Donnerstag, 1. Oktober 2015

Lettre International Nr. 110 / Neue Ausgabe



Lettre International Nr. 110 / Neue Ausgabe



Das neue Heft liegt in unserer Bibliothek auf! 
Aus der Verlags-e-mail:
 
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,
nun ist es soweit, heute erscheint die Herbst-Ausgabe von Lettre International, Nr. 110!
UNSERE THEMEN
Pünktlich zum Spielzeitbeginn warten wir auf mit einem Schwerpunkt zu Theater Kontrovers – Essays, Analysen und Bekenntnisse. Regisseure, Schauspieler, Bühnenbildner, Kritiker und Liebhaber der Bühne erlauben Blicke hinter die Kulissen: Vorhang auf! Weitere Schwerpunkte: Freiheit und Religion, Demokratie und Laizität / Ordnungen im Zerfall – ISIS, Syriens Tragödie und das „Great Game“ / Zeichenlabyrinthe – Schriftsteller im Dickicht der Dinge, in Traumszenerien, Spiegelwelten, Sperrbezirken und auf abenteuerlichen Fahrten / Texte aus Rußland, Sizilien, Indien, der Türkei und der Mittelmeerregion
KUNST
Die Künstlerin Jorinde Voigt illustriert die Ausgabe mit schwungvollen bildlichen Kompositionen: Die musikalisch aufgeladenen Arbeiten der Künstlerin konstituieren sich aus geometrischen und expressiven linearen Markierungen, aus Schrift und Zahlen, Farben und Formen und erinnern an Notationen, Diagramme oder Partituren. „Musikalische Partituren sind als konzeptionelle Setzungen Handlungsanweisungen für die Vorstellungskraft. Ich weite das Konzept der Partitur auf andere Bereiche aus.“
PHOTOPORTFOLIO
Der seit Jahren den existentiellen Tiefen des Menschen nachforschende französische Photograph Antoine d’Agata begleitet Menschen auf der Flucht. Eine Momentaufnahme: Odysseia.
POLITIK UND RELIGION
Überraschende geistige Korrespondenzen ruft Friedrich Dieckmann zum 25. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung in Erinnerung: Luther bei Marx & Engels. Auch wenn Friedrich Engels in seiner Betrachtung der deutschen Bauerkriege Luther als Fürstenknecht und Verräter der damaligen plebejischen Bewegung ansieht und die Reformation als „Nationalunglück“ begreift, gilt Luther Marx und Engels zuletzt doch als früher Revolutionär, der die Augiasställe der Kirche und der deutschen Sprache ausmistete; Marx würdigt Luther als „ältesten deutschen Nationalökonom“. Welche Rolle spielte die Lutherische Wirtschafts- und Gesellschaftsauffassung im sich marxistisch verstehenden ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden? War die DDR eine Art Fusion von Sowjet-Sozialismus und theologisch wünschenswerter Wirtschaftsordnung à la Luther? Realisierte sie protestantische Prinzipien – industriell modifiziert und auf atheistischer Grundlage? Hätte Luther etwa nicht den drei sozialökonomischen Grundsätzen der DDR Beifall gezollt: Sichere Arbeitsplätze, bezahlbare Wohnungen, preiswerte Nahrungsmittel? Sind also die Bürger der DDR vor 25 Jahren aus einem lutherisch formierten Staat in die calvinistisch geprägte Mammonskirche des Kapitalismus geraten, wo Geld, Kredit und Zins das Leben beherrschen? Eine Spurensuche.
Das Massaker in der Redaktion von Charlie Hebdo war eine Kriegserklärung an Meinungsfreiheit und Laizität, an die Entzauberung und die Moderne und somit an die Ausgestaltung dessen, was logisch und historisch das Fundament der Demokratie bildet.“ Der italienische Philosoph Paolo Flores d’Arcais formuliert Elf Thesen zur Laizität. Der Ausschluß Gottes, seines Wortes und seiner Symbole aus allen Bereichen, in denen der Staatsbürger der Hauptakteur ist, gehört für ihn zum Wesen der Demokratie. Den Gläubigen bleiben Kirchen, Moscheen, Synagogen und die Privatsphäre der Innerlichkeit. Die Religion ist nur dann mit der Demokratie vereinbar, wenn sie bereit und daran gewöhnt ist, Gott aus den staatsbürgerlichen Belangen und Konflikten auszuschließen: „Die Einforderung von Respekt für die eigene Religion, verbunden mit der öffentlichen Anerkennung jeder Gemeinschaft, deren Vehikel sie ist, negiert das Individuum gerade in seinem Recht auf Häresie, auf Apostasie, auf eine singuläre Existenz, fesselt es an die Zugehörigkeit zu einer Glaubens- und Blutsgemeinschaft und reduziert es auf eine Funktion der Gemeinschaft.“ Ein Plädoyer für die strikte Trennung von demokratischem Staat und religiösem Gesetz: „Die Laizität ist für die Demokratie eine Frage von Leben und Tod.“
ORDNUNGEN IM ZERFALL – SYRIEN, ISIS, GROSSES SPIEL
Damaskus war einst der Sitz der Umayyaden-Dynastie und Kapitale des ersten islamischen Imperiums. In Syrien begann 1516 die Absorption der arabischen Welt ins Osmanische Reich; im 19. Jahrhundert erlebte die arabische Welt mit der nahda ihre kulturelle Renaissance. Nach dem Fall des Osmanischen Reiches wurde das Land französisches Mandatsgebiet und territorial zerstückelt. Teile des Libanon und die Region Mossul im heutigen Irak wurden aus Syrien herausgeschnitten. 1939 traten die Franzosen mit dem Bezirk Alexandretta 40 Prozent der Syrien verbliebenen Mittelmeerküste an die Türkei ab und reduzierte dessen Küsten auf die Provinzen Latakia und Tartus. Mit der anfänglich populären Machtergreifung von Hafiz-al-Assad entwickelten sich Autokratie und oligarchische Herrschaft. Nach der Revolte gegen das Regime seines Sohnes Baschar al-Assad seit 2011 liegt das Land heute in Trümmern. 200.000 Tote, Millionen Menschen auf der Flucht, sind das Resultat des jahrelangen, von außen geschürten Bürgerkriegs. Die Milizen von ISIS beherrschen weite Teile des Landes. Der Islamismus dominiert die bewaffnete Opposition und scheint die demokratische Revolution in Syrien gekapert zu haben. Der Arabienexperte Hugh Roberts skizziert historische Hintergründe des Geschehens und enthüllt einige unbequeme Wahrheiten: Syriens Tragödie – die gekaperte Revolution.
Die türkische Sema Kaygusuz erinnert sich an ein bestimmtes Schweigen ihrer redseligen Großmutter: „Die Sterne am Himmel stellte sie neben die Steine auf dem Boden, Meer neben Gebirge, See neben Wüste und mich neben einen Feigenbaum. Sie erklärte mir, die Feige in ihrem Garten sei meine Schwester. Dieser sprudelnden Übermittlung zum Trotz erwähnte sie kein einziges Mal die Massaker, die sie 1937 und 1938 in Dersim miterlebt hatte. Warum? Was beschweigt ein Mensch, wenn er wie ein Wasserfall redet?“ Über die Ohnmacht der etablierten Sprache, das Erlebte artikulieren zu können, über Schuldgefühle, Opfernarrative und den Wunsch, in der Sprache der Feigen schreiben zu können. Erinnerung an ein Verbrechen an Alewiten und Kurden in der Türkei.
Pankaj Mishra nimmt den Siegeszug von ISIS zum Anlaß, das weltweite Umsichgreifen von Gewalt, Zynismus und Unzufriedenheit zu betrachten. Ein Großteil der globalen Gewalt entsteht nicht etwa aus religiösen, kulturellen, theologischen oder ideologischen Differenzen sondern aus viel umfassenderen Frustrationen, die mit dem Empfinden der Kluft zwischen den Freiheit- und Gleichheitsversprechungen des Westens und der faktischen Ohnmacht und Ausweglosigkeit vieler Menschen zu tun haben. Die Energien des postkolonialen Idealismus haben sich verflüchtigt. Politische Sackgassen und ökologische Schocks werden im planetarischen Maßstab sichtbar. Die Phantasie eines transnationalen Kalifats entfesselt das vorhandene Ressentiment gegen den Status quo. Ein anderer Blick auf ISIS.
Das Große Spiel und die Entstehung dieser berühmten Figur weltstrategischen Denkens zeichnet Alfred McCoy nach. 1904 hielt Sir Halford Mackinder vor der Royal Geographical Society in London einen Vortrag über den „Geographischen Dreh- und Angelpunkt der Geschichte“. Scharfsinnig identifizierte er die ungeheure Landmasse von Euro-Asien zum Epizentrum des Planeten und sein Herzland von 6.400 Kilometern zwischen dem Persischem Golf und dem Ostsibirischem Meer zum strategischen Zentrum der Weltbeherrschung. „Wer das Herzland regiert, regiert die Welt-Insel“, so Mackinder. „Wer die Welt-Insel regiert, gebietet über die Welt.“ Mackinders These vom Kausalzusammenhang zwischen Geographie und Weltbeherrschung und vom Kampf um die Beherrschung der „Saumländer“ dieses Herzlandes analysierte die Imperative des „Great Game“. War es im 19. und 20. Jahrhundert der Kampf um Suprematie zwischen Seemacht und Landmacht, zwischen Britischem Empire und Rußland, welche die Weltpolitik prägte, so kristallisiert sich mit der Konkurrenz zwischen den Vereinigten Staaten und China heute eine neue Rivalitätsachse.
ZEICHENLABYRINTHE
Ein Umzug ist die brutalste Abrechnung mit dem Sinn, nicht nur mit dem dieser zum Umgestelltwerden verurteilten Gegenstände, das Umsiedeln ist der letzte Moment, das Jüngste Gericht, ein Schritt zur Hölle, weit seltener zur paradiesischen Heiterkeit des Neuen.“ Bora Ćosić zieht um. Ausnahmezustand, Belagerungszustand! Schuhlöffel, Korkenzieher, Bretter mit Garderobenhaken, Griffe, Holz, Blech und Plastik lösen sich aus der gewohnten Ordnung. Und bieten Anlaß zum Staunen: „Die Bücher sind schwer und hart, nicht einmal die zarteste Lyrik hat etwas vom Schweben, alles fällt, stürzt, wehrt sich dagegen, in den Verbanntenwaggon meines Umzugs hineingestopft zu werden.“ Einzelne Bände warten in sklavischer Aneinanderreihung auf den endlosen Regalen, diesem polizeilichen Regulativ der Bibliothekare und Bibliophilen! Doch die Bibliothek ist zum Exodus verdammt. „Ich bekomme selbst Lust, meine wertvollsten Bücher aus dem Fenster zu werfen, auf die Straße, nur damit mein Martyrium aufhört ... In meinem Innern verfluche ich leise die Gewohnheit der Schwerkraft ...“ Eingespielte Beziehungen werden auf den Kopf gestellt: Ordnung des Umzugs, Unordnung der Dinge.
Der Grandseigneur des italienischen Kriminalromans, Andrea Camilleri, Erfinder des legendären Comissario Montalbano, ist nunmehr neunzig Jahre alt geworden. Er spricht mit Frank Helbert und Gabriella Vitello über den Zustand Italiens, die Geschichte von West- und Ostsizilien, die Wurzeln der Mafia und deren Modernisierung, den langwierigen Kampf der Justiz gegen die Malavita, sowie über das verlotterte Italien und die einst wundervolle Idee von Europa, das seine Ideale und Prinzipien in einem Krieg von allen gegen alle zu verlieren droht: Weniger auf Geld hören!
Vladimir Nabokov zählte Franz Kafkas vor 100 Jahren erschienene Erzählung Die Verwandlung zu den Meisterwerken der Moderne. Formstrenge und Durchsichtigkeit des Stils verbinden sich mit einer Alptraumthematik. Wurde die unglaubliche Insektengeschichte um die körperlichen Metamorphosen des Käfer-Menschen und die seelischen Transformationen seiner Familie von Ideen des Kubismus inspiriert, die über die Prager Künstlergruppen importiert wurden? Inspirierten Pablo Picassos Gemälde Demoiselles d’Avignon und Dame in Grün sowie Paul Cézannes Dame mit Pelz mittelbar erzählerische Entsprechungen? Perspektivwechsel, biomorphe Deformation, Erforschung des Raums aus verschiedenen Blickwinkeln, Zerlegung des Objekts, vieles spricht dafür, daß Kafka kubistische Verzerrungen als Reflex emotionaler oder geistiger Disposition verstand und erzählerisch einsetzte. In Gespräche mit Kafka berichtet Gustav Janouch vom Besuch einer Ausstellung mit Picasso-Gemälden: Stilleben und rosa Frauen mit riesigen Füßen. „Das ist ein mutwilliger Deformator“, meinte ich. „Das glaube ich nicht“, sagte Kafka. „Er notiert bloß die Verunstaltungen, die noch nicht in unser Bewußtsein gedrungen sind.“ Kubismus als Inspirationeine Spurensuche von Detlev Schöttker
Stunden mit Borges verbrachte der englische Schriftsteller Nicholas Shakespeare und erinnert sich, wie er als Sechzehnjähriger in Buenos Aires dem blinden Bibliothekar und berühmten Schriftsteller aus Texten der Weltliteratur vorlesen durfte. „Borges ist ebenso geschickt darin, das gesamte Universum in eine einzige Nußschale zu pressen, die man in seiner Hand halten kann, wie darin, es zu einem Spiegellabyrinth auszudehnen, in dem der Erzähler unendlich oft reflektiert wird, ohne je zu wissen, welches der vervielfältigten Bilder das wahre Spiegelbild ist, wenn es überhaupt eines gibt: „Es gibt keine Behauptung, die nicht das gesamte Universum impliziert; zu sagen ‘der Tiger’ heißt von den Tigern zu sprechen, die ihn gezeugt haben, dem Wild und den Schildkröten die von ihm verschlungen worden sind, dem Gras, von dem sich das Wild ernährt hat, die Erde, die das Gras hervorgebracht hat, dem Himmel, der die Erde hat entstehen lassen.“ Aufzeichnungen über Shakespeare, Kipling, Homer und Bruce Chatwin, über Zeit, Unendlichkeit und Metaphysik, über magische Präzision, die Liebe zum Phantastischen und Duelle in der Nachtluft.
Es regiert der Kalte Krieg. Die kleine Olga lebt im Rhythmus des oft abwesenden Vaters, nicht ahnend, daß er eine Raketenabschußtechnik für U-Boote konstruiert, die auch für Weltraumraketen benutzt wurde. Gehörte der Vater zum Personal des legendären, mysteriösen Weltraumbahnhofs in Plessezk? Rechnertechnik der Breschnjew-Ära, kasernierte Forscher, Ingenieursarbeit in einem geheimen militärisch-industriellen Komplex. Olga Slawnikowa gibt intime Einblicke in die Auflösung der Sowjetunion durch wache Kinderaugen: Papa ist ein Alien.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als der nach Amerika zurückgekehrte Henry Miller die USA durchreiste und einen Klimatisierten Alptraum erlebte und Jack Kerouac Unterwegs war, um Frauen, Rausch und Jazz zu erleben, war auch Georg Stefan Troller „On the Road“: Nach seiner Demobilisierung 1946 mischte er sich unter Tramper, Hobos, Drifters, Wanderer und Vagabunden, durchquerte Arizona, Kalifornien, Texas, die Black Mountains, Reservate der Navajo und Hopi, Mexiko und Guatemala, auf den Spuren von D. H. Lawrence, Upton Sinclair, John Huston, Jack London und B. Traven. Er öffnet seinen Koffer der Erinnerungen.
THEATER KONTROVERS
Die gesamte Theaterlandschaft befindet sich in einer Umbruchphase. Der Stellenwert der Literatur des Theaters verfällt rapide, im Namen der Authentizität werden endlose Angriffe auf die Mimesis und die Techniken der Repräsentation geführt. Konnten im 20. Jahrhundert Künstlertheater wie sie sich mit den Namen Grotowski, Brecht, Stein, Brook und Mnouchkine und anderen verbinden, durch Zeit und Raum strahlende Leuchttürme der Schauspielkunst errichten, scheinen diese Tage des anhaltenden Glanzes im 21. Jahrhundert für immer verflogen. Und doch werden die Sehnsucht nach Verwandlung und das Glück der Metamorphose den Menschen weiterhin begleiten und ihm in noch unausgeloteten Möglichkeitsräumen wieder vorangehen: Essays, Analysen und Bekenntnisse
Der spanische Shakespeare-Experte Andreu Jaume widmet sich Shakespeares Macht: Ungeheuer ist dessen Fähigkeit, in seinen Figuren zu verschwinden, ohne einer Macht, einer Ideologie, einer Religion zu dienen. Seine Werke haben Könige, Prinzen und Fürstenberater als Protagonisten, dramatisieren Staatsfehden, Verrat, Verschwörung, Lossagungen, doch statt einer Nähe zur Monarchie trägt Shakespeare Verachtung für Konventionen zur Schau. Er verbindet sich mit keinerlei Weltanschauung, sondern bringt den Menschen angesichts des Menschen zum Staunen: „The Play’s is the thing ...“. Der Dichter huldigt einem anthropologischen Realismus: der Erkenntnis der Menschennatur. Mit gleicher Intensität feiert und verurteilt er die Welt. Statt der Macht, die beherrschen will, favorisiert er eine andere Eminenz: die virtuellen Möglichkeiten des Menschen, sein Privileg der Vorstellungskraft und des Denkens.
Shakespeares legendären Zeitgenossen porträtiert Heathcote Williams: Christopher Marlowes Leben und Tod. Im elisabethanischen England bedeutete Freidenkertum Subversion, Atheismus kam einem Kapitalverbrechen gleich. Marlowe, ketzerischer Freigeist und kraftvoller Dramatiker, zog die Wissenschaft dem Aberglauben vor, riskierte Leben und Freiheit, um Tyrannei und Korruption zu verspotten und wurde vermutlich ermordet. Seine Theaterstücke sind Naturgewalten, sein Doktor Faustus inspirierte über Goethe hinaus die Dramatiker vieler Jahrhunderte. Er „brach ein in die elisabethanische Nacht wie ein Komet und wurde jäh zu Boden geworfen“.
Der Traum einer perfekten Theaterinszenierung kollidiert stets erneut mit den Wandlungen, dem Verschleiß, den Abweichungen, denen ein vollendetes Werk in der Praxis unterliegt. Der Versuch absoluter Beherrschung, der Konservierung einer vollkommenen Aufführung, bleibt vergeblich. In Perfektion verliebte Utopisten – Gordon Craig, der späte Brecht, Tadeusz Kantor, Robert Wilson oder Ingmar Bergmann – sind getrieben vom Verlangen nach einem Werk und einer dauerhaften künstlerischen Signatur, doch müssen sie in ihrem Versuch nach unverrückbaren Inszenierungen letztlich scheitern. Zu unberechenbar ist das Spannungsfeld dieser Kunst des Augenblicks eingebettet zwischen Ordnung und Unvorhersehbarem, zwischen der Autorität des Regisseurs und der Kreativität von Gruppe, Bühne und Publikum. Georges Banu erkennt in der Kunst der Unvollendung das Wesen des Theaters. Eine Tour d’horizon durch die Theatergeschichte.
Dieter Dorn, Regisseur und ehemaliger Intendant der Münchner Kammerspiele und des Residenztheaters, verkörpert die hohe Zeit des Sprech- und Literaturtheaters. Seine vielfach ausgezeichneten Inszenierungen umspannen den Kanon der dramatischen Literatur. Im Dialog mit Frank M. Raddatz erinnert er sich an seine Arbeit mit Botho Strauß, Thomas Bernhard und Peter Handke, erzählt von Sternstunden und Entdeckungsreisen, den Geheimnissen der Regie, der Figur und des Ensembles sowie dem bleibenden Potential des Modells Stadttheater. Gegenwelten erschaffen!
Bernd Stegemann, Theatertheoretiker, erinnert an Max Reinhardts Idee des Künstlertheaters, das die Kunst des Schauspielens und des Ensembles, die dramatische Interaktion der Figuren statt des einzelnen Virtuosen ins Zentrum rückte. Später entwickelte sich mit dem Regietheater eine einsame Machtfülle des Regisseurs, die den Schauspieler vom autonomen Künstler zum abhängig Beschäftigten werden ließ. Heute halten Managerintendanten, Kuratoren Vernetzungskünstler der „creative industry“ Einzug ins Theater. Wohin entwickeln sich Drama und Schauspielkunst? Hat das deutsche Theatersystem mit seinem dichten Netz von Staats- und Stadttheatern Zukunft? Künstlertheater Jetzt!
Tanz und Theater verwertbar zu machen, daran wird heute gearbeitet: Theater als Beute. Tanz als Beute“. Aber als „Ornament am Arsch des Kapitalismus“ wollte der überraschend verstorbene Bühnenbildner Bert Neumann das Theater gerade nicht verstanden wissen: „Mich hat am Theater immer interessiert, daß es nicht ums Verkaufen geht, daß man Sachen schafft, die unverkäuflich sind. Wenn ich als Künstler etwas mache, muß es mit mir zu tun haben, dann kommt man um das Authentische nicht herum. Das ist ein anderes Denken, als das eines Kulturfunktionärs, den die Verwertung eines Produkts beschäftigt. Aus einem nachgelassenen Gespräch: Störungen
Kathrin Röggla war als Gerichtsschreiberin Embedded in einem inszenierten Völkerrechtstribunal. Ein Richter und ein Begründer des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag, der kongolesische Oppositionsführer, die Soziologin Saskia Sassen, ein Menschenrechtsanwalt, Zeugen und Gerichtspersonal hielten das Berliner „Kongo-Tribunal“ ab. Tatsächlich kann ein solches nicht stattfinden, denn Wahrheits- und Versöhnungskommissionen sind trotz des Wunsches der kongolesischen Bevölkerung nicht möglich. Also inszenierte man ein „Kongo-Tribunal auf Berliner Theaterbrettern. „Es war kein reenactment, es handelte sich vielmehr um eine Aufforderung an die Realität“, ein kleines Theatermonster, das Realitätseffekte erzeugt. „Handelte es sich um Kunst als „Vorahmung“?“ Überzeugt das Tribunal als aktuelle Theaterform?
Leben! Benutz mich! Die Schauspielerin des Jahres 2014, Bibiana Beglau, spricht in einem sprühenden Interview mit Frank M. Raddatz über den schmalen Grat der Schauspielkunst zwischen Mimesis und Authentizität. Beglau schildert die Lust am Spiel über dem Abgrund der Gefühle und das Sich-Einlassen auf den Irrsinn der Welt. Wesentliches, Hingabe, Durchhaltevermögen, Eigenverantwortlichkeit, Hybris und Seelenunfälle. Die Knochen zum Sprechen bringen, den Schmerz spüren, vom Leben gefressen werden ... Die Grimme-Preis-Trägerin über Texte, die Fleisch werden, über Bühne und das harte Spiel zwischen Erwachsenen, über Glück, Liebe und Haß, Tyrannei und Anarchie sowie über letzte Grenzen. Inspirierter und radikaler Klartext einer unangepaßten Schauspielerin.
Nach dem Besuch einer Theateraufführung der Gruppe Rimini Protokoll amüsiert sich Alexander García Düttmann in Teilnahmslose Kunst über eine performative Theaterpraxis, die in der Teilnahme des Zuschauers und einer damit einhergehenden Reflexion den Weg zur politischen Veränderung erkennen will. Die Aufführung Hausbesuch Europahat das Vorurteil bekräftigt, das mein Nachdenken über Teilnahme, Politik und Gegenwartskunst zuvor schon geprägt und mich zum Kauf einer Karte veranlaßt hatte – den Verdacht, daß in der Gegenwart die künstlerisch-politische Inszenierung der Teilnahme häufig einem Taschenspielertrick ähnelt. Dieser Taschenspielertrick besteht darin, daß man in dem Augenblick, in dem man nach der Kunst fragt, auf die Politik verwiesen, und in dem Augenblick, in dem man nach der Politik fragt, wiederum auf die Kunst verwiesen wird.“
1977 wird Heiner Müllers Die Hamletmaschine veröffentlicht. Obwohl lange nicht klärbar schien, was es mit Müllers komplexen surrealen Bildern auf sich hat, erweist sich die enorm komplexe Um- und Überschreibung von Shakespeares Original bald als Welterfolg. Inszenierungen in Paris, Tokio, New York bezeugen den enormen Sog, der von den wenigen Seiten ausgeht. Robert Wilson bringt den auch formal innovativen Theatertext ebenso zur Aufführung, wie er Soundlandschaften der Einstürzenden Neubauten inspiriert oder Wolfgang Rihm zu einer Vertonung anregt. Ein metaphorischer Blitz fährt in die globale Theaterlandschaft und löst ein Assoziationsgewitter aus, das seinesgleichen sucht. Frank M. Raddatz analysiert in Sprengung eines Traums die Genese jener späten Texte Heiner Müllers, die aufgrund ihres nichtdialogischen Charakters gerne als Mutterboden der Postdramatik ausgewiesen werden. Doch der Boden ist kontaminiert. Tief ist ihm die Kapitulation vor der Gewalt eingeschrieben. In Hamletmaschine als Urform postutopischer Ästhetik manifestiert sich Müllers gescheiterte Hoffnung auf ein absehbares Ende der Gewalt in der Geschichte und sein Bruch mit der Utopie. Dieser fundamentalen Fraktur in Müllers Erzählung der Gewalt geht eine lange Auseinandersetzung mit der Gewalt und ihrer möglichen Überwindung voraus. Von einem Grundschock sensibilisiert wird anfänglich der Epidemie der Gewalt auch ihre Regulierung gegenübergestellt; bis der Kampf gegen die Vertierung durch Gewalt einer neuen Lust an der Gewalt weicht. Die Geschichte erweist sich als Sackgasse und statt ihrer eröffnet sich ein zukunftsloser Horizont. Mit der Renaissance der Eiszeit, dem Abschied von der Utopie einer gewaltfreien Welt zerfällt jene Allianz zwischen Kunst und dem Politischen, die geschichtliche Erwartungshorizonte im Namen eines auch absoluten Anderen einmal geschmiedet hatten. „Wer in den Spiegel sieht und sich nicht sieht, ist ein Vampir!“ (Heiner Müller).
BRIEFE, KOMMENTARE, KORRESPONDENZEN
Irren ist menschlich, darauf beharren teuflisch!“, und dies bezieht der italienische Psychoanalytiker Sergio Benvenuto auf die Postulate des Okzidents. Ein solches Auf-dem-Irrtum-Beharren ist nicht nur der Glauben, das eigene sozialdemokratisch-liberale politische System sei das beste für jedermann auf der Welt, sondern auch die Überzeugung, daß ein jedes Volk, wenn es erst einmal Diktaturen befreit ist, spontan und naturgegeben zur Demokratie und dem laizistischen Liberalismus tendiert. Doch spricht die Geschichte eine andere Sprache, wie die Entwicklungen in Iran, im Irak, Libyen oder Syrien zeigen. „Für Freiheit und Gleichheit muß man kämpfen, in dem Wissen, daß es Utopien sind.“
Eine Insel, in der viele Inseln stecken, eine Insel als Kontinent, die Insel als Welt, die Insel der Pest und nicht der Vorsehung, Metapher Italiens und Archetyp Europas. Eine von Gegensätzen bewohnte Insel, in der Natur wie in den Menschen: üppig oder trocken, vulkanschwarz und meersalzweiß, schweigsam und beredt, blutrünstig und heroisch, mißgläubig und devot. Eine Insel, die zerrissen ist von Kriminalität und Zivilcourage, von Todeskult und wahnsinniger Lebensgier, von Zurückhaltung und Zurschaustellung, von Fluchtbegehren und dem Ruf zur absoluten Einsamkeit“, so sieht Fabio Stassi seine Heimat Sizilien und erinnert sich an ein einschneidendes Ereignis seiner Geschichte.
Der Journalist Arkadi Babtschenko ist ein namhafter Kriegsreporter Rußlands; er kämpfte als einfacher Soldat in Tschetschenien. Sein Bericht Der Tag der Kriegsveteranen schildert das Schicksal von Veteranen der russischen Armee. Sie beziehen miserable Pensionen – wenn überhaupt. Mit schweren Verletzungen läßt man sie oft alleine. Ihre Rechte werden mit Füßen getreten. Proteste bringen sie zumeist ins Gefängnis. Unidentifizierte Tote der Einsätze werden auf Friedhöfen verscharrt. Die staatlich kontrollierten Medien feiern ihre Heldentaten pathetisch und beschweigen ihr Elend.
Ein leidenschaftliches Plädoyer für ein Wiedererblühen des Mittelmeeres hält Alida Bremer. Stolz waren die Bewohner des Mittelmeeres auf seine reiche Geschichte, seine Völkervielfalt, seine Rolle als Zentrum der antiken Welt, Schnittstelle zwischen Orient und Okzident und als Wiege des modernen Europas. Doch der Glaube, als Mittelmeeranwohner ein Privileg auf historische Dauer zu haben war überheblich. Heute ist das Mittelmeer zunehmend geprägt von Krieg, touristischer Gentrifizierung, Kriminalität und Fluchtbewegungen. Luxuskreuzfahrtschiffe fahren in die eine Richtung, Schlauchboote in die andere. Könnte das Mittelmeer wieder zu einem Sehnsuchtsort werden? Über den Traum von einer besseren Zukunft.
Urvashi Butalia berichtet in Abschied, Selbstmord, Euthanasie über indische Diskussionen, über den freiwilligen Tod in der Religionsgemeinschaft der Jains, der im Einklang steht mit anderen asketischen Praktiken dieser Religion. Diese jahrhundertealte Praxis ist nun juristisch als gesetzwidriger Selbstmord eingestuft worden. Butalia über eine breite Debatte, über das Recht auf Leben und die Pflicht zu leben, über legalen und illegalen freiwilligen Tod und die Macht des Staates über das Leben.
Michail Ryklin berichtet von den Konsequenzen der internationalen Wirtschaftsaktionen des Westens gegen Rußland und die Veränderung der Ernährungslage. Man speist in belagerter Festung, die Politik der Importsubstitution mündet in verminderter Qualität, sanktionierte Waren finden sich nur auf dem Schwarzmarkt, die Menschen tarnen ihren wachsenden Zynismus mit gespielter Naivität: Laben wir uns am Quarkchen.
Wir wünschen gute Lektüre, einen goldenen Herbst und hoffen, Sie bleiben uns gewogen!
Mit unseren besten Grüßen,
Lettre International

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