, dass von
der genannten Episode mehrere Varianten existieren, die historisch allesamt
nicht gesichert zu sein scheinen. Kritiker behaupten, dass Thoreau hier
Tatsachen umgedeutet und geschönt und lediglich an seinem eigenen Heldenmythos
gebastelt habe. An seiner grundsätzlichen Haltung ändert dies jedoch nichts.)
Mit
Emerson, dem Begründer des vom deutschen Idealismus beeinflussten
amerikanischen „Transzendentalismus“, zu dessen Kreis auch Persönlichkeiten wie
Hawthorne und Walt Whitman zählten, verband ihn nicht nur die gemeinsame
Ideenwelt, sondern auch eine enge Freundschaft. Der Waldensee, an dessen Ufer
Thoreau sein Blockhaus baute, lag auf einem Emerson gehörenden Grund und in der
Nähe eines Dorfes, also nicht so weit ab der Zivilisation, dass der Kontakt zu
dieser völlig unterbrochen war, aber einsam genug, dass er hier seine
Vorstellungen von der Rückkehr zur „Einfachheit“mit allen sich daraus
ergebenden Folgen für alle Lebensbereiche, verwirklichen konnte. Emerson, sowie
andere ihn umgebende Transzendentalisten, teilte diese Vorstellungen im
Wesentlichen, ohne freilich ähnlich
rigoros in deren Umsetzung zu sein – oder auch sein zu wollen.
Thoreaus
Ethik basierte zwar auf dem Christentum, aber ohne dass er im eigentlich
christlichen Sinn gläubig gewesen wäre – in einem andern Sinn und auf seine
Weise war er dies aber sehr wohl. Wie andere amerikanische Transzendentalisten
war er Anhänger des schellingschen
Pantheismus, eine Theorie, die von einer grundsätzlichen Beseeltheit der
Schöpfung, sowie der Gegenwart des sich in der Natur stetig fortzeugenden und
immer neu manifestierenden Göttlichen ausgeht. Er besaß also das, was in der
deutschen Romantik gerne „Naturfrömmigkeit“ genannt wurde. Als Idealist glaubte
er an eine fortschreitende Vervollkommnung des menschlichen Geschlechts durch
die unermüdlichen diesbezüglichen Bestrebungen des Individuums, das ihm
überhaupt wichtiger als jegliche abstrakte Gesellschaftstheorie war (worin er
sich übrigens mit Jünger trifft).
Dass zwei
Weltkriege später, mit einhergehender gesellschaftlicher Verrohung und kaum für
denkbar gehaltener Verbrechen, ein Ernst Jünger die menschliche Natur mit weit
weniger Optimismus betrachten musste, liegt auf der Hand. Jüngers Humanismus
ist ein zutiefst elitärer, indem er - vor allem unter widrigen bis
katastrophalen Umständen - ausschließlich dem aus der Masse herausgehobenen
Einzelmenschen die mutige Bewahrung und Verteidigung des Humanen, notfalls
unter Einsatz des Lebens, zutraute. Eine zutiefst unzeitgemäße Einstellung, für
die jedoch gute Gründe geltend zu machen sind, wie jeder Blick zurück in die
Geschichte, nicht zuletzt auf etliche, noch nicht lange vergangene Diktaturen,
nahelegen könnte. Deswegen ist sein „Waldgang“ auch ein im eigentlichen
Wortsinn radikaler, an die stets bedrohten Wurzeln menschlicher Existenz
gehender, fundamental anders gewichteter Text, der Topos „Wald“ aufgeladen mit
Bedeutungen, die in Thoreaus Schrift nur gestreift werden . Was sich in Jüngers
Text gänzlich abwesend zeigt, ist die liebevolle stiftersche Versenkung in die
Natur, ins Nahe, Kleine, Schützenswerte, die Thoreau in der Muße seiner
Abgeschiedenheit und in der Gnade einer knapp hundert Jahre früheren Geburt,
sich noch unbelastet und unbefangen gönnen konnte.
Ist der
Wald für Thoreau ein Ort des unmittelbaren Erlebens, der Naturbeobachtung, doch
auch der Introspektion, ein Ort, der die Produktion gepflegter philosophischer
Gedanken fördert, die zuweilen sehr tief sein können, wohlformuliert und
teilweise von berückender Poesie, zuweilen hingegen die biedermeierliche
Betulichkeit von Kalendersprüchen streifen, so ist der Wald für Jünger neben
aller zugrundeliegender Erlebnishaftigkeit (Jünger war leidenschaftlicher
Naturbeobachter und Insektenkundler) vor allem auch ein theoretisches, ein
philosophisches Konstrukt, das sich durchaus ebenso auf übertragene Phänomene
beziehen kann. Der Wald kann ohne weiteres der sogenannte „Großstadtdschungel“
sein, kann überhaupt jeder Ort sein, der dem Individuum erlaubt, sich aus einer
komplett durchverwalteten Welt in regellose, anarchische Situationen zu
begeben, die die Möglichkeit bieten, die Karten grundsätzlich neu zu mischen.
Er ist jedenfalls die Zuflucht dessen, der sich gejagt und ausgestoßen weiß,
der Rückzugsort des Partisanen, des heimlichen Gegners eines herrschenden
Systems – und Jünger weist darauf hin, welcher Doppelsinn diesem deutschen Wort
„heimlich“ innewohnt, welches im Heimlichen vertraut Heimisches und verstörend
Unheimliches, Verborgenes mitschwingen lässt.
Aber für
beide, Thoreau wie Jünger, ist der Wald der Ort des Heraustretens aus dem
Gewohnten, das ganz Andere, der absolute Gegenpol zu den Zwängen einer wie
immer gearteten Gesellschaft, der Ort
des Archaischen, des Anti- oder vielmehr
Vor-Zivilisatorischen, der grundsätzlichen Zivilisationskritik. Konsequent
zuende gedacht und ins Bösartige gewendet, kann so geartete Kritik auch in
Zivilisationsfeindlichkeit umschlagen und
pathologische Züge annehmen, wie im Falle des als „Una-Bomber“ bekannt
gewordenen Ted Kaczynski, der,
hochintelligent, und, als Hochschulprofessor der Mathematik, selbst ein
Produkt der ihm im Laufe seiner Entwicklung immer verhasster werdenden
Wissenschafts - Gesellschaft, seinen Hass vor allem auf deren technische
Errungenschaften richtete, bis er sich in eine einsame Blockhütte in den
Wäldern zurückzog, um endgültig mit der Welt
„da draußen“ zu brechen. Hier geriet er immer tiefer in allgemeinen
Menschenhass und ins Krankhafte
gesteigerte Aggression, bastelte (sein technisches Wissen und Geschick erlaubte
dies schließlich) raffinierte Briefbomben und begann, diese an herausragende
Protagonisten des einschlägigen Hochschulbetriebs zu versenden, bis man ihn
schließlich aufspürte und verhaftete. Ob der Umstand, dass er bei seinem
Rachefeldzug ausgerechnet wieder auf die Technik zurückgriff, die er doch
bekämpfen wollte, als bewusste Ironie zu betrachten ist, ist nicht bekannt.
Man sieht
also, der Mythos Wald beinhaltet auch
Destruktion, Verirrung und Verstörung, beinhaltet tiefe Ambivalenzen, die aber
vielleicht in diesem Spannungsverhältnis gerade dessen Lebendigkeit und
unerschöpfliche Fruchtbarkeit ausmachen.
Ist Thoreau
ein später Nachzügler der europäischen Romantik mit einem Menschenbild, das dem
Rousseaus verpflichtet ist und das so wenig Staat wie möglich einfordert, um
das Individuum in seinem postulierten Naturzustand so wenig wie möglich zu
behelligen und einzuschränken, so ist Jünger in diesem Punkt weit schwieriger
einzuschätzen. Sein Menschenbild ist jedenfalls sehr viel pessimistischer, geht
nicht vom zivilisationsfernen und deswegen „edlen“ Wilden aus (ein Topos, der
aktuell in andern Zusammenhängen wieder unfröhliche Urständ feiert), es ist der Vorstellung Thomas Hobbes vom
Menschen als dem „Wolf des Menschen“ wesentlich näher, ohne jedoch dessen
Konsequenzen daraus zu ziehen. Auch Jünger ist daran gelegen, den
Wirkungsbereich des Staates so weit wie möglich einzuschränken, aber nicht
zugunsten und im Sinne allgemeiner Gleichheit, sondern indem er sich eindeutig
für die bestimmende Kraft des in jeglichem Sinne herausragenden
Ausnahmemenschen ausspricht. Ein aristokratisches Ideal also, nicht unähnlich
dem Entwurf des von Nietzsche propagierten Übermenschen. Wie Nietzsche ist er,
anders als Thoreau, kein Pazifist, mit der Implikation, Gewalt, wenigstens als
als äußerstes Mittel, zu bejahen.
Der gegenwärtig herrschende Zeitgeist wird und muss daran
zweifellos Anstoß nehmen, zumal Jüngers Verhältnis zum Humanen im Laufe seines
Lebens etliche Metamorphosen durchlief, und vor allem in seinen jüngeren Jahren
nicht frei von Zwiespältigkeit war. Es lässt sich sogar aufgrund seines damaligen Ideals des
unbürgerlich-aristokratischen Soldatentums zeitbedingt eine geradezu aggressive
Ablehnung des Humanismus feststellen.
Anders als
Thoreau ist Jünger kein Romantiker, auch wenn seine Sprache, der „hohe Ton“
vielleicht dahingehend missverstanden werden könnte. Das Schwärmerische, ja
Verstiegene in manchen Sequenzen seines Textes ist vielmehr in einem strengen,
allerdings zuweilen anachronistisch wirkenden Sinne hymnisch, und verliert
dessen klare Strenge auch dann nicht, wo er, auf einem schmalen Grad
balancierend, ständig von der Gefahr des Absturzes bedroht scheint.Untersucht
man Jüngers und Thoreaus Sprache sowie deren Intentionen: beiden Autoren
(Jünger allerdings deutlich ausgeprägter) eignet der Wille und die Fähigkeit,
Dinge und Sachverhalte klar zu benennen, auch wenn dadurch kontroversielle
Wirkungen erzielt werden. Dichotomien verschwinden nicht, indem man grundsätzliche
Widersprüche des Daseins zu negieren sucht, oder sie durch konfliktvermeidende
Rundum-Umarmung überhaupt am Entstehen zu hindern versucht, sondern indem man
sie benennt und aushält. Eine heuchlerische, unpräzise Sprache produziert
heuchlerische, unehrliche Systeme und Denk – und Seinsweisen.
Der
Versuch, das Leben als kompliziertes Wechselspiel auseinanderstrebender,
widerstreitender Kräfte zu begreifen, die, sich ineinander im Streit
vergewissernd und findend, wieder auseinander hin zu Extremen streben
(„Versöhnung ist mitten im Streit“, Hölderlin, Heraklit), ist dabei eher
Jüngers Agenda. Thoreau ist demgegenüber ein deutlich weniger gebrochener
Charakter, der die Heilung und Vervollkommnung der Menschheit (oder wenigstens
mancher Individuen) und ihrer
Widersprüche, in deren Zurückführung zur Natur in einem idealistischen
Sinne grundsätzlich für möglich und erstrebenswert hält.
Jüngers
weltanschauliche Position ist wiederum wesentlich schwieriger dingfest zu
machen als jene des amerikanischen Autors, der im Verlauf seines ziemlich
kurzen Lebens von einmal getroffenen Positionen nie wirklich abwich, sondern
vielmehr sein Bestreben darauf richtete, diese fortlaufend zu vertiefen und
ihnen die ein oder andere Facette hinzuzufügen, weswegen er auch im Gesamten
eindeutiger wirkt und weniger fragwürdige oder irritierende Aspekte aufweist.
Als Identifikationsfigur für naiv Suchende darum auch viel geeigneter als sein deutscher Schriftstellerkollege.
In den
Anfängen des Nationalsozialismus war Jünger ohne Zweifel anfällig für dessen
Verführungen. Er erhoffte sich, in völliger Verkennung dessen extrem
destruktiven Kerns, eine tiefgreifende, revolutionäre Erneuerung, eine bis ins
metaphysische reichende positive Umwälzung aller Werte, potenziell weit über
Deutschland hinausreichend. In der Folge allerdings wandelt er sich vom
Sympathisanten zum entschiedenen Gegner jener - von ihm mittlerweile als solche erkannten - verbrecherischen Bewegung,
wie etliche seiner Schriften, zum Beispiel der Roman „Auf den Marmorklippen“,
sowie seine Nähe zu Widerstandskreisen, belegen. Den verstörenden Erfahrungen,
die er im sogenannten „Dritten Reich“ machen musste, ist auch der bedeutende
Essay „Der Waldgang“ zu verdanken.
Und in
diesem erweist sich auch wieder, was Jünger vor allem ist: nämlich ein
Mythomane. Dem Glauben an eine allem Lebendigen zugrunde liegende, sich immer
neu erzeugenden mythischen Kraft gibt er in seinen Schriften immer wieder
Ausdruck, am deutlichsten und ausgesprochensten vielleicht in seinem
„Waldgang“, wo er den widerständigen, verborgen „heroischen“ Einzelnen
wiederholt gegen den „Großen Leviathan“ (Thomas Hobbes), den alles
verschlingenden Staat, positioniert. Er tut dies mit geradezu beschwörender
Intensität, indem er den „Wald“ als den Ort bezeichnet, der „alles, was uns mit
zeitlicher Sorge bindet“ zu lösen imstande ist, indem er, quer durch die
Zeiten, alles heraufruft,was je Geschichte, Sage und Mythologie mit den Wäldern
identifizierten. Um dann freilich auf sein eigentlichstes Anliegen zu kommen,
nämlich, dass diese Kräfte eben nicht nur „in fernen Räumen und Vorzeiten
zuhause sind, sondern vielmehr in jedem Einzelnen verborgen“, und „ihm in
Schlüsseln überliefert, damit er sich begreife in seiner tiefsten und
überindividuellen Macht“.
Jüngers
Haltung ist von manchen Rezipienten fälschlich als ein Sich-Zurückziehen in den
Elfenbeinturm missverstanden worden, als eine „Absage ans Kollektiv“ (Ernst
Niekisch), ohne das man letztlich doch nicht leben könne, sondern in „splendid
isolation“ verdorren und verkommen müsse. Es handelt sich jedoch vielmehr bei
diesem (inneren) Rückzug um ein
Käftesammeln, ein Innewerden, eine Klärung der eigenen Position, von der
aus man dem Leviathan zumindest der Möglichkeit nach neu gestärkt gegenübertreten
kann. Auch eine von wenig Verantwortung und Handlungsbereitschaft geprägte
Haltung, wie sie ihm von Golo Mann attestiert wurde, ist meines Erachtens in
diesem Licht zu sehen. Freilich hat Jüngers Werk mit seiner unzeitgemäßen
Betonung des „heldischen“ Einzelnen in seiner elitären Abgehobenheit gerade bei
der Linken immer wieder für Irritation bis hin zu blankem Hass gesorgt, aber
vielleicht wäre es in einer Zeit des Kollektivis-mus, in der abweichende
Meinungen sofort diffamiert werden und das Individuum nicht mehr und nichts
anderes als ein Produkt des Markenkonsums ist, eine tatsächliche
„Bereicherung“, sich auch mit einer so extrem andersgearteten Position
auseinanderzusetzen.
Auch
Thoreau wurde schon zu Lebzeiten mit Kritik konfrontiert. Stevenson nannte ihn
aufgrund seiner Zivilisationsflucht einen Drückeberger, andere Zeitgenossen
stießen ins selbe Horn und äußerten Zweifel, ob eine Gesellschaft Bestand haben
könne, wenn alle sich so verhielten wie er. Es lag allerdings nicht unbedingt
in seiner Absicht, seine Lebensweise zu einer allgemeinver-bindlichen Forderung
zu erheben. Gerade die Zeit am Waldensee war für ihn ebenjenes Innehalten,
Sich-Besinnen, ein Selbstversuch, ein Aufbruch, den er zu gegebener Zeit ja
dann auch abbrach.
Das
Naturrecht, das, bei allem persönlichen und weltanschaulichen Antagonismus,
unausgesprochen den Intentionen beider Autoren zugrundeliegt, ist eine durch
viele Jahrhunderte europäischer (und ausschließlich europäischer!) Geschichte
gewachsene Vorstellung, die bereits in der Antike fußt, nämlich in der
Philosophie Heraklits, Platons und Aristoteles, als überstaatliches, ewiges,
auf das Individuum bezogenes Recht, dessen Auswirkungen sich noch heute in den
Menschenrechtsbewegungen wiederfinden. Politische Bedeutung erreichte das
Naturrecht in der europäischen Aufklärung als Opposition zur unterdrückerischen
Adelsgesellschaft, nachdem jeder Mensch mit unveräusserlichen Rechten
ausgestattet ist, unabhängig von Geschlecht, Alter, Rasse oder
Staatszugehörigkeit, wovon einige Punkte graue Theorie blieben und in der
Praxis heute noch sind. Aber eine Idee lässt sich nicht aus der Welt schaffen,
und auch Personen wie der Dichter Goethe, der sein Leben lang legitimistische, um nicht zu sagen,
obrigkeitshörige Positionen vertrat, lässt in seinem „Faust den Ausspruch zu:
„Vom Rechte, das mit uns geboren ist, von dem ist leider nie die Frage“. Eine
Stelle, die bei Aufführungen in der Nazizeit regelmäßig für demonstrative
Ovationen der Theaterbesucher sorgte. Heute erleben wir im Zuge des Globalismus
teilweise eine Pervertierung dieser Idee, indem eine potentielle Gleichheit
aller Menschen im rechtlichen und abstrakten Sinn, zu einer Gleichmacherei und
Nivellierung aller Individuen und Kulturen mißbraucht wird.
Die
Vorstellung, dass einfach qua Geburt, durch seine bloße Existenz im Einzelnen
Rechte verankert sind, die gegebenenfalls über dem staatlichen, sogenannten
„positiven“ Recht stehen, kann diesen zwangsläufig in Kollision mit letzterem
bringen. Nichts bleibt dann übrig, als das Zurückgeworfensein des Individuums
aufs eigene Gewissen, mit all den Zweifeln und der Ausgesetztheit, der
Vogelfreiheit des „Waldgängers“ gegenüber einem allgewaltigen Moloch, dem sich
willfährig zu beugen jedem Mitläufer des herrschenden Systems ein besseres
Gefühl des Im-Recht-Seins verschafft, als dessen Gegner je haben wird - auch
aufgrund unkritisch überkommener Gefahrengewissheit und Feindortung, die
unüberprüft auf die herrschende Realität übertragen wird. Mit Scheuklappen
versehen, werden die sich wandelnden Formen des Bösen, ängstlich die eigene
Denkfaulheit und Bequemlichkeit schützend, ausgeblendet. Ignazio Silone 1988 :
„Wenn der Faschismus wiederkehrt, wird er nicht sagen, ich bin der Faschismus,
sondern, ich bin der Antifaschismus “, und, um nocheinmal Goethes Faust zu
zitieren: „Den Teufel spürt das Völkchen nie, und wenn er sie (sic) beim Kragen
hätte!“
Sowohl
Thoreau als auch Jünger waren solche widerständigen Einzelkämpfer, wie sehr im
persönlichen und weltanschaulichen Bereich sie auch immer Antipoden gewesen
sein mögen. Was den „Mythos Wald“ anlangt, so haben sie beide ihre ureigenen
Facetten jenem wahrscheinlich unsterblichen Topos abgewinnen können und ihm
weitere Bedeutungen hinzugefügt. (Die Philosophin Thea Dorn nannte Jüngers Essay
„die radikalste Verknüpfung von Wald und Freiheit in der deutschen Literatur“.)
Und
vielleicht haben uns solche extremen Individualisten auch und gerade heute noch
etwas zu sagen, in einer Zeit, die ihr höchstes Ideal in einer falsch verstandenen
Gleichheit aller Menschen sieht und vor nichts mehr Angst hat als vor dem
Ungewöhnlichen, im geistigen Sinn Radikalen, Überdurchschnittlichen,
Über-Normalen, vor dem geistigen Abenteuer, dem gefahrvollen, gewagten - auch
bis hin zum abgründigen - Denken mit offenem Ergebnis.
Und der
„Mythos Wald“? Vielleicht sind auch da – auf eine wohlverstandene, weder
romantisch verklärte, noch rückwärtsgewandte, völkisch
blutundbodenbehaftete, Weise – immer
noch Kräfte, Ressourcen und Wirkungen zu entdecken, die neue Energien und
Einsichten mobilisieren können, in welchem konkreten oder übertragenen Sinn
auch immer der Einzelne seinen ganz persönlichen Zugang finden mag.
Von der Lesung vom 21.5.2017 in der Bibliothek Gleichgewicht, und dem Gespräch von
Gabriele Folz-Friedl und Haimo L. Handl zum Thema MYTHOS WALD ist eine
Auswahl, redigiert von Diana Wiedra, in unserem Videokanal abrufbar.
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