Samstag, 31. Januar 2015

Schopenhauer zur Urteilskraft


Reminiszenz:

Arthur Schopenhauer (1788-1860) zur Urteilskraft:
Aeußerungen der Urtheilskraft sind auch Witz und Scharfsinn: in jenem ist sie reflektirend, in diesem subsumirend thätig. Bei den meisten Menschen ist dieUrtheilskraft bloß nominell vorhanden: es ist eine Art Ironie, daß man sie den normalen Geisteskräften bei-zählt, statt sie allein den monstris per excessum zuzuschreiben. Die gewöhnlichen Köpfe zeigen selbst in den kleinsten Angelegenheiten Mangel an Zutrauen zu ihrem eigenen Urtheil; eben weil sie aus Erfahrung wissen, daß es keines verdient. Seine Stelle nimmt bei ihnen Vorurtheil und Nachurtheil ein; wodurch sie in einem Zustand fortdauernder Unmündigkeit erhalten werden, aus welcher unter vielen Hunderten kaum Einer losgesprochen wird. Eingeständlich ist sie freilich nicht; da sie sogar vor sich selber zum Schein urtheilen, dabei jedoch stets nach der Meinung Anderer schielen, welche ihr heimlicher Richtpunkt bleibt. Während jeder sich schämen würde, in einem geborgten Rock, Hut oder Mantel umherzugehn, haben sie Alle keine andern, als geborgte Meinungen, die sie begierig aufraffen, wo sie ihrer habhaft werden, und dann, sie für eigen ausgebend, damit herumstolziren. Andere borgen sie wieder von ihnen und machen es damit eben so. Dies erklärt die schnelle und weite Verbreitung der Irrthürner, wie auch den Ruhm des Schlechten: denn die Meinungsverleiher von Profession, also Journalisten u. dgl., geben in der Regel nur falsche Waare aus, wie die Ausleiher der Maskenanzüge nur falsche Juwelen.
Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung

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