Sonntag, 21. Mai 2017

Gabriele Folz-Friedl: Mythos Wald

 








Gabriele Folz-Friedl: Mythos Wald

Henry David Thoreaus "Walden – ein Leben in den Wäldern" vs. Ernst Jüngers "Der Waldgang"



Henry David Thoreau, dessen Geburtstag sich am 12. Juli 2017 zum zweihundertsten Male jährt, verfasste sein bekanntestes Werk „Walden“, nachdem er sich für zwei Jahre in die Einsamkeit der Wälder rund um den Waldensee in Massachusetts zurückgezogen hatte, um dort das „einfache Leben“ kennenzulernen. Noch heute ist die Strahlkraft der später in der Hippiebewegung so bezeichneten „Aussteigerbibel“ ungebrochen und übertrifft an Bekanntheitsgrad und Wirkung ohne weiteres ein Werk, dessen hier vergleichend und gegenüberstellend ebenfalls gedacht werden soll:  es handelt sich um den knapp hundert Jahre später erschienen Essay Ernst Jüngers „Der Waldgang“. Ein Text, der, jedenfalls was dessen gesellschaftspolitische Dimension anlangt, meines Erachtens eine ungleich größere Sprengkraft aufweist als „Walden“.

            Gleichwohl gibt es neben allen Unterschieden und auch trotz des fundamental verschiedenen Ansatzes der Autoren nicht wenige thematische Überschneidungen, vor allem aber eine Leitlinie, deren Bedeutung kaum zu überschätzen ist, da sie sich eines jahrhundertealten vielgestaltigen und offenbar unsterblichen Mythos bedient, nämlich des „Mythos Wald“.

            Das gesellschaftskritische Element im Werk Thoreaus ist unübersehbar, es lässt sich sogar eine grundsätzliche Widerständigkeit gegenüber Staat und Gesellschaft feststellen, die in der Idee des zivilen Ungehorsams gegenüber der Staatsmacht gipfelt -  was in diesem Fall jede Art von Widerstand einschließt, sofern er gewaltlos ist. Eine Haltung, von der sich in der Folge etliche historische Personen mit bürgerrechtlichen Anliegen, wie zum Beispiel Gandhi und Martin Luther King, inspirieren ließen und daraus ihre Legitimation herleiteten. Bei Thoreau führte dies in einer bestimmten Phase seines Lebens zu Steuerverweigerung und Gefängnis, da er auf solche Weise seinen Protest gegen die Sklaverei und die Kriegspolitik der USA gegenüber Mexiko ausdrücken wollte. So aufs Nachdrücklichste seine Auffassung unterstreichend vom absoluten Primat des persönlichen Gewissens vor den staatlichen Gesetzen. Er machte deutlich, dass er sein Wort : „Der wahre Platz eines freien Menschen in einem Verbrecherstaat ist das Gefängnis“,ohne Umstände mit allen Konsequenzen in die Realität umzusetzen bereit war. Folgerichtig entgegnete er seinem Freund Emerson, der ihn finanziell auslöste, auf dessen entgeisterte Bemerkung, warum er hier (eben im Gefängnis) sei, lakonisch: „Und warum bist du nicht hier?“ (Wobei der Ordnung halber zu bemerken ist, dass von der genannten Episode mehrere Varianten existieren, die historisch allesamt nicht gesichert zu sein scheinen. Kritiker behaupten, dass Thoreau hier Tatsachen umgedeutet und geschönt und lediglich an seinem eigenen Heldenmythos gebastelt habe. An seiner grundsätzlichen Haltung ändert dies jedoch nichts.)

            Mit Emerson, dem Begründer des vom deutschen Idealismus beeinflussten amerikanischen „Transzendentalismus“, zu dessen Kreis auch Persönlichkeiten wie Hawthorne und Walt Whitman zählten, verband ihn nicht nur die gemeinsame Ideenwelt, sondern auch eine enge Freundschaft. Der Waldensee, an dessen Ufer Thoreau sein Blockhaus baute, lag auf einem Emerson gehörenden Grund und in der Nähe eines Dorfes, also nicht so weit ab der Zivilisation, dass der Kontakt zu dieser völlig unterbrochen war, aber einsam genug, dass er hier seine Vorstellungen von der Rückkehr zur „Einfachheit“mit allen sich daraus ergebenden Folgen für alle Lebensbereiche, verwirklichen konnte. Emerson, sowie andere ihn umgebende Transzendentalisten, teilte diese Vorstellungen im Wesentlichen, ohne  freilich ähnlich rigoros in deren Umsetzung zu sein – oder auch sein zu wollen.

            Thoreaus Ethik basierte zwar auf dem Christentum, aber ohne dass er im eigentlich christlichen Sinn gläubig gewesen wäre – in einem andern Sinn und auf seine Weise war er dies aber sehr wohl. Wie andere amerikanische Transzendentalisten war er Anhänger des schellingschen  Pantheismus, eine Theorie, die von einer grundsätzlichen Beseeltheit der Schöpfung, sowie der Gegenwart des sich in der Natur stetig fortzeugenden und immer neu manifestierenden Göttlichen ausgeht. Er besaß also das, was in der deutschen Romantik gerne „Naturfrömmigkeit“ genannt wurde. Als Idealist glaubte er an eine fortschreitende Vervollkommnung des menschlichen Geschlechts durch die unermüdlichen diesbezüglichen Bestrebungen des Individuums, das ihm überhaupt wichtiger als jegliche abstrakte Gesellschaftstheorie war (worin er sich übrigens mit Jünger trifft).                                                                          
           
            Dass zwei Weltkriege später, mit einhergehender gesellschaftlicher Verrohung und kaum für denkbar gehaltener Verbrechen, ein Ernst Jünger die menschliche Natur mit weit weniger Optimismus betrachten musste, liegt auf der Hand. Jüngers Humanismus ist ein zutiefst elitärer, indem er - vor allem unter widrigen bis katastrophalen Umständen - ausschließlich dem aus der Masse herausgehobenen Einzelmenschen die mutige Bewahrung und Verteidigung des Humanen, notfalls unter Einsatz des Lebens, zutraute. Eine zutiefst unzeitgemäße Einstellung, für die jedoch gute Gründe geltend zu machen sind, wie jeder Blick zurück in die Geschichte, nicht zuletzt auf etliche, noch nicht lange vergangene Diktaturen, nahelegen könnte. Deswegen ist sein „Waldgang“ auch ein im eigentlichen Wortsinn radikaler, an die stets bedrohten Wurzeln menschlicher Existenz gehender, fundamental anders gewichteter Text, der Topos „Wald“ aufgeladen mit Bedeutungen, die in Thoreaus Schrift nur gestreift werden . Was sich in Jüngers Text gänzlich abwesend zeigt, ist die liebevolle stiftersche Versenkung in die Natur, ins Nahe, Kleine, Schützenswerte, die Thoreau in der Muße seiner Abgeschiedenheit und in der Gnade einer knapp hundert Jahre früheren Geburt, sich noch unbelastet und unbefangen gönnen konnte.

            Ist der Wald für Thoreau ein Ort des unmittelbaren Erlebens, der Naturbeobachtung, doch auch der Introspektion, ein Ort, der die Produktion gepflegter philosophischer Gedanken fördert, die zuweilen sehr tief sein können, wohlformuliert und teilweise von berückender Poesie, zuweilen hingegen die biedermeierliche Betulichkeit von Kalendersprüchen streifen, so ist der Wald für Jünger neben aller zugrundeliegender Erlebnishaftigkeit (Jünger war leidenschaftlicher Naturbeobachter und Insektenkundler) vor allem auch ein theoretisches, ein philosophisches Konstrukt, das sich durchaus ebenso auf übertragene Phänomene beziehen kann. Der Wald kann ohne weiteres der sogenannte „Großstadtdschungel“ sein, kann überhaupt jeder Ort sein, der dem Individuum erlaubt, sich aus einer komplett durchverwalteten Welt in regellose, anarchische Situationen zu begeben, die die Möglichkeit bieten, die Karten grundsätzlich neu zu mischen. Er ist jedenfalls die Zuflucht dessen, der sich gejagt und ausgestoßen weiß, der Rückzugsort des Partisanen, des heimlichen Gegners eines herrschenden Systems – und Jünger weist darauf hin, welcher Doppelsinn diesem deutschen Wort „heimlich“ innewohnt, welches im Heimlichen vertraut Heimisches und verstörend Unheimliches, Verborgenes mitschwingen lässt.

            Aber für beide, Thoreau wie Jünger, ist der Wald der Ort des Heraustretens aus dem Gewohnten, das ganz Andere, der absolute Gegenpol zu den Zwängen einer wie immer gearteten Gesellschaft,  der Ort des Archaischen, des Anti- oder  vielmehr Vor-Zivilisatorischen, der grundsätzlichen Zivilisationskritik. Konsequent zuende gedacht und ins Bösartige gewendet, kann so geartete Kritik auch in Zivilisationsfeindlichkeit umschlagen und  pathologische Züge annehmen, wie im Falle des als „Una-Bomber“ bekannt gewordenen Ted Kaczynski, der,  hochintelligent, und, als Hochschulprofessor der Mathematik, selbst ein Produkt der ihm im Laufe seiner Entwicklung immer verhasster werdenden Wissenschafts - Gesellschaft, seinen Hass vor allem auf deren technische Errungenschaften richtete, bis er sich in eine einsame Blockhütte in den Wäldern zurückzog, um endgültig mit der Welt   „da draußen“ zu brechen. Hier geriet er immer tiefer in allgemeinen Menschenhass und ins  Krankhafte gesteigerte Aggression, bastelte (sein technisches Wissen und Geschick erlaubte dies schließlich) raffinierte Briefbomben und begann, diese an herausragende Protagonisten des einschlägigen Hochschulbetriebs zu versenden, bis man ihn schließlich aufspürte und verhaftete. Ob der Umstand, dass er bei seinem Rachefeldzug ausgerechnet wieder auf die Technik zurückgriff, die er doch bekämpfen wollte, als bewusste Ironie zu betrachten ist, ist nicht bekannt.

            Man sieht also, der Mythos Wald  beinhaltet auch Destruktion, Verirrung und Verstörung, beinhaltet tiefe Ambivalenzen, die aber vielleicht in diesem Spannungsverhältnis gerade dessen Lebendigkeit und unerschöpfliche Fruchtbarkeit ausmachen.

            Ist Thoreau ein später Nachzügler der europäischen Romantik mit einem Menschenbild, das dem Rousseaus verpflichtet ist und das so wenig Staat wie möglich einfordert, um das Individuum in seinem postulierten Naturzustand so wenig wie möglich zu behelligen und einzuschränken, so ist Jünger in diesem Punkt weit schwieriger einzuschätzen. Sein Menschenbild ist jedenfalls sehr viel pessimistischer, geht nicht vom zivilisationsfernen und deswegen „edlen“ Wilden aus (ein Topos, der aktuell in andern Zusammenhängen wieder unfröhliche Urständ feiert),  es ist der Vorstellung Thomas Hobbes vom Menschen als dem „Wolf des Menschen“ wesentlich näher, ohne jedoch dessen Konsequenzen daraus zu ziehen. Auch Jünger ist daran gelegen, den Wirkungsbereich des Staates so weit wie möglich einzuschränken, aber nicht zugunsten und im Sinne allgemeiner Gleichheit, sondern indem er sich eindeutig für die bestimmende Kraft des in jeglichem Sinne herausragenden Ausnahmemenschen ausspricht. Ein aristokratisches Ideal also, nicht unähnlich dem Entwurf des von Nietzsche propagierten Übermenschen. Wie Nietzsche ist er, anders als Thoreau, kein Pazifist, mit der Implikation, Gewalt, wenigstens als als äußerstes Mittel, zu bejahen.
Der gegenwärtig herrschende Zeitgeist wird und muss daran zweifellos Anstoß nehmen, zumal Jüngers Verhältnis zum Humanen im Laufe seines Lebens etliche Metamorphosen durchlief, und vor allem in seinen jüngeren Jahren nicht frei von Zwiespältigkeit war. Es lässt sich  sogar aufgrund seines damaligen Ideals des unbürgerlich-aristokratischen Soldatentums zeitbedingt eine geradezu aggressive Ablehnung des Humanismus feststellen.

            Anders als Thoreau ist Jünger kein Romantiker, auch wenn seine Sprache, der „hohe Ton“ vielleicht dahingehend missverstanden werden könnte. Das Schwärmerische, ja Verstiegene in manchen Sequenzen seines Textes ist vielmehr in einem strengen, allerdings zuweilen anachronistisch wirkenden Sinne hymnisch, und verliert dessen klare Strenge auch dann nicht, wo er, auf einem schmalen Grad balancierend, ständig von der Gefahr des Absturzes bedroht scheint.Untersucht man Jüngers und Thoreaus Sprache sowie deren Intentionen: beiden Autoren (Jünger allerdings deutlich ausgeprägter) eignet der Wille und die Fähigkeit, Dinge und Sachverhalte klar zu benennen, auch wenn dadurch kontroversielle Wirkungen erzielt werden. Dichotomien verschwinden nicht, indem man grundsätzliche Widersprüche des Daseins zu negieren sucht, oder sie durch konfliktvermeidende Rundum-Umarmung überhaupt am Entstehen zu hindern versucht, sondern indem man sie benennt und aushält. Eine heuchlerische, unpräzise Sprache produziert heuchlerische, unehrliche Systeme und Denk – und Seinsweisen.                                                                                                                      
            Der Versuch, das Leben als kompliziertes Wechselspiel auseinanderstrebender, widerstreitender Kräfte zu begreifen, die, sich ineinander im Streit vergewissernd und findend, wieder auseinander hin zu Extremen streben („Versöhnung ist mitten im Streit“, Hölderlin, Heraklit), ist dabei eher Jüngers Agenda. Thoreau ist demgegenüber ein deutlich weniger gebrochener Charakter, der die Heilung und Vervollkommnung der Menschheit (oder wenigstens mancher Individuen) und ihrer  Widersprüche, in deren Zurückführung zur Natur in einem idealistischen Sinne grundsätzlich für möglich und erstrebenswert hält.
           
            Jüngers weltanschauliche Position ist wiederum wesentlich schwieriger dingfest zu machen als jene des amerikanischen Autors, der im Verlauf seines ziemlich kurzen Lebens von einmal getroffenen Positionen nie wirklich abwich, sondern vielmehr sein Bestreben darauf richtete, diese fortlaufend zu vertiefen und ihnen die ein oder andere Facette hinzuzufügen, weswegen er auch im Gesamten eindeutiger wirkt und weniger fragwürdige oder irritierende Aspekte aufweist. Als Identifikationsfigur für naiv Suchende darum auch viel geeigneter  als sein deutscher Schriftstellerkollege.

            In den Anfängen des Nationalsozialismus war Jünger ohne Zweifel anfällig für dessen Verführungen. Er erhoffte sich, in völliger Verkennung dessen extrem destruktiven Kerns, eine tiefgreifende, revolutionäre Erneuerung, eine bis ins metaphysische reichende positive Umwälzung aller Werte, potenziell weit über Deutschland hinausreichend. In der Folge allerdings wandelt er sich vom Sympathisanten zum entschiedenen Gegner jener - von ihm mittlerweile als  solche erkannten - verbrecherischen Bewegung, wie etliche seiner Schriften, zum Beispiel der Roman „Auf den Marmorklippen“, sowie seine Nähe zu Widerstandskreisen, belegen. Den verstörenden Erfahrungen, die er im sogenannten „Dritten Reich“ machen musste, ist auch der bedeutende Essay „Der Waldgang“ zu verdanken.

            Und in diesem erweist sich auch wieder, was Jünger vor allem ist: nämlich ein Mythomane. Dem Glauben an eine allem Lebendigen zugrunde liegende, sich immer neu erzeugenden mythischen Kraft gibt er in seinen Schriften immer wieder Ausdruck, am deutlichsten und ausgesprochensten vielleicht in seinem „Waldgang“, wo er den widerständigen, verborgen „heroischen“ Einzelnen wiederholt gegen den „Großen Leviathan“ (Thomas Hobbes), den alles verschlingenden Staat, positioniert. Er tut dies mit geradezu beschwörender Intensität, indem er den „Wald“ als den Ort bezeichnet, der „alles, was uns mit zeitlicher Sorge bindet“ zu lösen imstande ist, indem er, quer durch die Zeiten, alles heraufruft,was je Geschichte, Sage und Mythologie mit den Wäldern identifizierten. Um dann freilich auf sein eigentlichstes Anliegen zu kommen, nämlich, dass diese Kräfte eben nicht nur „in fernen Räumen und Vorzeiten zuhause sind, sondern vielmehr in jedem Einzelnen verborgen“, und „ihm in Schlüsseln überliefert, damit er sich begreife in seiner tiefsten und überindividuellen Macht“.

            Jüngers Haltung ist von manchen Rezipienten fälschlich als ein Sich-Zurückziehen in den Elfenbeinturm missverstanden worden, als eine „Absage ans Kollektiv“ (Ernst Niekisch), ohne das man letztlich doch nicht leben könne, sondern in „splendid isolation“ verdorren und verkommen müsse. Es handelt sich jedoch vielmehr bei diesem (inneren) Rückzug um ein  Käftesammeln, ein Innewerden, eine Klärung der eigenen Position, von der aus man dem Leviathan zumindest der Möglichkeit nach neu gestärkt gegenübertreten kann. Auch eine von wenig Verantwortung und Handlungsbereitschaft geprägte Haltung, wie sie ihm von Golo Mann attestiert wurde, ist meines Erachtens in diesem Licht zu sehen. Freilich hat Jüngers Werk mit seiner unzeitgemäßen Betonung des „heldischen“ Einzelnen in seiner elitären Abgehobenheit gerade bei der Linken immer wieder für Irritation bis hin zu blankem Hass gesorgt, aber vielleicht wäre es in einer Zeit des Kollektivis-mus, in der abweichende Meinungen sofort diffamiert werden und das Individuum nicht mehr und nichts anderes als ein Produkt des Markenkonsums ist, eine tatsächliche „Bereicherung“, sich auch mit einer so extrem andersgearteten Position auseinanderzusetzen.

            Auch Thoreau wurde schon zu Lebzeiten mit Kritik konfrontiert. Stevenson nannte ihn aufgrund seiner Zivilisationsflucht einen Drückeberger, andere Zeitgenossen stießen ins selbe Horn und äußerten Zweifel, ob eine Gesellschaft Bestand haben könne, wenn alle sich so verhielten wie er. Es lag allerdings nicht unbedingt in seiner Absicht, seine Lebensweise zu einer allgemeinver-bindlichen Forderung zu erheben. Gerade die Zeit am Waldensee war für ihn ebenjenes Innehalten, Sich-Besinnen, ein Selbstversuch, ein Aufbruch, den er zu gegebener Zeit ja dann auch abbrach.
           
            Das Naturrecht, das, bei allem persönlichen und weltanschaulichen Antagonismus, unausgesprochen den Intentionen beider Autoren zugrundeliegt, ist eine durch viele Jahrhunderte europäischer (und ausschließlich europäischer!) Geschichte gewachsene Vorstellung, die bereits in der Antike fußt, nämlich in der Philosophie Heraklits, Platons und Aristoteles, als überstaatliches, ewiges, auf das Individuum bezogenes Recht, dessen Auswirkungen sich noch heute in den Menschenrechtsbewegungen wiederfinden. Politische Bedeutung erreichte das Naturrecht in der europäischen Aufklärung als Opposition zur unterdrückerischen Adelsgesellschaft, nachdem jeder Mensch mit unveräusserlichen Rechten ausgestattet ist, unabhängig von Geschlecht, Alter, Rasse oder Staatszugehörigkeit, wovon einige Punkte graue Theorie blieben und in der Praxis heute noch sind. Aber eine Idee lässt sich nicht aus der Welt schaffen, und auch Personen wie der Dichter Goethe, der sein Leben lang  legitimistische, um nicht zu sagen, obrigkeitshörige Positionen vertrat, lässt in seinem „Faust den Ausspruch zu: „Vom Rechte, das mit uns geboren ist, von dem ist leider nie die Frage“. Eine Stelle, die bei Aufführungen in der Nazizeit regelmäßig für demonstrative Ovationen der Theaterbesucher sorgte. Heute erleben wir im Zuge des Globalismus teilweise eine Pervertierung dieser Idee, indem eine potentielle Gleichheit aller Menschen im rechtlichen und abstrakten Sinn, zu einer Gleichmacherei und Nivellierung aller Individuen und Kulturen mißbraucht wird.

            Die Vorstellung, dass einfach qua Geburt, durch seine bloße Existenz im Einzelnen Rechte verankert sind, die gegebenenfalls über dem staatlichen, sogenannten „positiven“ Recht stehen, kann diesen zwangsläufig in Kollision mit letzterem bringen. Nichts bleibt dann übrig, als das Zurückgeworfensein des Individuums aufs eigene Gewissen, mit all den Zweifeln und der Ausgesetztheit, der Vogelfreiheit des „Waldgängers“ gegenüber einem allgewaltigen Moloch, dem sich willfährig zu beugen jedem Mitläufer des herrschenden Systems ein besseres Gefühl des Im-Recht-Seins verschafft, als dessen Gegner je haben wird - auch aufgrund unkritisch überkommener Gefahrengewissheit und Feindortung, die unüberprüft auf die herrschende Realität übertragen wird. Mit Scheuklappen versehen, werden die sich wandelnden Formen des Bösen, ängstlich die eigene Denkfaulheit und Bequemlichkeit schützend, ausgeblendet. Ignazio Silone 1988 : „Wenn der Faschismus wiederkehrt, wird er nicht sagen, ich bin der Faschismus, sondern, ich bin der Antifaschismus “, und, um nocheinmal Goethes Faust zu zitieren: „Den Teufel spürt das Völkchen nie, und wenn er sie (sic) beim Kragen hätte!“

            Sowohl Thoreau als auch Jünger waren solche widerständigen Einzelkämpfer, wie sehr im persönlichen und weltanschaulichen Bereich sie auch immer Antipoden gewesen sein mögen. Was den „Mythos Wald“ anlangt, so haben sie beide ihre ureigenen Facetten jenem wahrscheinlich unsterblichen Topos abgewinnen können und ihm weitere Bedeutungen hinzugefügt. (Die Philosophin Thea Dorn nannte Jüngers Essay „die radikalste Verknüpfung von Wald und Freiheit in der deutschen Literatur“.)                                                                                                         

            Und vielleicht haben uns solche extremen Individualisten auch und gerade heute noch etwas zu sagen, in einer Zeit, die ihr höchstes Ideal in einer falsch verstandenen Gleichheit aller Menschen sieht und vor nichts mehr Angst hat als vor dem Ungewöhnlichen, im geistigen Sinn Radikalen, Überdurchschnittlichen, Über-Normalen, vor dem geistigen Abenteuer, dem gefahrvollen, gewagten - auch bis hin zum abgründigen - Denken mit offenem Ergebnis.
           
            Und der „Mythos Wald“? Vielleicht sind auch da – auf eine wohlverstandene, weder romantisch verklärte, noch rückwärtsgewandte, völkisch blutundbodenbehaftete,  Weise – immer noch Kräfte, Ressourcen und Wirkungen zu entdecken, die neue Energien und Einsichten mobilisieren können, in welchem konkreten oder übertragenen Sinn auch immer der Einzelne seinen ganz persönlichen Zugang finden mag.

Von der Lesung vom 21.5.2017 in der Bibliothek Gleichgewicht, und dem Gespräch von Gabriele Folz-Friedl und Haimo L. Handl zum Thema MYTHOS WALD ist eine Auswahl, redigiert von Diana Wiedra, in unserem Videokanal abrufbar. 
 

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