Mittwoch, 29. Mai 2013

100. Jahrestag der Uraufführung von Stravinskis Meisterwerk

Le Sacre du Printemps - Igor Stravinski

Wikipedia

Bitte 2013, alles, nur nicht noch drei Dutzend Frühlingsopfer, zum einhundertsten Geburtstag
Wiebke Hüster , Blog FAZ, 27.12.2012


 









 
Theodor W. Adorno, der Philosoph, Soziologe, Komponist und Musiktheoretiker, hielt im Juni 1962 im Hessischen Rundfunk den Vortrag: "Stravinksy: Einm dialektisches Bild", der kurz darauf im FORUM veröffetnlicht wurde; die revidierte Textfassung ist in: Quasi una fantasia. Musikalische Schriften II. II Vergegenwärtigungen. Bd. 16 der Gesammelten Schriften, S. 382-409 (Suhrkamp, Frankfurt 1978). Ein Zitat aus dem Schluss des Beitrags:
"Strawinskys Befangenheit im Immergleichen ist zugleich die in der Kultur. Das kettet ihn an die Affirmation und stiftet  ein sinistres Büdnis zwischen seiner Musik und dem Schaurigen, das sie aufzeichnet. Aber ihre Komplizität mit der Unwahrheit ist hart an der Wahrheit. Der Parodiker ist auch einer der Dialektik. Diese bestimmt das Neue als in sich selbst reflektierte, umschlagende Gestalt des Alten. Bei ihm wird das Alte unmittelbar bestätigt, aber die Gewalt, die auf das immer Identische drückt, raubt ihm seine Identität, köpft es schließlich, indem sie es erzwingt. In den Augenblicken, in denen bei Strawinsky Charaktere des Schwachsinnigen, Idiotischen hörbar wrden, in der imagerie des Clowns, die seit der Szene bei Petruschka immer wiederkehrt, stellt das verdinglichte Bewußtsein, dessen exemplarischer Musiker er gewesen ist, sich dar, ohne ein anderes zu werden oder ein anderes zu erschleichen, und doch mehr als nur es selber. (...) Wiederhlung selber ist ein Schema des Vertierten. Indem Musik ihm sich anheimngibt, verwandelt sie äußerste Naturferne in ihr eigenes Tierhaftes. Ihr Geist wird Kreatur. Die Stellen Strawinskys, in denen das glückt, sind unauschlöschlich."
Auf Strawinsky war er allerdings schon früher eingegangen, nämlich in seinem ersten Buch, das er nach der Naziherrschaft wieder in Deutschland veröffentlichte: "Philosophie der neuen Musik" (1949). Diese Publikation hat viel Staub aufgewirbelt. Sie ist nicht nur eine musikalische Kritik, sondern auch eine gesellschaftliche, ideologische mit vielen Aufweisungen weiter Verbindungen einer komplexen, nicht nur französisch-russischen, sondern europäischen Struktur.

Hier einige Zitate daraus:


Adorno: Strawinsky und die Restauration

Verzicht auf allen Psychologismus, die Reduktion auf das reine Phänomen, wie es als solches sich gibt, soll eine Region unbezweifelbaren, »authentischen« Seins eröffnen. Hier wie dort verführt das Mißtrauen gegen das nicht Originäre – im tiefsten die Ahnung des Widerspruchs zwischen der realen Gesellschaft und ihrer Ideologie – dazu, den »Rest«, der nach Abstrich des vermeintlich Hineingelegten übrig sei, als Wahrheit zu hypostasieren. Hier wie dort ist der Geist in der Täuschung befangen, er könne im eigenen Umkreis, dem von Gedanken und Kunst, dem Fluch entrinnen, bloß Geist, Reflexion, nicht Sein selber zu sein; hier wie dort wird der unvermittelte Gegensatz von »Sache« und geistiger Reflexion zum Absoluten gemacht und darum das Produkt vom Subjekt mit der Würde des Natürlichen investiert. Beide Male handelt es sich um den schimärischen Aufruhr von Kultur gegen ihr eigenes Wesen als Kultur. Solchen Aufruhr unternimmt Strawinsky nicht bloß im vertraut-ästhetischen Spiel mit der Barbarei, sondern in der grimmigen Suspension dessen, was in Musik Kultur hieß, des human beredten Kunstwerks. Ihn zieht es dorthin, wo Musik, hinter dem entfalteten bürgerlichen Subjekt zurückgeblieben, als intentionslose fungiert und körperliche Bewegungen anregt anstatt noch zu bedeuten: dorthin, wo die Bedeutungen so ritualisiert sind, daß sie nicht als spezifischer Sinn des musikalischen Akts erfahren werden. Das ästhetische Ideal ist das des unbefragten Vollzugs. Wie Frank Wedekind in seinen Zirkusstücken wird ihm »körperliche Kunst« zur Parole. Er beginnt als Stabskomponist des russischen Balletts. Seit Petruschka zeichnen seine Partituren Gesten und Schritte vor und entfernen sich weiter stets von der Einfühlung in die dramatische Person. Sie schränken sich spezialistisch ein, im äußersten Gegensatz zu jenem umfassenden Anspruch, wie ihn die Schönbergschule noch in ihren exponiertesten Gebilden mit dem Beethoven der Eroica teilt. Der Arbeitsteilung, wie sie in der Ideologie von Schönbergs »Glücklicher Hand« denunziert wird, entrichtet Strawinsky listig den Tribut, der Hilflosigkeit des Versuchs sich bewußt, über die Grenze des handwerklich definierten Vermögens durch Vergeistigung hinauszugehen. Darin lebt, neben der zeitgemäßen Gesinnung des Fachmanns, ein Antiideologisches: seine präzise Aufgabe erfüllen; nicht, wie Mahler es nannte, mit allen Mitteln der Technik eine Welt bauen. Als Kur gegen die Arbeitsteilung schlägt er vor, sie auf die Spitze zu treiben und damit der arbeitsteiligen Kultur ein Schnippchen zu schlagen. Aus dem Spezialistentum macht er die Spezialität von Music Hall, Varieté und Zirkus, wie sie in »Parade« von Cocteau und Satie glorifiziert, aber schon in Petruschka vorgedacht ist. Die ästhetische Leistung wird vollends, wozu sie bereits im Impressionismus sich anschickte, tour de force, Brechung der Schwerkraft, Vorspiegelung eines Unmöglichen durch äußerste Steigerung des Sondertrainings. (...)
Das blind unendliche, den ästhetischen Antinomien gleichsam entronnene Gelingen des Akrobatenaktes wird bejubelt als jähe Utopie eines kraft äußerster Arbeitsteilung und Verdinglichung die bürgerlichen Grenzen Überfliegenden. Intentionslosigkeit gilt für das Versprechen der Einlösung aller Intention. Petruschka, dem Stil nach »neoimpressionistisch«, setzt sich aus ungezählten Kunststücken, vom auskomponierten Sekundengeschwirr des Jahrmarkts bis zur verhöhnenden Nachahmung aller von der offiziellen Kultur verworfenen Musik, zusammen. Er kommt aus der Atmosphäre des literarisch-kunstgewerblichen Kabaretts. (...)
Die Tendenz führt vom Kunstgewerbe, das die Seele als Ware zurichtet, zur Negation der Seele im Protest gegen den Warencharakter: zur Vereidigung der Musik auf die Physis, zu ihrer Reduktion auf die Erscheinung, die objektive Bedeutung annehme, indem sie auf Bedeuten von sich aus verzichtet. (…)
Aber in der Behandlung des tragischen Clowns trennen sich die historischen Linien der neuen Musik 3.
[Fußnote 3: Der frühere Strawinsky war, wie Cocteau damals offen aussprach, von Schönberg weit stärker beeindruckt, als heute im Streit der Schulen zugegeben wird. An den Japanischen Liedern und vielen Details des Sacre, zumal der Introduktion, ist der Einfluß offenbar. Aber er dürfte sich bis auf den Petruschka zurückverfolgen lassen. Das Partiturbild der letzten Takte vor dem berühmten russischen Tanz des ersten Bildes etwa, nach Ziffer 32, vor allem vom vierten Takt an, wäre ohne Schönbergs Orchesterstücke op. 16 schwer vorzustellen.]

Wohl fehlen ihm nicht subjektivistische Züge, aber die Musik schlägt sich eher auf die Seite derer, die den Mißhandelten verlachen, als auf dessen eigene, und folgerecht wird die Unsterblichkeit des Clowns am  Ende für das Kollektiv nicht zur Versöhnung sondern zur bösen Drohung. Subjektivität nimmt bei Strawinsky den Charakter des Opfers an, aber – und darin mokiert er sich über die Tradition humanistischer Kunst – Musik identifiziert sich nicht mit diesem sondern mit der vernichtenden Instanz. Durch die Liquidation des Opfers entäußert sie sich der Intentionen, der eigenen Subjektivität. (...)
In solchem eitlen Leiden unter dem Wissen ist bereits ein Moment der Selbstauslöschung des Betrachters impliziert. Wie er im Tönen der Karussells gleichsam untergeht und sich als Kind aufspielt, um dergestalt die Last des rationalen Alltags wie der eigenen Psychologie loszuwerden, so entäußert er sich seines Ichs und sucht Glück in der Identifikation mit jener unartikulierten Menge Le Bonschen Wesens, deren Imago das Getön enthält 4.
[Fußnote 4: Hier vielleicht ist das meist als Kennmarke mißbrauchte Russische bei Strawinsky aufzusuchen. Längst ward bemerkt, daß die Lyrik Mussorgskys vom deutschen Liede sich durch die Absenz des poetischen Subjekts unterscheidet: daß jedes Gedicht so angeschaut ist wie Arien von Opernkomponisten, nicht aus der Einheit des unmittelbaren kompositorischen Ausdrucks heraus, sondern in einer jeglichen Ausdruck distanzierenden und objektivierenden Weise. Der Künstler fällt nicht mit dem lyrischen Subjekt zusammen. Die Kategorie des Subjekts war im wesentlich vorbürgerlichen Rußland nicht ebenso fest gefügt wie in den westlichen Ländern. Das Fremdartige zumal Dostojewskys rührt von der Nichtidentität des Ichs mit sich selbst her: keiner der Brüder Karamasoff ist ein »Charakter«. Der spätbürgerliche Strawinsky verfügt über solche Präsubjektivität, um den Zerfall des Subjekts am Ende zu legitimieren.]

Wo Subjektives begegnet, begegnet es als depraviert; als sentimental verkitscht oder vertrottelt. Es wird als selber bereits Mechanisches, Verdinglichtes, gewissermaßen Totes aufgerufen. Die Bläser, in denen es laut wird, klingen wie aus der Drehorgel: Apotheose des Gedudels 5, so wie die Streicher zum Streich pervertiert, des Seelentones enteignet werden. Die
[Fußnote 5: Technisch ist das Gedudel durch eine bestimmte Art der oktaven- oder septimenweisen Führung von Holzbläsermelodien, zumal Klarinetten, oft in weitem Abstand, hergestellt. Strawinsky hat diese Setzweise, als Mittel veranstalteter Entseelung, beibehalten, nachdem die groteske Absicht bereits dem Verdikt verfiel, etwa in den Cercles Mystérieux des Adolescentes des Sacre, von Ziffer 94 an.]

Die Bilder mechanischer Musik produzieren den Schock eines vergangenen und zum Kindischen herabgesunkenen Modernen. Es wird, wie später dann bei den Surrealisten, zum Einfallstor des Urvergangenen. (...)
Das Sacre du Printemps, Strawinskys berühmtestes und dem Material nach vorgeschrittenstes Werk, wurde, der Autobiographie zufolge, während der Arbeit am Petruschka konzipiert. Das ist kaum zufällig. Bei allem Stilgegensatz zwischen dem kulinarisch zubereiteten und dem tumultuösen Ballett ist beiden der Kern gemeinsam, das antihumanistische Opfer ans Kollektiv: Opfer ohne Tragik, dargebracht nicht dem heraufkommenden Bilde des Menschen, sondern der blinden Bestätigung eines vom Opfer selbst sei's durch Selbstverspottung, sei's durch Selbstauslö schung anerkannten Zustandes. Dieses Motiv, das die Verhaltensweise der Musik gänzlich determiniert, tritt aus der spielerischen Hülle des Petruschka im Sacre mit blutigem Ernst hervor. Es gehört den Jahren an, da man die Wilden Primitive zu nennen begann, der Sphäre von Frazer und Lévy-Bruhl, auch von »Totem und Tabu«. (...)
Die Musik sagt zunächst: so war es, und nimmt so wenig Stellung wie Flaubert in der Madame Bovary. Das Greuel wird mit einigem Wohlgefallen betrachtet, aber nicht verklärt, sondern ungemildert vorgeführt. (...)
Der Druck der verdinglichten bürgerlichen Kultur treibt zur Flucht ins Phantasma von Natur, das dann schließlich als Sendbote der absoluten Unterdrückung sich erweist. Die ästhetischen Nerven zittern danach, in die Steinzeit zu regredieren. Als Virtuosenstück der Regression ist das Sacre du Printemps der Versuch, ihrer durch ihr Abbild mächtig zu werden, nicht einfach ihr sich zu überlassen. Dieser Impuls hat an der unbeschreiblich breiten Wir kung des spezialistischen Stückes auf die nachfolgende Musikergeneration seinen Anteil: nicht bloß behauptete es die Rückbildung der musikalischen Sprache und des ihr gemäßen Bewußtseinstandes als up to date, sondern versprach zugleich der vorgefühlten Liquidation des Subjekts standzuhalten, indem es sie zur eigenen Sache machte oder wenigstens wie ein überlegen unbeteiligter Betrachter künstlerisch sie registrierte. Die Imitation von Wilden soll mit wunderlich-sachlicher Magie davor behüten, dem Gefürchteten zu verfallen. (...)
Im Sacre bewirkt ein rücksichtslos angewandtes artistisches Prinzip von Selektion 7 und Stilisierung den Effekt des Vorweltlichen. Durch die Absage ans neuromantische Melodisieren, an das Saccharin des Rosenkavaliers, gegen das die sensibleren Künstler um 1910 aufs heftigste aufbegehrt haben müssen 8, verfällt alle ausgesponnene Melodie, und bald genug alles musikalisch sich entfaltende subjektive Wesen, dem Tabu.
[Fußnote 7: Der Begriff des Verzichts ist grundlegend für das gesamte Werk Strawinskys und macht geradezu die Einheit aller Phasen aus. »Chaque nouvelle œuvre ... est un exemple de renoncement.« (Cocteau, l.c., p. 39.) Die Zweideutigkeit des Begriffs renoncement ist das Vehikel der gesamten Ästhetik jener Sphäre. Er wird von Strawinskys Apologeten im Sinn des Satzes von Valéry verwandt, daß ein Künstler nach der Qualität seiner Refus zu bewerten sei. Das braucht in formaler Allgemeinheit nicht bestritten zu werden und findet auf die Wiener Schule, das implizite Verbot von Konsonanz, Symmetrie und undurchbrochener Oberstimmenmelodik so gut Anwendung wie auf die wechselnden Askesen der westlichen Schulen. Aber das Strawinskysche renoncement ist nicht bloß Entsagung als Verzicht auf verbrauchte und fragwürdige Mittel, sondern auch Versagung, der prinzipielle Ausschluß aller Einlösung oder Erfüllung eines in der immanenten Dynamik des musikalischen Materials als Erwartung oder Anspruch Auftretenden. Wenn Webern von Strawinsky sagte, nach seiner Bekehrung zur Tonalität wäre ihm »die Musik entzogen« worden, so kennzeichnete er den unaufhaltsamen Prozeß, der dann die selbstgewählte Armut in objektive Armseligkeit verkehrt. Es genügt nicht, naiv-technologisch Strawinsky vorzuhalten, was alles ihm mangelt. Soweit die Mängel aus dem Stilprinzip selber hervorgehen, wäre das nicht wesentlich verschieden von jener Kritik an der Wiener Schule, die sich über das Vorwalten von »Mißklängen« beklagt. Sondern es ist nach dem Maße der je selbstgesetzten Regel zu bezeichnen, was die permanente Versagung bei Strawinsky anstiftet. Er muß bei der Idee genommen werden und nicht bloß bei den beschlossenen Unterlassungen: ohnmächtig wäre der Vorwurf, daß der Künstler das nicht tue, was sein Prinzip nicht will; durchschlagend nur, daß das Gewollte sich verstrickt, daß es die umgebende Landschaft verdorren läßt und daß ihm selber die Legitimation abgeht.
Fußnote 8: Schon vor dem ersten Weltkrieg jammerte das Publikum darüber, daß die Komponisten »keine Melodie« hätten. Bei Strauss störte die Technik der permanenten Überraschung, welche die melodische Kontinuität unterbricht, um sie nur gelegentlich in der gröbsten und billigsten Weise als Belohnung nach der Turbulenz zu gewähren. Bei Reger verschwinden die melodischen Profile hinter den unablässig vermittelten Akkorden. Beim reifen Debussy sind die Melodi Tonkombinationen reduziert. Mahler endlich, der am traditionellen Melodiebegriff zäher festhält als jeder andere, hat gerade dadurch seine Feinde sich gemacht. Vorgeworfen wird ihm Banalität der Erfindung sowohl wie das Gewaltsame, nicht rein aus der motivischen Triebkraft Hervorgehende der langen Bögen. Parallel zum Strauss der konzilianten Partien, hat er für das Absterben der romantischen Melodie im Sinn des neunzehnten Jahrhunderts übertreibend entschädigt, und es bedurfte wahrhaft seines Ingeniums, um solche Übertreibung selber zum kompositorischen Darstellungsmittel, zum Träger des musikalischen Sinnes, der ihrer eigenen Unerfüllbarkeit bewußten Sehnsucht umzuschaffen. Erschöpft war keineswegs die melodische Kraft der einzelnen Komponisten. Aber daß der harmonische Verlauf historisch immer mehr in den Vordergrund der musikalischen Gestaltung und Rezeption rückte, ließ im homophonen Denken schließlich die melodische Dimension nicht proportional mitwachsen, die zuvor, seit der Frühromantik, gerade die harmonischen Entdeckungen ermöglicht hatte. Daher die Trivialität schon vieler Wagnerischer Motivbildungen, die Schumann beanstandete. Es ist, als ob die Aromatisierte Harmonik eigenständige Melodik nicht mehr trüge: wird diese, wie beim frühen Schönberg, angestrebt, so geht das tonale Sy stem selber darüber in die Brüche. Sonst bleibt den Komponisten nichts übrig, als entweder die Melodik so zu verdünnen, daß sie sich in einen bloßen harmonischen Funktionswert verwandelt, oder mit einem Gewaltstreich melodische Expansionen zu dekretieren, die im festgehaltenen harmonischen Schema willkürlich erscheinen. Strawinsky hat aus der ersten, der Debussystischen Möglichkeit die Konsequenz gezogen: eingedenk der Schwäche melodischer Folgen, die eigentlich schon keine mehr sind, kassiert er den Begriff der Melodie ganz zugunsten gestutzter, primitivistischer Muster. Erst Schönberg hat in der Tat das Melos emanzipiert, aber damit auch die harmonische Dimension selber. (...)
Strawinsky gräbt nach Authentizität in Zusammensetzung und Zerfall der Bilderwelt von Moderne. Hat Freud den Zusammenhang zwischen dem Seelenleben der Wilden und der Neurotiker gelehrt, so verschmäht der Komponist nun die Wilden und hält sich an das, wessen die Erfahrung der Moderne sicher ist, jene Archaik, welche die Grundschicht des Individuums ausmacht und in dessen Dekomposition unverstellt, gegenwärtig wieder hervortritt. Die Werke zwischen dem Sacre und dem neoklassischen Einlenken imitieren den Gestus der Regression, wie er der Zersetzung der individuellen Identität zugehört, und erwarten sich davon das kollektiv Authentische. Die überaus enge Verwandtschaft dieser Ambition mit der Doktrin C.G. Jungs, von der der Komponist kaum etwas wissen mochte, ist so schlagend wie das reaktionäre Potential. Die Suche nach musikalischen Äquivalenten für das »kollektive Unbewußte« bereitet den Umschlag zur Instaurierung der regressiven Gemeinschaft als eines Positiven vor. (...)
Musik kennt nur um so viel Entwicklung, wie sie ein Festes, Geronnenes kennt; die Strawinskysche Regression, die dahinter zurückgreifen möchte, ersetzt eben darum den Fortgang durch die Wiederholung. (...)
Seine Musik weiß von keiner Erinnerung und damit von keinem Zeitkontinuum der Dauer. Sie verläuft in Reflexen. Der verhängnisvolle Irrtum seiner Apologeten ist es, den Mangel eines Gesetzten in seiner Musik, an Thematik in strengstem Verstande, einen Mangel, der das Atmen der Form, die Kontinuität des Prozesses, eigentlich »Leben« gerade ausschließt, als Garanten des Lebendigen zu interpretieren. Das Amorphe hat nichts von Freiheit, sondern ähnelt dem Zwangshaften bloßer Natur sich an: nichts starrer als der »Entstehungsvorgang«. Er aber wird als das nicht Entfremdete verherrlicht. Mit dem Prinzip des Ichs sei überhaupt die individuelle Identität suspendiert. (...)
Gerade die sado-masochistische Lust an der Selbstauslöschung, die so vernehmlich in seinen Antipsychologismus hineinspielt, ist durch die Dynamik des Trieblebens determiniert und nicht durch Forderungen der musikalischen Objektivität. Es bezeichnet den Menschentypus, dessen Maße Strawinskys Werk nimmt, keinerlei Introspektion und Selbstbesinnung zu dulden. Die verbissene Gesundheit, die sich ans Auswendige klammert und das Seelische verleugnet, als wäre es bereits Krankheit der Seele, ist Produkt von Abwehrmechanismen im Freudischen Sinn. (...)
  Das schizophrenische Gebaren von Strawinskys Musik ist ein Ritual, die Kälte der Welt zu überbieten. Sein Werk nimmt es grinsend mit dem Wahnsinn des objektiven Geistes auf. Indem es den Wahnsinn, der allen Ausdruck tötet, selber ausdrückt, reagiert es ihn nicht bloß, wie die Psychologie es nennt, ab, sondern unterwirft ihn selber der organisierenden Vernunft 18. Nichts wäre falscher, als Strawinskys Musik nach Analogie dessen zu fassen, was ein deutscher Faschist Bildnerei der Geisteskranken nannte. Wie es vielmehr ihr Anliegen ist, schizophrenische Züge durch das ästhetische Bewußtsein zu beherrschen, so möchte sie insgesamt den Wahnsinn als Gesundheit vindizieren.
[Fußnote 18: Die nahe Beziehung dieser Stufe des Ritualen in Strawinskys Musik zu dem Jazz, der genau zur gleichen Zeit international populär ward, ist evident. Sie reicht in technische Details wie die Simultaneität von starren Zählzeiten und unregelmäßigen synkopischen Akzenten. Strawinsky hat denn auch gerade in der infantilistischen Phase mit Jazzformeln experimentiert. Der Ragtime für elf Instrumente, die Piano Rag Music und etwa Tango und Ragtime aus der Histoire du Sol dat gehören zu seinen gelungensten Stücken. Anders als die zahllosen Komponisten, die durch Anbiederung an den Jazz ihrer »Vitalität«, was immer das musikalisch bedeuten mag, aufzuhelfen meinten, deckt Strawinsky, durch Verzerrung, das Schäbige, Vernutzte, dem Markte Verfallene der nun seit dreißig Jahren etablierten Tanzmusik auf. Er nötigt gewissermaßen ihren Makel, selber zu reden, und verwandelt die standardisierten Wendungen in stilisierte Chiffren des Zerfalls. Dabei eliminiert er alle Züge von falscher Individualität und sentimentalem Ausdruck, die zum naiven Jazz unabdingbar dazugehören, und macht solche Spuren des Menschlichen, wie sie in den von ihm kunstvoll-brüchig zusammenmontierten Formeln überleben mögen, mit grellem Hohn zu Fermenten der Entmenschlichung. Seine Stücke sind aus Warentrümmern zusammengesetzt wie manche Bilder oder Plastiken derselben Zeit aus Haaren, Rasierklingen und Stanniolpapier. Das definiert den Niveauunterschied vom kommerziellen Kitsch. Zugleich versprechen seine Jazzpastiches, den drohenden Reiz des sich Überlassens ans Massenhafte zu absorbieren und seine Gefahr zu bannen, indem man ihr nachgibt. Damit verglichen war alles andere Interesse der Komponisten am Jazz einfältiges Schielen nach dem Publikum, simpler Ausverkauf. Strawinsky aber hat den Ausverkauf selber, ja die Beziehung zur Ware überhaupt ritualisiert. Er tanzt den Totentanz um ihren Fetischcharakter.]
Aber der musikalische Physikalismus führt nicht auf den Naturstand, das reine ideologiefreie Wesen, sondern ist eingestimmt auf den Rückfall der Gesellschaft. Die bloße Negation des Geistes spielt sich auf, als wäre sie die Verwirklichung des von ihm Gemeinten. Sie erfolgt unter dem Druck eines Systems, dessen irrationale Übermacht über alle ihm Unterworfenen sich nur zu erhalten vermag, wenn es ihnen die Mucken des Gedankens abgewöhnt und sie zu bloßen Reaktionszentren, zu Monaden bedingter Reflexe reduziert. Das fabula docet Strawinskys ist versatile Fügsamkeit und störrischer Gehorsam, das Muster des heute allerorten sich formierenden autoritären Charakters. Seine Musik kennt nicht mehr die Versuchung, anders zu sein. (...)
Soweit Adorno. 

In einem Aufsatz, der 1961 im MERKUR erschien, schreibt Kurt Oppens (1910-1998) zu Adornos Srawinsky-Aufsatz aus der "Philosophie der neuen Musik": "Adornos Stravinsky-Aufsatz enthält ungeachtet seiner polemischen Halrtung mehr wesentliche Einsichten als die ganze Phalanx der Eulogen." Er zeigt dann auch Ähnlichkeiten des Sils und der Argumentation auf zur Kontroverse Gluck und Jean-Francois Marmontels.  Weiters hebt er hervor, dass Adorno immer die Person Strawinsky ausspare (wie überhaupt in seiner Kunstphilosophie!) und sich an die Sache halte (heute völlig unmodern geworden).  

Ganz anders der französisch-tschechische Literat Milan Kundera in seinem Aufsatz "Improvisation zu Ehren Strawiskys" in seinem Buch "Verratene Vermächtnisse" (dt. 1994), worin er sich über "Glück und Ekstase" auslässt, über die "skandalöse Schönheit des Bösen" und die beseeligende Musik des russischen Meisters.



Nachträge:

Frühlings Erschrecken
Krieg der Körper. Sasha Waltz holt den „Sacre“ in unsere Zeit.
Sandra Luzina, Tagesspiegel 30.05.2013

Triumph in Paris: Sasha Waltz kreiert zum 100. Jubiläum von „Sacre du printemps“ eine neue Version des Strawinsky-Balletts. In den Bann schlagen vor allem die energetischen Spannungen und Entladungen der Musik sowie ihre vertrackten Rhythmen.

Strawinsky: Die säuberlich kalligrafierte Revolution
Wilhelm Sinkovicz, Die Presse, 01.06.2013
Zum 100. Geburtstag von Igor Strawinskys furiosem »Sacre du printemps«erschienen eine prachtvolle Liebhaberausgabe der beiden eigenhändigen Notenmanuskripte nebst gutem Dokumentarband.

Luke Gittos: The revolutionary myth of ‘The Rite of Spring’
Stravinsky’s ballet, which debuted 100 years ago, is a great work, but not as iconoclastic as its fans claim.
SP!KED, 30.5.2013 

Hundert Jahre «Sacre du printemps»
Jahrhundertwerk – gestern und heute
Isabelle Jakob, NZZ 3.6.2013

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