Mittwoch, 21. Juni 2017

Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft, 4. Buch 296

296.

Der feste Ruf. — Der feste Ruf war ehedem eine Sache der äussersten Nützlichkeit; und wo nur immer die Gesellschaft noch vom Heerden-Instinct beherrscht wird, ist es auch jetzt noch für jeden Einzelnen am zweckmässigsten, seinen Charakter und seine Beschäftigung als unveränderlich zu geben, — selbst wenn sie es im Grunde nicht sind. „Man kann sich auf ihn verlassen, er bleibt sich gleich“: — das ist in allen gefährlichen Lagen der Gesellschaft das Lob, welches am meisten zu bedeuten hat. Die Gesellschaft fühlt mit Genugthuung, ein zuverlässiges, jederzeit bereites Werkzeug in der Tugend Dieses, in dem Ehrgeize Jenes, in dem Nachdenken und der Leidenschaft des Dritten zu haben, — sie ehrt diese Werkzeug-Natur, diess Sich-Treubleiben, diese Unwandelbarkeit in Ansichten, Bestrebungen, und selbst in Untugenden, mit ihren höchsten Ehren. Eine solche Schätzung, welche überall zugleich mit der Sittlichkeit der Sitte blüht und geblüht hat, erzieht „Charaktere“ und bringt alles Wechseln, Umlernen, Sich-Verwandeln in Verruf. Diess ist nun jedenfalls, mag sonst der Vortheil dieser Denkweise noch so gross sein, für die Erkenntniss die allerschädlichste Art des allgemeinen Urtheils: denn gerade der gute Wille des Erkennenden, unverzagt sich jederzeit gegen seine bisherige Meinung zu erklären und überhaupt in Bezug auf Alles, was in uns fest werden will, misstrauisch zu sein, — ist hier verurtheilt und in Verruf gebracht. Die Gesinnung des Erkennenden als im Widerspruch mit dem „festen Rufe“ gilt als unehrenhaft, während die Versteinerung der Ansichten alle Ehre für sich hat: — unter dem Banne solcher Geltung müssen wir heute noch leben! Wie schwer lebt es sich, wenn man das Urtheil vieler Jahrtausende gegen sich und um sich fühlt! Es ist wahrscheinlich, dass viele Jahrtausende die Erkenntniss mit dem schlechten Gewissen behaftet war, und dass viel Selbstverachtung und geheimes Elend in der Geschichte der grössten Geister gewesen sein muss.

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