Freitag, 31. August 2012

Wie "tickt" China?



Mit Wang Hui (Intellektueller, Vordenker der Neuen Linken in China), Tienchi Martin-Liao (Autorin und Übersetzerin) und Prof. Dr. Heiner Roetz (Spezialist für Konfuzius, Sinologe)

Erstausstrahlung,30.8.2012, 3SAT

China hat sich in einer rasanten Entwicklung innerhalb von nur 30 Jahren von einer Agrargesellschaft zu einer modernen Industrienation entwickelt. An Chinas politischer und wirtschaftlicher Macht kommt im Westen niemand mehr vorbei. Mit einer Bevölkerung von rund 1,4 Milliarden Chinesen - ein Fünftel der Weltbevölkerung - erobert das Riesenland die Märkte und bestimmt deren Regeln entscheidend mit. Der Hunger der Volkswirtschaft nach Ressourcen scheint grenzenlos. Ebenso der Wille, die neu gewonnene Vormachtstellung zu sichern: So hat China zum Beispiel den weltweit drittgrößten Verteidigungsetat. Die bisherige, an den westlichen Ländern orientierte Weltordnung hat sich bereits verschoben. Vielen flößt das Angst ein. Scheinen doch die Chinesen in für Europäer fundamentalen Fragen wie der der Menschenrechte, grundsätzlich anders zu denken und zu entscheiden. Ist das tatsächlich so? Was verändert sich, wenn die chinesische Mentalität größeren globalen Einfluss gewinnt? Wie wird es die bisher noch stark westlich geprägten Wertvorstellungen von Recht, Vernunft, Individualität beeinflussen?
Gert Scobel diskutiert in "scobel - wie tickt' China?" mit Experten über die grundlegenden Wertvorstellungen der neuen Supermacht und darüber, wie sich eine Brücke zwischen "Kant und Konfuzius" schlagen ließe. Es kommen unter anderen Wang Hui, einer der bedeutendsten Intellektuellen und Vordenker der neuen Linken in China, die chinesische Autorin und Übersetzerin Tienchi Martin-Liao und Prof. Dr. Heiner Roetz, Spezialist fürKonfuzianismus.


Wie "tickt" China?
Erkenntnisse über eine neue Supermacht
Gert Scobel diskutiert mit Fachleuten über die grundlegenden Wertvorstellungen der neuen Supermacht China und darüber, wie sich eine Brücke zwischen Kant und Konfuzius schlagen lässt. Wie denkt, fühlt und "tickt" China? Zur dieser Frage wird sich unter anderen Wang Hui, einer der bedeutendsten Intellektuellen und Vordenker der Neuen Linken in China äußern.

5.000 Jahre Geschichte und Kultur: China ist wieder aufgestanden, sagen die Chinesen. Das Land ist heute wieder eine Weltmacht. Jeden Morgen, wenn die Nationalfahne zum Sonnenaufgang gehisst wird, strömen Tausende auf den Tian’anmen Platz. Der Tian’anmen Platz ist das politische Zentrum Pekings, das Zentrum der Macht des neuen Supergewichts auf der politischen Weltbühne.
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Konfuzius lebte um 500 vor Christus in einer Zeit, in der auch in Indien und im antiken Europa Denktraditionen entstanden, die ganz Asien und Europa bis heute prägen. Der Philosoph Karl Jaspers hat für diese Ära deshalb den Begriff "Achsenzeit" geprägt. Der Konfuzianismus war 2000 Jahre Staatslehre in China.
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Alle fünf Jahre trifft sich Chinas kommunistische Elite zum Konklave vor pompöser Kulisse in Peking. Alle zehn Jahre wird eine neue Führungsgeneration präsentiert. Während man in der großen Halle des Volkes den Eindruck bekommt, dass viele Delegierte das Gesagte nicht zum ersten Mal hören, sichert ein riesiges Aufgebot von Sicherheitskräften und Freiwilligen die kommunistische Elite vor dem Volk.
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Mit Empörung hat Peking auf den jährlichen Menschenrechtsbericht des US-Außenministeriums reagiert, demzufolge sich die Lage in China verschlechtert hat. Der Bericht sei voller Vorurteile und entspreche nicht den Tatsachen, sagte ein Sprecher des chinesischen Außenministeriums dazu.



Unsere Gäste am 30. August 2012
Heiner Roetz, Sinologe und Konfuzius-Spezialist
Professor Heiner Roetz ist Spezialist für Konfuzius und zudem einer der Sinologen, die für eine kritische, von China unabhängig betriebene wissenschaftliche Arbeit stehen. Seine Forschungsschwerpunkte sind chinesische Ethik, klassischer Konfuzianismus, Tradition und Moderne in China und chinesische Religionsgeschichte. Er ist Leiter der Sektion Geschichte und Philosophie Chinas am Fachbereich Ostasienwissenschaften der Ruhr-Universität in Bochum.

Tienchi Martin-Liao, Autorin und Übersetzerin
Tienchi Martin-Liao ist chinesische Autorin und Übersetzerin. Von 1991 bis 2001 leitete sie das Richard-Wilhelm-Übersetzungszentrum an der Bochumer Ruhr-Uni, danach ging sie nach Washington DC, um für die Laogai Research Foundation tätig zu werden, eine Organisation, die zu Menschenrechtsfragen in China informiert. Seit 2009 leitet sie als Vorsitzende das unabhängige chinesische PEN-Zentrum in Taipeh. Tienchi Martin-Liao lebt in Köln.

Eine Erfolgsgeschichte
Chinesen blicken stolz und kritisch in die Zukunft
5.000 Jahre Geschichte und Kultur: China ist wieder aufgestanden, sagen die Chinesen. Das Land ist heute wieder eine Weltmacht. Jeden Morgen, wenn die Nationalfahne zum Sonnenaufgang gehisst wird, strömen Tausende auf den Tian’anmen Platz. Der Tian’anmen Platz ist das politische Zentrum Pekings, das Zentrum der Macht des neuen Supergewichts auf der politischen Weltbühne.
Die Chinesen sind stolz auf ihre Heimat, aber sie sehen auch Probleme und Defizite wie die zunehmende Überalterung, die Zerstörung und Verschmutzung der Umwelt oder auch die schlechten Lebensbedingungen auf dem Land. Für den Westen ist das moderne China häufig ein Rätsel. Für Professor Wang Hui ist es Gegenstand seiner Forschung. Ausgehend von der Geschichte des Landes und im internationalen Vergleich mit anderen gesellschaftlichen Systemen sagt er: "China ist das Land, das die Armut in kürzester Zeit auf der größten Fläche am stärksten reduziert hat. Das ist ein großer Erfolg."

Wang Hui analysiert aber auch die Schattenseiten der einmaligen Erfolgsgeschichte. 30 Jahre wirtschaftsliberale Reformpolitik haben China auch große Probleme beschert. "Das größte Defizit ist die Diskrepanz zwischen Armen und Reichen, die Ungleichheit in der Gesellschaft, die zunehmende Trennung von Stadt und Land und der Rückbau der Infrastruktur in den ländlichen Gebieten", so Wang Hui.

Immer die Geschichte im Blick
Bei seinen Doktoranden schärft er den Blick für die historischen Dimensionen. Die Opiumkriege, die bürgerliche Revolution, die Gründung der Volksrepublik – ohne die Analyse der Geschichte lasse sich das moderne China nicht begreifen. Tsinghua ist die Eliteuniversität Chinas. Wer hier studiert, analysiert die Gegenwart kritisch und wird die Zukunft des Landes mitgestalten.

Die Elite von morgen führt wissenschaftliche Debatten und kontroverse Diskussionen um die Zukunft des Landes. Wang Hui sieht China am Scheideweg: "Wenn die gesellschaftlichen Widersprüche nicht zu lösen sind, wenn das Volk oder große Teile der Gesellschaft denken, dass die Reformpolitik nicht für das ganze Volk gemacht wird, sondern nur für eine Minderheit, dann führt das zu einer gesellschaftlichen Krise, zu einem Legitimationsproblem der Regierenden."

Reformen sollen kommen
Herrschaft muss sich legitimieren, auch in China. Die herrschende Partei hat über 80 Millionen Mitglieder. Im Herbst 2012 wird auf dem Parteitag eine neue Führung gewählt. Wang Hui sagt: "Es herrscht Einigkeit über die Notwendigkeit von Reformen. Als Hauptpunkte sollen bei den kommenden Reformen das Wohl und die Rechte jedes einzelnen Bürgers garantiert und gestärkt werden. Und das Recht des Bürgers bedeutet nicht nur das wirtschaftsliberale Recht auf Reichtum, sondern es geht um die Möglichkeiten des politischen Engagements, um Mitsprache und Mitgestaltung."

Außerdem stehen soziale Gerechtigkeit, die Förderung der ländlichen Gebiete, Umweltschutz und die Bekämpfung der Korruption auf der Agenda. Noch traut die übergroße Mehrheit der Chinesen der Regierung die Lösung der Probleme zu.

Praxisnahe Lebensethik
Konfuzianismus als gesellschaftliche Gebrauchsanweisung
Konfuzius lebte um 500 vor Christus in einer Zeit, in der auch in Indien und im antiken Europa Denktraditionen entstanden, die ganz Asien und Europa bis heute prägen. Der Philosoph Karl Jaspers hat für diese Ära deshalb den Begriff "Achsenzeit" geprägt. Der Konfuzianismus war 2000 Jahre Staatslehre in China.
Konfuzius kam 551 vor Christus in Qufu zur Welt. Der Philosoph Laotse war vermutlich sein Zeitgenosse. Konfuzius lebte in einer Zeit gewaltsamer Umbrüche. Das Reich der Mitte war noch nicht vereinigt. Der Philosoph und seine Schüler zogen lange Jahre als Wanderlehrer umher. Sie waren durch Hunger und Krieg bedroht. Konfuzius beriet Fürsten, veröffentlichte aber seine Lehren nicht. Seine Schüler fassten die Weisheiten nach seinem Tod im sogenannten "Lun Yu" zusammen. Sie schätzten ihren Meister als einzigartigen Pädagogen und Vordenker der Bildungstheorie und folgten ihm wie Jünger.

Menschenliebe als höchste Tugend
Doch beim Konfuzianismus handelt es sich nicht um eine Religion, sondern vielmehr eine praxisnahe Lebensethik. Deshalb wird er auch "Gebrauchsanweisung für die Gesellschaft" genannt. Die Herkunft seiner Schüler zählte für Konfuzius nicht. Den Wert eines Menschen machten für ihn nur Bildung und deren Umsetzung aus. Reflektiertes Lernen dient der Selbstvervollkommnung, die einen "Edlen" auszeichnet. Er übt sich in den fünf Tugenden Rechtschaffenheit, Gewissenhaftigkeit, Gegenseitigkeit, Aufrichtigkeit und der höchsten Tugend, der Menschenliebe.

Gesellschaftliche Ordnung und Harmonie können, so Konfuzius, nur auf der Basis der sogenannten "kindlichen Pietät" entstehen. Das Kind ist gehorsam gegenüber Eltern und Großeltern, die Frau gehorcht dem Mann - und das Volk dem Herrscher. Verhält sich jeder gemäß seiner Rolle, herrscht in der Familie Ordnung. Diese Harmonie geht dann auf das Dorf, die Provinzen, das Reich und schließlich auf den gesamten Kosmos über.

Traditionelle Werte voll im Trend
In der Schule lernen die Kinder die traditionellen Werte und Tugenden des Konfuzius, ihre Eltern zu ehren und dankbar zu sein. Auch im rasant wachsenden China ist dieses Bildungsangebot sehr gefragt. Nur mit den Tugenden lässt sich das Ideal der Harmonie erreichen. Die Renaissance des Konfuzianismus begann bereits vor über 30 Jahren. Das Ziel der Kommunisten ist die harmonische Gesellschaft, die seit fünf Jahren im Parteistatut festgeschrieben ist.

Durch die Tradition des Konfuzianismus ist das Ideal der gesellschaftlichen Harmonie viel stärker verankert als individuelle Rechte. Harmonie meint allerdings kein religiöses Heilsversprechen, sondern ein weltliches Ideal. Auch wenn die Harmonie im Zentrum seiner Lehre stand, Konfuzius’ wohl wichtigste Botschaft an die heutige Welt würde wohl lauten: Harmonie ist nicht alles und Kritik ist erwünscht - selbst gegenüber Herrschenden.

Politik von der Stange
Für Chinas Einheitspartei bleibt alles beim Alten
Alle fünf Jahre trifft sich Chinas kommunistische Elite zum Konklave vor pompöser Kulisse in Peking. Alle zehn Jahre wird eine neue Führungsgeneration präsentiert. Während man in der großen Halle des Volkes den Eindruck bekommt, dass viele Delegierte das Gesagte nicht zum ersten Mal hören, sichert ein riesiges Aufgebot von Sicherheitskräften und Freiwilligen die kommunistische Elite vor dem Volk.
Auf dem kommenden Parteitag in diesem Herbst, soll nun eine neue Führungsspitze vorgestellt und abgenickt werden. Dabei läuft alles auf die Kandidaten Xi Xingping und Li Keijiang hinaus. Der erste soll Partei- und Staatschef werden, der zweite sein Regierungschef. Doch wofür sie eigentlich stehen, weiß auch in China niemand so recht. Yang Jisheng ist stellvertretender Chefredakteur der kleinen kritischen Zeitschrift "Yanhuang Chunqiu", die nicht öffentlich verkauft, sondern nur direkt an Abonnenten verschickt wird. Er sagt: "Die chinesische Politik funktioniert anders, als die im Westen. Wenn man im Westen wählt, müssen zuerst die politischen Meinungen und alle programmatischen Informationen veröffentlicht werden".

Auch neue Kandidaten ändern nichts
"In China wird das alles hinter der Roten Maurer von einigen Wenigen ausgekungelt. Die Bürger erfahren nichts. Deswegen kann niemand wirklich sagen, um was für Menschen es sich bei den beiden Kandidaten handelt, was sie denken und wollen“, so Yang weiter. Immerhin hat sein Blatt eine Auflage von 160.000 Stück. Zuvor, bis zu seiner Pensionierung, arbeitete er bei der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua, die direkt dem Propagandaministerium unterstellt ist. Auch wenn man nicht viel über die nächste Führungsgeneration wüsste, dass sie viel ändern könnte, sei praktisch ausgeschlossen, meint Yang.

"Hu Jintao, der noch Parteivorsitzende und Präsident, hat in einer Rede schon den Ton bestimmt. Er hat gesagt, bei den politischen Reformen hätten wir keinen Nachholbedarf. Wir hätten gute politische Erfahrungen gemacht, die unser politisches System bestätigen würden. Es sei nicht nötig, die politischen Reformen zu beschleunigen und wenn man etwas Gutes geschaffen habe, bräuchte man es auch nicht zu reformieren", so Yang Jisheng. Dabei steht Chinas nächste Führungsgeneration vor gewaltigen Herausforderungen. Zwischen 100.000 und 200.000 Zwischenfälle mit Massenhintergrund gibt es mittlerweile. Das ist die euphemistische Umschreibung von teils gewaltsamen Protesten gegen Korruption und illegale Landnahmen.

Kein Vertrauen in die Politik
China ist ein Rechtsstaat, der nicht durch das Recht, sondern durch die Partei bestimmt wird. Dort können Kritiker - selbst mächtige lokale Parteichefs wie jüngst Bo Xilai aus Chongqing - plötzlich und ohne Anklage verschwinden. In China wird die Schere zwischen arm und reich immer größer, der Immobilienmarkt hat sich zu einer riesigen Blase entwickelt und die Wirtschaft wächst langsamer als die Nachfrage nach Arbeitsplätzen. Dem Schulterklopfen der Partei glaube hier kaum noch jemand, meint Herr Yang: "China ist in einer Vertrauens-, Glaubens- und Zuversichtskrise. Das Vertrauen in die Regierung ist schon lange in der Krise. Was die Regierung sagt, glauben viele Bürger nicht mehr. Wenn die Politik nicht transparenter wird, wird die Politik das Vertrauen nicht zurückgewinnen können."

Dass die zukünftigen mächtigen Männer Chinas aber die Transparenz der politischen Prozesse erhöhen werden, ist eher unwahrscheinlich. Ihre Aufgabe in der Einparteien-Diktatur sei eine andere, meint Herr Yang: "Die Aufgabe der neuen Generation ist es, dafür zu sorgen, dass die Partei ihre Macht nicht verliert. Das ist ihre heilige Pflicht". Und so wird der 18. Parteitag im Herbst wohl so spannend werden wie die vergangenen.

China und die Menschenrechte
Ärger in Peking über jährlichen US-Bericht
Mit Empörung hat Peking auf den jährlichen Menschenrechtsbericht des US-Außenministeriums reagiert, demzufolge sich die Lage in China verschlechtert hat. Der Bericht sei voller Vorurteile und entspreche nicht den Tatsachen, sagte ein Sprecher des chinesischen Außenministeriums dazu.
China habe in den vergangenen 30 Jahren "bedeutende Fortschritte" bei den Menschenrechten erzielt. Der Sprecher warf den Vereinigten Staaten vor, mit dem Finger auf andere Länder zu zeigen: "So ein Thema sollte nie dazu benutzt werden, andere anzugreifen oder sich in interne Angelegenheiten anderer Länder einzumischen."

In dem im Mai 2012 veröffentlichten Bericht hatten die USA eine Verschlechterung der Menschenrechtslage in China angeprangert. Peking habe seine Bemühungen verstärkt, politische Aktivisten zum Schweigen zu bringen, hieß es unter anderem darin. Der Bericht erschien wenige Tage nach der Ausreise des blinden chinesischen Bürgerrechtlers Chen Guangcheng in die USA, dem Ende April eine dramatische Flucht aus seinem mehrjährigen Hausarrest gelungen war.

Man verbittet sich Druck und Belehrungen
Außerdem will China mit der Europäischen Union weniger intensiv über Menschenrechte sprechen als bisher. Die asiatische Großmacht plädiert dafür, statt zwei Dialogtreffen jährlich nur noch eines abzuhalten, wie der unabhängige Brüsseler Informationsdienst "EUObserver" im Juni diesen Jahres berichtete. "China ist entschlossen, die Menschenrechte zu verbessern. Aber wir denken nicht, dass jemand als Lehrer auftreten sollte. Wir geben keinem Druck nach", sagte Wang Xining, der Presseattaché der chinesischen EU-Botschaft. Das bisher letzte Treffen fand Ende Mai diesen Jahres statt. Eine Gesprächsrunde im Jahr reiche aus, wird Wang zitiert. Schon 2010 und 2011 hatte China jeweils ein zweites Treffen abgesagt.

Eine Sprecherin der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton unterstrich dagegen, die EU wolle an den halbjährlichen Treffen festhalten. Auch werde sie weiter Einzelfälle thematisieren: "Wir behalten uns dieses Recht vor. Wir haben dies immer getan, und daran wird sich nichts ändern."

Konfuzianismus verstehen
Buchempfehlungen von Gert Scobel
Auf dem Feld der Diskussion, das sich zwischen den großen Themen der Religion und ihrer Jahrtausende alten Geschichte, den neuen religiösen Bewegungen, aber auch den Fragen und Antworten der Philosophie und Ethik aufspannt, gibt es seit einigen Jahren eine Reihe, die nicht nur Pionierarbeit leistet, sondern zum besten gehört, was je auf diesem Gebiet zumindest in Deutschland publiziert wurde. Ich meine den Verlag der Weltreligionen , eine Zusammenarbeit des Suhrkamp Verlages, der Udo Keller Stiftung Forum Humanum und einer Reihe internationaler Spitzenwissenschaftler.

Das ehrgeizige Ziel des Verlages der Weltreligionen ist es, "die Tradition der religionsgeschichtlichen Publikationen in den Verlagen Suhrkamp und Insel, im Jüdischen Verlag und im Deutschen Klassiker Verlag fortzusetzen", um der Öffentlichkeit die großen religiösen Texte und Schriften des "Hinduismus, Buddhismus, Konfuzianismus und Daoismus, des Judentums, Christentums und des Islam" zugänglich zu machen.

Tatsächlich macht der Verlag der Weltreligionen ernst mit der Absicht, viele religionsgeschichtliche Quellenwerke und Darstellungen der Religionen in hervorragender deutscher Übersetzung (oftmals zum ersten mal) zugänglich zu machen. In der Tat sind viele selbst er wichtigen Texte nur schwer oder gar nicht auf Deutsch erhältlich. Und wenn, so fehlen oft die solide philologische, wirkungsgeschichtliche und inhaltliche Einordnung - gerade bei Texten, die Nicht-Fachleuten nicht geläufig sind. Insofern kann man das Projekt und die bislang publizierte, erstaunlich vielseitige Produktion des Verlags der Weltreligionen nicht oft und lautstark genug loben.

Auch in Bezug auf China gibt es einige Perlen, auf die ich in kurzen Besprechungen aufmerksam machen will, wobei ich mich aus verschiedenen Gründen nicht mit den (Chan- oder Zen-) buddhistischen Texten des alten China befasse - etwa mit dem von Christian Wittern herausgegeben Band "Mazu Daoyi und Dazhu Huihai - Grundlegende Reden und Aufzeichnungen der Hongzhou-Schule des Chan-Buddhismus". Da es in meiner Sendung um China geht, will ich Ihnen kurz vier Bände vorstellen, die sich mit dem Konfuzianismus befassen:

Scobels Kolumne:
Die Widersprüchlichkeiten Chinas
Vom Streben nach Harmonie und der Akzeptanz von Folter und Gewalt

Harmonie bedeutet, dass jede Gesellschaft ihren eigenen Werten folgt und man sich - wie der Sinologe Heiner Roetz zugespitzt schrieb - "nicht wechselseitig in normativen Fragen belästigt, sondern in einem friedlichen Nebeneinander um Kooperation bemüht". Nach dieser Definition ist auch die Diskussion mit China über Fragen der Menschenrechte eine Einmischung.
Leider wird in dieser Harmonie-Debatte, die seit vielen Jahren die innere und äußere Politik Chinas bestimmt, der Gelehrte Konfuzius zitiert, der in seinen Gesprächen (Lunyu) in Kapitel XIII, Vers. 23 bemerkte, dass der (konfuzianische) Edle und Weise den Einklang, aber nicht den Gleichklang suche. Der Edle ist friedfertig, macht sich aber nicht gemein, während der Unedle sich gemein macht und dabei nicht einmal friedfertig ist.

Das chinesische Einparteiensystem, der Staat, nimmt allerdings für sich immer wieder eine andere Haltung in Anspruch. Denn der Staat setzt keineswegs auf Pluralität und Relativismus in Sachen Normen, sondern darauf, sich in alle Einzelheiten einmischen und auf Abweichungen notfalls mit Gewalt, Folter und Hinrichtung zu reagieren. Aber nicht nur notfalls. Hat das Einparteiensystem, das im Oktober einen erneuten Machtwechsel erleben wird, angesichts des 18. Parteikongresses, tatsächlich "Not"? Manches deutet darauf hin, dass es innerhalb der (nach außen gut geschützten) Partei heftige Machtkämpfe, Verwerfungen und Risse gibt.

Jedes Jahrhundert hat seinen eigenen Konfuzius
Doch wo auch immer man Fragen wie diese diskutiert, taucht wie aus dem Nichts ein Name auf: Konfuzius. Der Konfuzianismus, der sich seit fast 2500 Jahren hält (obwohl, wie manche Kenner bemerken, jedes Jahrhundert seinen eigenen Konfuzius hat), scheint eine gute Folie zu sein, um die Veränderungen Chinas über die Jahrhunderte hinweg besser zu verstehen. Gerade auch das moderne China beruft sich immer wieder auf den ersten Bildungstheoretiker und frei tätigen Lehrer Chinas. Zu seiner Zeit war Konfuzius weitaus weniger anerkannt als der steigende Ruhm nach seinem Tod ahnen lässt.

Die Frage ist also, was der historische Meister Kong lehrte und dachte. Bilden diese Gedanken, die vor allem in den sogenannten Gesprächen (Lunyu) festgehalten sind, Anhaltspunkte, um die Widersprüche auch des modernen China zu verstehen? Und wie verhalten sich Konfuzius’ Ansichten - etwa seine goldene Regel - zu den westlichen Versuchen der Begründung von Ethik und Moral? Diese und ähnliche damit verbundene Fragen stehen im Zentrum der Sendung, die das Ziel hat, über China zu informieren und die Widersprüchlichkeit dieses großen, mächtigen Landes besser zu verstehen.


Charles Baudelaires 145. Todestag

Charles-Pierre Baudelaire,  9.4.1821 - 31.8.1867, war ein französischer Schriftsteller. Er gilt heute als einer der größten französischen Lyriker überhaupt und als einer der wichtigsten Wegbereiter der europäischen literarischen Moderne.

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Internationale Assoziation der Freunde von Charles Baudelaire















Mittwoch, 29. August 2012

Märchen, Mythen und Moderne

Grimm-Kongress in Kassel

Unter dem Titel „Märchen, Mythen und Moderne ? 200 Jahre Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm“ findet vom 17. bis 20. Dezember 2012 ein internationaler Kongress zu Leben und Werk der Brüder Grimm in Kassel statt. Erwartet werden rund 150 Wissenschaftler und ebenso viele Besucher aus aller Welt.

Am 20. Dezember 2012 jährt sich zum 200. Mal das Erscheinen des ersten Bandes der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Dieses aus dem Geist der Romantik hervorgegangene Werk stellt die weltweit wohl berühmteste Märchensammlung des 19. Jahrhunderts dar. Es zählt zu den am häufigsten übersetzten Werken der deutschen Literatur. Aus Anlass dieses 200-jährigen Jubiläums findet der internationale Grimm-Kongress an der Universität Kassel statt.

„Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler werden sich auf der viertägigen Konferenz mit den Forschungen der Brüder Grimm in ihrer ganzen Breite befassen“, sagt Kongresspräsidentin Prof. Dr. Claudia Brinker-von der Heyde: „Jacob und Wilhelm Grimm waren nicht nur als Sammler, Bearbeiter und Herausgeber von Märchen tätig. Sie sammelten auch Sagen, Schwänke, Legenden und Tierepen, gaben Literatur- und Rechtsdenkmäler der Vergangenheit heraus, waren als Mythenforscher, Sprachhistoriker und Dialektforscher aktiv. Nicht zuletzt begründeten sie mit dem Deutschen Wörterbuch ein Monumentalwerk der Germanistik, das größte und umfassendste Wörterbuch zur deutschen Sprache.“

„Neben dem weltweiten Erfolg ihrer Märchensammlung haben die Brüder Grimm in vielerlei Hinsicht als Wegbereiter gewirkt und der Wissenschaft Impulse gegeben“, sagt auch Prof. Dr. Holger Ehrhardt, Leiter des Fachgebiets Werk und Wirkung der Brüder Grimm an der Uni Kassel. Die Organisatoren erwarten von der Konferenz innovative Forschungsansätze sowohl zum Werk der Brüder Grimm als auch zu den vielfältigen Wissenschaftsbereichen, mit denen sie sich beschäftigt haben.

Die Konferenz wird sich mit zahlreichen Aspekten der Märchen befassen, von den Quellen über ihre Poetik und Psychologie bis hin zur aktuellen Rezeption in Hollywood-Filmen. Darüber hinaus geht es um die Biographien von Jacob und Wilhelm Grimm, ihren Einfluss auf die frühe germanistische Forschung, auf Sprachwissenschaft und mythologische Fragestellungen.

Zum Kongress werden mehrere prominente Teilnehmer erwartet. Der Psychoanalytiker und Schriftsteller Eugen Drewermann wird einen Vortrag halten zum Thema „Bilder gelebter Menschlichkeit oder wie Gott durch die Grimmschen Märchen geht“. Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse spricht zum Thema „Sprachenvielfalt und kulturelle Identität im europäischen Raum“.

Der Kongress wird nicht nur dem Fachpublikum, sondern auch interessierten Laien offen stehen. Begleitend zu den Vorträgen und fachlichen Diskussionen wird ein breit gefächertes kulturelles Rahmenprogramm erstellt, das die authentischen Grimm-Stätten Kassels ins Zentrum rückt.

Weitere Informationen hier.

Info:
Katharina Becker
Universität Kassel
Institut für Germanistik
Koordinatorin des Brüder-Grimm-Kongresses 2012
Tel.: +49 (0) 561 804 7209
E-Mail: k.becker@uni-kassel.de

Pressemitteilung Universität Kassel, Dr. Guido Rijkhoek, 28.08.2012

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Grimms Märchen - Wikipedia


Maurice Maeterlincks 150. Geburtstag

Graf Maurice Polydore Marie Bernard Maeterlinck,  29.8.1862 - 6.5.1949, war ein belgischer Schriftsteller und Dramatiker französischer Sprache. Symbolist, der 1911 den Nobelpreis für Literatur erhielt.

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Maurice Maeterlinck - De Zeeuw Van Vlaanderen:
Maurice Maeterlinck is de enige Belg die de Nobelprijs voor de literatuur in ontvangst heeft mogen nemen. In deze aflevering aandacht voor het verhaal van de schrijver uit Gent, vertelt door zijn achterneef.



Les 15 chansons de Maurice Maeterlinck:


John Lockes 380. Geburtstag

John Locke,  29.8.1632 - 28. Oktober 1704, war ein einflussreicher englischer Philosoph und Vordenker der Aufklärung.

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Dienstag, 28. August 2012

Literaturhaus - Museumsgesellschaft Zürich

Das Literaturhaus Zürich eröffnet sein Herbstprogramm am 6. September 2012

Programm

Ernst Weiß' 130. Geburtstag

Ernst Weiß, 28.8.1882 - 15.6.1940, war ein österreichischer Arzt und Schriftsteller.

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Die Kunst des Erzählens

Noch hat ein Kind die Sprache in Worten nicht verstehen gelernt, und schon beginnt es zu erzählen. Der zahnlose Greis, der neues zu lernen, neuen Sinn zu fassen nicht mehr fähig ist, noch immer kann er vom Erzählen nicht lassen, mit schmal gewordenen, blassen Lippen murmelt er Undeutliches der Aussprache nach; wenn aber jemand die Worte als solche richtig zu hören vermag, dann kann er meisterhaft Erzähltes aus einem Munde aufnehmen, der sonst scheinbar schon allem Leben, aller Liebe abgewandt ist. Denn einem Geiste, längst dem tätigen Dasein entfremdet, kann immer noch eine klare, reine Quelle entspringen; das Gedächtnis, dem die jüngsten, wirklichsten Ereignisse entgleiten, hält immer noch die ältesten Bilder in unverbrüchlicher Treue und Liebe fest.

Wilde Völkerschaften, wie Südseeinsulaner, Eskimos und Lappen, erzählen schlechthin vollendet. Viele gebildete, geistig hochstehende Menschen aber bringen kaum die kleinste, schlichteste Erzählung zustande. Können sie es aus dem Grunde nicht, aus dem sechzehnjährige Jünglinge das Malen und Zeichnen verlernt haben, das ihnen mit vier Jahren, zum Staunen aller Erzieher, wie durch Gnade angeboren war?

Man hat ein Recht anzunehmen, ein jeder Mensch könne »von Natur« erzählen. Man kann daher das Erzählen nur, wie der vierjährige Knabe das Malen, verlernen.

Hört man die Marktweiber unter dem Baldachin ihrer Schirme, zwischen ihren Körben mit Obst, ihren Käfigen mit Hühnern, hinter ihren Krügen mit Bauernblumen sich die Zeit der ganz frühen und der späten Marktstunden mit Gesprächen vertreiben, oder läßt man vor Gericht dem Angeklagten, dem Zeugen, besonders aus den unteren Schichten, freien Lauf mit ihren Berichten, ihren Ausbrüchen, Eindrücken und Abenteuern, da hört man oft das Leben selbst sprechen. Werden aber diese Menschen aufgefordert, das eben in vollster Lebensblüte Erzählte niederzuschreiben, dann ergibt sich meist nichts anderes als ein flaches, sentimentales, ödes Gespinst.

Es scheint, daß hier der Grad der Naivität entscheidet. Naiv, das heißt ganz absichtslos, ohne Rücksicht auf den Zuhörer und bisweilen ohne Rücksicht auf den Sinn, erzählt nur das Kind. Das Kind und der Wilde haben reine Freude am Klang, am Lärm, an dem fragenden Zögern, an der aufreizenden Pause, am ruhig weitergezogenen, drei- und unendlichemal wiederholten Pendelschlag der Erzählung. Eine etwas wehmütige Freude hat auch der Greis. Er empfindet den Durst, nochmals zu leben, in dem Augenblicke, da er nochmals sich reden hört. Er erzählt, solange er atmet. Solange er atmet, solange er lebt.

Sollte man nicht annehmen, jeder Mensch könne wenigstens einen guten Bericht schreiben, nämlich den des eigenen Daseins und Dagewesenseins? Aber es sind autobiographische Bücher von Wert noch größere Seltenheiten als wertvolle Bücher überhaupt.

Es muß also doch eine eigenartige Kunst des Erzählens geben. Oder es muß die angeborene, aber wieder verlernte Kunst der Darstellung aller Bildung, allem Schulwissen zu Trotz wiedergefunden werden können. Man muß erzählen, naiv wie ein Kind, wissend und im Feuer geläutert wie ein Greis, aber das alles mit dem glühenden Glauben des Jünglings und der großen, ruhigen, tragenden Kraft des Mannes. Die Vereinigung dieser Eigenschaften ist so selten wie die Vollendung bei einem irdischen Kunstwerk überhaupt. Regeln und Gesetze gibt es nicht, wie es auch in der Pädagogik keine festen Formen gibt.

Sich gerecht verteilen macht hier wie überall den Meister. Wer sich selbst zu sehr lauscht, der reißt wohl sein Werk von der Erde los, aber je höher er steigt, desto blendender, feuriger muß das Werk leuchten, sollen die Strahlen dann noch das Gewölke der Materie, den harten Urbann des Wortes durchbrechen, um über Zeiten, über Zonen heraus zu wirken. So sind Achill und Odysseus nicht einfach Figuren einer beliebigen Mythologie. Es sind Grundformen des menschlichen Wesens überhaupt, es ist Jünglingswelt in Achill und Manneswelt in Odysseus. Ob nun ein einzelner oder ein Volk bei diesen Gestalten mitgedichtet hat, sie sind nicht aus der Beobachtung der fremden Welt entstanden, sondern dem Flusse des eigenen Daseins entsprungen, dem Überflusse einer zweideutenden, einer umfassenden Seele. Und sind die Buchstaben der homerischen Gedichte heute so weit verdunkelt, daß wir nicht mehr wissen, wie sie geklungen haben, hat sich der Sinn der homerischen Welt auch so weit verändert, daß uns die Worte Sieg, Tod, Kampf, Meer und Irrfahrt, Troja und Penelope ganz anderes bedeuten, als sie dem Schöpfer dieser Werke und ihren ersten Hörern bedeutet haben – so strahlt doch, eben über die Zone der griechischen Küste, über die Zeiten der heroischen Kämpfe, das Werk und mit ihm seine Helden, seine Meister. Denn was Homer gezeugt, getötet, lebendig gemacht, was er geschmäht und gerühmt hat, das geht tiefer als sein Gegenstand, es besteht länger als der Stein, aus dem die Statue gebildet war.

Ganz dem Zuhörer hingegeben sein, nur mit dessen Zunge zu reden, mit dessen Vernunft zu denken, mit dessen Waage zu wägen, das macht ein Werk verständlich, eingängig und einheitlich. Solch ein Werk widerspricht sich nie. Aber so erzählen, wie der Durchschnitt der Menschen denkt und bewußt erlebt, das heißt überhaupt nicht erzählen. Mit Rücksicht auf die Masse und deren Auffassung, Fassungskraft und schnell verflogene Liebe erzählen heißt mit einem Griffel in fließendes Wasser schreiben. Ganz ohne Sinn ist auch dies nicht. Es ist ein Geschäft, ein Beruf, und wenn man daran denkt, einer großen Anzahl von Menschen nach ihrer Tage Arbeit und Mühsal ein wenig Unterhaltung zu gewähren, ist es sogar eine menschliche Berufung. In diesem Sinn soll man selbst den Kitsch nicht unterschätzen.

Aber die Generation, aus deren Durchschnittsgefühl heraus dieser banale Erzähler erzählt, geht dahin. Schon die kommende Generation versteht die Existenz, geschweige den Erfolg solcher Werke nicht mehr, ja, man begreift nicht einmal, was die frühere Generation Schönes an diesen Werken gefunden haben mag. Man versuche nur einmal, in diese »Sophiens Reisen nach Memel«, in die Romane der Spindler und Vulpius, von neuen Büchern dieser Art, wie sie in Zeitungen »unter dem Strich« laufen, ganz zu schweigen, einen Blick zu werfen. Man wird sich, wie von einem Massengrabe halbverfaulter Leichen, schaudernd abwenden. Solche Werke sind so tot, daß man nie ermißt, wie sie je lebendig gewesen sein sollen. Es ist nur der mechanische Abdruck, der letzte Abhub der Massen darin, das Gestaltlose, künstlerisch Unerfaßbare, das nie Organismus geworden ist und doch auch längst die Unschuld des rohen Stoffes eingebüßt hat. In diesem Sinne sind es traurige Momente der irdischen Vergeblichkeit, beschämend für den Sinn ihrer Zeit.

Sonntag, 26. August 2012

Otto Gildemeisters 110. Todestag

Otto Gildemeister, 13.3.1823 - 26.8.1902, war Journalist, Schriftsteller, Übersetzer, liberal-konservativer Politiker, Senator und Bremer Bürgermeister.

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Aus den Essays:


Jargon

(1890)
Im vorigen Jahrhundert gehörte das Wort Tugend zum Jargon; heute belächeln wir die überschwengliche Rührung, mit der gefühlvolle Herzen damals diesem Worte lauschten, und die Häufigkeit, mit der beliebte Schriftsteller es gebrauchten. Ist unsere Zeit frei von solchem Jargon? Ich zweifle daran. Tugend ist nicht mehr Mode, aber man spricht sehr viel von Sittlichkeit. Für den Hausgebrauch erscheint der Unterschied, ob es tugendhaft oder ob es sittlich sei, nicht eben erheblich, aber wer heutzutage sich ans Publikum wendet, muß seine Rede mit Sittlichkeit würzen oder salben. Früher sagte man Moral, aber Sittlichkeit klingt vornehmer, und vollends Ethik!
Wo man von sittlichen Problemen spricht, ist das Wort Sittlichkeit einwandsfrei. Aber man findet es seit einiger Zeit in wuchernder Fülle an Stellen, wo es keinen Sinn hat, z. B. wo es sich um wirtschaftliche Probleme handelt. Mit den Worten national, deutsch, patriotisch geht es ähnlich. Wie die Wulste, Tressen und Bänder der Schneidermode verhüllen sie irgend eine Dürftigkeit der Natur; wie sie, sind sie vom Übel, wo es aus Erkenntnis der Wirklichkeit vor allem ankommt. Man entkleidet den Körper, den der Wundarzt untersuchen soll, mag der Anblick noch so unschön sein.
Auf einem kürzlich abgehaltenen evangelisch-sozialen Kongreß ist das Wort Tugend (was ich durchaus billige) gar nicht, das Wort Sittlichkeit sehr oft vorgekommen. Nichts ist nämlich leichter, als die sozialen Fragen, denen auf wirtschaftlichem Wege äußerst schwer beizukommen ist, vom Standpunkte der Sittlichkeit aus zu beleuchten. Und wie die Elektrizität, um sich zu entladen, immer den leichtesten Ausweg sucht, so macht es auch der soziale Tatendrang, der sich in solchen Kongressen verdichtet. An der Stange des sittlichen Pathos gleitet das Fluidum bequem in den Erdboden. Zu den zahlreichen sonoren Resolutionen des Kongresses hat ein Generalsuperintendent eine feierliche Einleitung augenscheinlich mit Sorgfalt redigiert, und die Resolutionen sind mit dieser Ouvertüre in die Welt gegangen. Darin wird unter anderem nun folgendes als Aufgabe der Versammlung bezeichnet:
»Dahin zu wirken, daß auf dem Grunde einer neuen, aus dem Evangelium geborenen Gesinnung die einzelnen Stände sich ihrer Verpflichtungen gegeneinander bewußt und denselben gerecht werden; daß insonderheit die Arbeitgeber den sittlich ebenbürtigen Wert der Arbeit anerkennen, die Arbeiter aber in derselben einen sittlichen Beruf erblicken lernen.«
Was heißt das? Daß es gut wäre, wenn alle Menschen ihre Pflichten, einschließlich der sozialen, erfüllten, z. B. ehrlich hielten, was sie versprochen haben, und einer dem andern anständig, gerecht und hilfreich begegnete, bestreitet natürlich niemand. Diesen Teil des Satzes, der nur überflüssig, aber nicht irreleitend ist, lasse ich auf sich beruhen. Aber über »den sittlich ebenbürtigen Wert der Arbeit,« den der Arbeitgeber anerkennen soll, möchte ich mir Auskunft erbitten. Wieso hat denn die Arbeit als Arbeit sittlichen Wert? (an den pädagogischen ist doch in diesem Zusammenhange nicht zu denken). Und wem soll er ebenbürtig sein? Und endlich, wenn nun der Arbeitgeber sagt: »Jawohl, ich erkenne den ebenbürtigen sittlichen Wert der Arbeit an,« was folgt daraus? Was wird damit genützt? Wird er für Arbeit, weil sie sittlichen Wert hat, höheren Lohn zahlen, oder sie angenehmer machen können?
Arbeit als solche ist weder sittlich noch unsittlich. Ich habe immer gehört, daß die Sittlichkeit einer Handlung lediglich von den Motiven abhänge, und ich glaube, daß das die allgemeine Ansicht ist. Nun wird man nicht sehr fehlgehen, wenn man annimmt, daß neunundneunzig von hundert Arbeitern sich von dem Wunsche, ihren Lebensunterhalt zu gewinnen, bestimmen lassen. Sie wissen, daß sie ohne Arbeit entweder hungern und frieren oder betteln und stehlen müssen. Sie ziehen die Arbeit vor, weil sie das bei weitem geringere Übel ist. Daß sie so handeln, ist verständig und untadelhaft, aber es als sittlich zu rühmen, sehe ich keinen besonderen Grund. Man müßte denn die Sittlichkeit als etwas Negatives auffassen, als bloße Abwesenheit des Lasters. Die positive Sittlichkeit beginnt für mich erst da, wo einer freiwillig stöhnt und schwitzet unter Lebensmühen, um anderen zu helfen, oder einem idealen Interesse zuliebe, wo einer arbeitet, um die Schulden eines Freundes zu tilgen, den Hunger eines Fremdlings zu stillen oder einer gerechten Sache zum Siege zu verhelfen. Mit Hilfe einer subtilen chemischen Analyse wird man vielleicht auch in der gewöhnlichen Erwerbstätigkeit des gewöhnlichen Arbeiters positive Sittlichkeit entdecken wie in einer Tonne Gesteins ein Milligramm Goldes. Zum Beispiel eine Mitwirkung des Gerechtigkeitssinnes, der uns verbietet, eine Last, die wir selbst tragen sollten, auf andere abzuwälzen. Aber man denkt nicht zu niedrig von der menschlichen Natur, wenn man als das eigentliche, praktisch wirksame Motiv der menschlichen Arbeit – von dem Zwange der Sklaverei abgesehen – das wohlverstandene und übrigens vollkommen berechtigte Interesse der Arbeitenden ansieht. Das Wort sittlich ist deshalb bloß Phrase.
Die Phrase aber ist irreleitend, weil sie den Arbeiter in einem Wahne bestärkt, zu dem er, von seinen Schmeichlern verführt, ohnehin nur allzusehr neigt, in dem Wahne nämlich, daß seine Erwerbstätigkeit an sich etwas ausnahmsweise Verdienstliches sei, bekleidet mit einer ihr eigentümlichen Würde, die allen anderen menschlichen Tätigkeiten abgehe. Er glaubt schon jetzt, daß er der alleinige Schöpfer aller irdischen Güter sei; er glaubt, daß ein ungerechtes Schicksal nur ihn allein zu Anstrengungen, Entbehrungen und Leiden verdamme; er wird es sich gern gesagt sein lassen, daß er mit jedem Hammerschlag und Spatenstich eine Tat der Sittlichkeit vollbringe, die ihn von den rechnenden Bourgeois vorteilhaft unterscheide.
Vielleicht wird der Herr Generalsuperintendent einwenden, er habe es so gar nicht gemeint: er habe nur sagen wollen, daß die Arbeitgeber ihre Arbeiter human behandeln, in ihnen stets die menschliche Würde, das menschliche Recht und die menschliche Schwäche anerkennen und schonen sollten. Den Arbeitern aber habe er nur empfehlen wollen, daß sie die übernommene Leistung gewissenhaft erfüllen und ihr gegebenes Wort halten möchten. Ich selbst glaube beinahe, daß etwas Ähnliches ihm vorgeschwebt hat, und daß nur der heute übliche sozialistische Jargon schuld ist, wenn er das Einfache und Richtige so dunkel ausgedrückt hat. Ohne den Jargon hätte sich aber vielleicht der Zweifel bei ihm geregt, ob es sich der Mühe lohne, so einfache Dinge so feierlich zu verkünden.

* * *

Otto Gildemeister übersetzte u. a. aus Shakespeares und Lord Byrons Werken.

Hier die Vertonung des Poems "Sun of the sleepless" von George Gordon Byron (Lord Byron) in der Übersetzung "Sonne der Schlummerlosen" von Otto Gildemeister durch Hugo Wolf (1860-1903). Es singt der Bariton Dietrich Fischer-Dieskau, am Klavier begleitet von Gerald Moore:


Sun of the Sleepless

Sun of the sleepless! melancholy star!
Whose tearful beam glows tremulously far!
That shows the darkness thou canst not dispel,
How like art thou to joy remember'd well!
So gleams the past, the light of other days,
Which shines, but warms not with its powerless rays;
A nightbeam Sorrow watcheth to behold,
Distinct, but distant - clear - but, oh how cold!

George Gordon Lord Byron (1788-1824)


Sonne der Schlummerlosen

Sonne der Schlummerlosen, bleicher Stern!
Wie Tränen zittern, schimmerst du von fern;
Du zeigst die Nacht, doch scheuchst sie nicht zurück,
Wie ähnlich bist du dem entschwundnen Glück,
Dem Licht vergangner Tage, das fortan nur leuchten,
Aber nimmer wärmen kann!
Die Trauer wacht, wie es durchs Dunkel wallt,
Deutlich doch fern, hell, aber o wie kalt!

German translation by Otto Gildemeister (1823-1902)


Guillaume Apollinaires 132. Geburtstag

Guillaume Apollinaire (eigentlich Wilhelm Albert Vladimir Apollinaris de Wąż-Kostrowicki),  26.8.1880 - 9.11.1918, war ein französischer Autor italienisch-polnischer Abstammung. Vor allem seine Lyrik gehört zur bedeutendsten französischen Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Wikipedia


Wikipédia (Français)


Guillaume Apollinaire - Seite (französisch)



Je pense à toi

Je pense à toi mon Lou ton cœur est ma caserne
Mes sens sont tes chevaux ton souvenir est ma luzerne

Le ciel est plein ce soir de sabres d'éperons
Les canonniers s'en vont dans l'ombre lourds et prompts

Mais près de toi je vois sans cesse ton image
Ta bouche est la blessure ardente du courage

Nos fanfares éclatent dans la nuit comme ta voix
Quand je suis à cheval tu trottes près de moi

Nos 75 sont gracieux comme ton corps
Et tes cheveux sont fauves comme le feu d'un obus
qui éclate au nord

Je t'aime tes mains et mes souvenirs
Font sonner à toute heure une heureuse fanfare
Des soleils tour à tour se prennent à hennir
Nous sommes les bat-flanc sur qui ruent les étoiles.



La Chanson Du Malaime

Un soir de demi-brume à Londres
Un voyou qui ressemblait à
Mon amour vint à ma rencontre
Et le regard qu'il me jeta
Me fit baisser les yeux de honte

Je suivis ce mauvais garçon
Qui sifflotait mains dans les poches
Nous semblions entre les maisons
Onde ouverte de la mer Rouge
Lui les Hébreux moi Pharaon

Qui tombent ces vagues de briques
Si tu ne fus pas bien aimée
Je suis le souverain d'Egypte
Sa sœur-épouse son armée
Si tu n'es pas l'amour unique.







Marie

Vous y dansiez petite fille
Y danserez-vous mère-grand
C'est la maclotte qui sautille
Toutes les cloches sonneront
Quand donc reviendrez-vous Marie

Les masques sont silencieux
Et la musique est si lointaine
Qu'elle semble venir des cieux
Oui je veux vous aimer mais vous aimer à peine
Et mon mal est délicieux

Les brebis s'en vont dans la neige
Flocons de laine et ceux d'argent
Des soldats passent et que n'ai-je
Un cœur moi ce cœur changeant
Changeant et puis encor que sais-je

Sais-je où s'en iront tes cheveux
Crépus comme mer qui moutonne
Sais-je où s'en iront tes cheveux
Et tes mains feuilles d'automne
Qui jonchent aussi nos aveux

Je passais au bord de la Seine
Un livre ancien sous le bras
Le fleuve est pareil à ma peine
Il s'écoule et ne tarit pas
Quand donc finira la semaine.


Le Pont Mirabeau

Sous le pont Mirabeau coule la Seine
Et nos amours
Faut-il qu'il m'en souvienne
La joie venait toujours après la peine.

Vienne la nuit sonne l'heure
Les jours s'en vont je demeure

Les mains dans les mains restons face à face
Tandis que sous
Le pont de nos bras passe
Des éternels regards l'onde si lasse

Vienne la nuit sonne l'heure
Les jours s'en vont je demeure

L'amour s'en va comme cette eau courante
L'amour s'en va
Comme la vie est lente
Et comme l'Espérance est violente

Vienne la nuit sonne l'heure
Les jours s'en vont je demeure

Passent les jours et passent les semaines
Ni temps passé
Ni les amours reviennent
Sous le pont Mirabeau coule la Seine


Chant de l'horizon en Champagne

    À M. Joseph Granié.

    Voici le tétin rose de l'euphorbe verruquée
    Voici le nez des soldats invisibles
    Moi l'horizon invisible je chante
    Que les civils et les femmes écoutent ces chansons
    Et voici d'abord la cantilène du brancardier blessé

        Le sol est blanc la nuit l'azure
        Saigne la crucifixion
        Tandis que saigne la blessure
        Du soldat de Promission

        Un chien jappait l'obus miaule
        La lueur muette a jailli
        À savoir si la guerre est drôle
        Les masques n'ont pas tressailli

        Mais quel fou rire sous le masque
        Blancheur éternelle d'ici
        Où la colombe porte un casque
        Et l'acier s'envole aussi

    Je suis seul sur le champ de bataille
    Je suis la tranchée blanche le bois vert et roux
    L'obus miaule
    Je te tuerai
    Animez-vous fantassins à passepoil jaune
    Grands artilleurs roux comme des taupes
    Bleu-de-roi comme les golfes méditerranéens
    Veloutés de toutes les nuances du velours
    Ou mauves encore ou bleu-horizon comme les autres
    Ou déteints
    Venez le pot en tête
    Debout fusée éclairante
    Danse grenadier en agitant tes pommes de pin
    Alidades des triangles de visée pointez-vous sur les lueurs
    Creusez des trous enfants de 20 ans creusez des trous
    Sculptez les profondeurs
    Envolez-vous essaims des avions blonds ainsi que les avettes
    Moi l'horizon je fais la roue comme un grand Paon
    Écoutez renaître les oracles qui avaient cessé
    Le grand Pan est ressuscité
    Champagne viril qui émoustille la Champagne
    Hommes faits jeunes gens
    Caméléon des autos-canons
    Et vous classe 16
    Craquements des arrivées ou bien floraison blanche dans les cieux
    J'était content pourtant ça brûlait la paupière
    Les officiers captifs voulaient cacher leurs noms
    Œil du Breton blessé couché sur la civière
    Et qui criait aux morts aux sapins aux canons
    Priez pour moi Bon Dieu je suis le pauvre Pierre

        Boyaux et rumeur du canon
        Sur cette mer aux blanches vagues
        Fou stoïque comme Zénon
        Pilote du cœur tu zigzagues

        Petites forêts de sapins
        La nichée attend la becquée
        Pointe-t-il des nez de lapins
        Comme l'euphorbe verruquée

        Ainsi que l'euphorbe d'ici
        Le soleil à peine boutonne
        Je l'adore comme un Parsi
        Ce tout petit soleil d'automne

        Un fantassin presque un enfant
        Bleu comme le jour qui s'écoule
        Beau comme mon cœur triomphant
        Disait en mettant sa cagoule

        Tandis que nous n'y sommes pas
        Que de filles deviennent belles
        Voici l'hiver et pas à pas
        Leur beauté s'éloignera d'elles

        Ô Lueurs soudaines des tirs
        Cette beauté que j'imagine
        Faute d'avoir des souvenirs
        Tire de vous son origine

        Car elle n'est rien que l'ardeur
        De la bataille violente
        Et de la terrible lueur
        Il s'est fait une muse ardente

    Il regarde longtemps l'horizon
    Couteaux tonneaux d'eaux
    Des lanternes allumées se sont croisées
    Moi l'horizon je combattrai pour la victoire

    Je suis l'invisible qui ne peut disparaître
    Je suis comme l'onde
    Allons ouvrez les écluses que je me précipite et renverse tout

Samstag, 25. August 2012

Friedrich Wilhelm Nietzsches 112. Todestag

Friedrich Wilhelm Nietzsche, 15.10.1844 - 25.8.1900, war ein Klassischer Philologe und Philosoph, der auch durch seinen aphoristischen Stil literarisch breit und nachhaltig wirkte.

Wikipedia

Rezension von:
Emil Walter-Busch: Burckhardt und Nietzsche im Revolutionszeitalter. Wilhelm Fink, München 2012.
Neue Zürcher Zeitung, 14.8.2012






Freitag, 24. August 2012

Kafka's Wound

A digital essay by Will Self
THE SPACE, London Review of Books
in co-operation with Brunel University London

The London Review of Books wanted to create a digital literary work that pushed the boundaries of the literary essay well beyond its traditional form; using digital technology to loosen and enhance the structure of the essay, changing the way the reader interacts with the text.

Very interesting and appealing new form of digital texting.











Donnerstag, 23. August 2012

Alois Jiráseks 161. Geburtstag

Alois Jirásek, 23.8.1851 - 12.3.1930, war ein tschechischer Schriftsteller und Historiker.  Als einer der ersten tschechischen Schriftsteller unterschrieb er im Jahre 1917 das Manifest für die Gründung eines selbstständigen tschechischen Staates. Alois Jirásek verlas bei der Proklamation der Republik die Eidesformel des tschechischen Volkes.

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Abbildung aus Wikipedia

Alois Jirásek: Chodische Freiheitskämpfer

Mittwoch, 22. August 2012

Paul Celan und seine Kölner Freundschaften

Heikle Freundschaften
Paul Celan und seine Kölner Kollegen
Eine hervorragende Edition der Briefe zwischen Paul Celan und seinen Kölner Freunden Rolf Schroers, Paul Schallück und Heinrich Böll wirft ein Licht auf ebenso spannungsreiche wie überraschende Beziehungen.
Beatrice von Matt, Neue Zürcher Zeitung, 20.8.2012

Arthur Holitschers 143. Geburtstag

Arthur Holitscher, 22.8.1869 - 14.10.1941, war ein Reiseschriftsteller, Essayist, Romancier und Dramatiker. 1933 kamen Holitschers Bücher auf die Liste der „auszumerzenden Literatur“ und wurden verbrannt. Er floh nach Paris und später nach Genf. Ab 1939 lebte er verarmt und verlassen in einem Quartier der Heilsarmee in Genf, wo er am 14. Oktober 1941 im Alter von 72 Jahren starb. Die Grabrede auf ihn hielt Robert Musil.

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Abbildung aus Gutenberg


Arthur Holitscher - eine Bildvorlage für Kafkas Amerika-Roman? "Der Verschollene" in der Lesart einer Textgenese. Ingo Langenbach, NEUE GESELLSCHAFT / FRANKFURTER HEFTE


Der neue Intellektuelle
Eine Begegnung mit Herrn »Howard Curle«

Aus: Arthur Holitscher: Essays zu Kunst und Literatur, Volk und Welot, 1979; Quelle: Projekt Guttenberg


Wir sind früh in den Palazzo Pitti gekommen, in den Sälen ist kaum noch ein Me<nsch. Gleich schiebe ich mir einen Sessel vor Giorgiones Konzert, während mein Reisegefährte in ziellosem Umherschlendern seinen Genuß zu erjagen versucht.

Ich bin noch gar nicht recht ins Schauen hineingeraten, da kommt er schon, ganz rasch, auf Fußspitzen, durch alle Türen zu mir zurück; er ist weiß wie Linnen, über dem linken Auge hat er den roten Fleck auf der Stirn – so bleibt er vor mir stehen, etwas hat ihm die Rede verschlagen! Es wird Jahr um Jahr unerquicklicher, mit ihm zu reisen. Jetzt geht er zu seinem Kölnischen Wasser heim, und es vergeht ein Tag, es vergehen zwei, eh' ich ihn wieder zu Gesichte bekomme. »Drüben ... vor dem Kardinal von van Dyck steht ein Mensch ... geh und sieh: Ob du es glaubst oder nicht... es ist Oskar Wilde!«

Ich sehe ihn an. Der rote Fleck hat sich ausgebreitet, hat die Schläfe gewonnen. »Oskar Wilde,« bemerke ich ruhevoll, »geboren 1850 zu Dublin, liegt seit dem Herbst 1900 in Bagneux begraben, einem kleinen Vorort von Paris ... übrigens, da du hier bist gerade, willst du, bitte, den Jüngling mit dem Federhut hier im Bilde in Augenschein nehmen? Dieses leere Gespenst! Wenn ich an die Jünglinge von Giorgione denke, den Berliner, den Braunschweiger, den aus Hampton Court: auf Treu und Glauben, dieser hier nie und nimmer!« – »Ich bin, wie du weißt, Wilde wiederholt begegnet, vor seinem Prozeß in Oxford, nachher in Sizilien, in Assisi ...« – »Verzeih: das Konzert – eine alte Freundschaft, die in die Brüche geht, ist wohl eine wert, die man erneuern möchte? Wenn Ihr Euch begegnet seid, wird der Mann dort drin dich wohl wieder erkennen. Hat er dich wieder erkannt?« – »Selbstverständlich: nein. Ich stand neben ihm und er sah mich. Nichts dergleichen.« Sein Gesicht zieht sich vor Leiden zusammen: »Versprich mir, daß du das nicht auf sich beruhen läßt! Denn ich habe ja leider genug für heute!« – »Ärmster!« Schon ist er fort.

Allmählich gleitet alles aus dem Bereich der Aufmerksamkeit hinweg, der Jüngling, der Ordensbruder, die inbrünstige Mittelfigur, ich rücke den Sessel an die Wand zurück und gehe durch die Säle. Vor van Dycks Kardinal steht ein Mann.

– Ein einziges Mal habe ich Oskar Wilde gesehen, einige Wochen vor seinem Tode, im Pavillon Rodin auf der Pariser Weltausstellung. Er war mit einem jungen Franzosen da und sah ruiniert aus. Ich fühlte Trauer in mir wie einen körperlichen Schmerz, als ich ihn so vor mir stehen sah und erkannte. Aber da blickte er zu den Statuen auf und mir wurde im Nu frei und warm zu Sinne. Ich habe den wundervoll beschwingten Blick, mit dem der zerstörte Mensch die Geschöpfe der Kunst grüßte, lebendig in mir erhalten wie eine Lehre. Ich sah dem Mann vor dem van Dyck ins Gesicht. Er hatte sogar den Blick. –

Am Nachmittag lief der Portier des kleinen Palazzo Sibillini am Arno mit ehrerbietigem Rücken durch den Flur vor mir her, die Treppe hinauf und schellte an der alten Eichenpforte, auf der das Wahrzeichen der ausgestorbenen Familie der Sibillini als Türklopfer zu sehen war: eine geharnischte Frau mit offenem Buch in den erhobenen Händen. Außerdem war ein kleines silbernes Sicherheitsschloß in die Eichentür eingelassen und ein Metallschild mit den Worten: »Mr. Howard Curle«.

Im Vorzimmer stand ein livrierter italienischer Antinous, dessen Zügen die verheerende Wirkung der Lektüre von englischen Detektivgeschichten anzusehen war; er stand da und hatte den strengen Auftrag, keinen Unbekannten zu seinem Herrn zu lassen. Ich schrieb auf meine Karte: es handelt sich um einen gemeinsamen Freund. Ich dachte mir: er wird mir doch nicht durch seinen Diener sagen lassen, daß er mit niemandem gemeinsame Freunde besitze! Über meinen Kopf weg führte der Portier mit dem Antinous die augenzwinkernde Geheimsprache der Trinkgeldempfänger. – Der Herr ließ bitten.

Mr. Curle saß in einem prächtigen grünen Damastzimmer zwischen alten Boulemöbeln, hinter deren Scheiben man Porzellan, Bronzemünzen und Pergamentbände erblickte. Er ließ mich in einem Lehnstuhl gegen das Licht niedersitzen, die Junisonne vom Arno her floß glorreich und blendend über sein Gesicht, seine Hände, über die ganze weichliche und ein wenig gedunsene Gestalt mir gegenüber. Ich begann gleich mit der Erklärung: ich komme aus Deutschland, in den Zeitungen steht alle drei, vier Monate einmal die Nachricht, Oskar Wilde sei hier und dort gesehen worden; ich selber habe Wilde ein einziges Mal gesehen, in Paris, auch habe ich über Wildes Sterben und Begräbnis glaubwürdige Mitteilungen empfangen durch einen Freund, der zugegen gewesen ist, einen der wenigen, die die tristen Tage vor dem Tode, die beschämend dürftigen Veranstaltungen nach dem Tode Wildes miterlebt haben.

Herr Howard Curle: »Ihr Freund ist der Maler van 'sGravenhage.«

Ich: »... ja, jawohl, Sir, Sie scheinen unterrichtet zu sein?«

»Ich bin über alles unterrichtet, was sich von Wildes Tode bis zu seiner Beerdigung zugetragen hat.«

»Das genügt mir, ich danke Ihnen, Mr. Curle. Denn nun weiß ich's ja, daß Sie nicht Oskar Wilde sind.«

»Vorausgesetzt... Nun, ich war ja nicht zugegen und habe auch nur meine, ebenfalls recht glaubwürdigen Informationen, die allerdings woanders herkommen als die Ihren!«

»Wie meinen Sie denn das: vorausgesetzt, Mr. Curle?«

»Ich meine damit: ebensowenig der Vater eines Menschen mit Sicherheit zu bestimmen ist, ebensowenig kann man es mit Sicherheit behaupten, daß ein Mensch gestorben ist und begraben wurde.«

»Van 'sGravenhage war dabei, als man den Sarg zugeschlossen und vernietet hat.«

»Sie sprechen ein passables Englisch, Sir, Sie sprechen das Londoner Englisch, ich nehme an, Sie haben sich eine Zeitlang in London aufgehalten. Haben Sie sich da nicht in einer müßigen Stunde die sogenannten »ägyptischen Mysterien« von Maskelyne und Devant angesehen? Zu meiner Zeit war diese Zauberbühne in der Nähe von Piccadilly. Da konnte man und kann man ohne Zweifel heut noch einen lebenden Menschen in Adamsgröße vor den Augen des Publikums verschwinden, einfach in Nichts sich auflösen und verschwinden sehn! Diese Illusion wird durch eine Kombination von geschickt aufgestellten Spiegeln erreicht. Wollen Sie sich nur einen Sarg auf einer Bahre vorstellen, das heißt: einen ziegelförmigen Holzkasten, der auf einem mit schwarzen Tüchern verhängten, im übrigen vollständig hohlen Brettergerüst ruht?«

»Ja, ja, ich sehe das. Wir haben im Deutschen einen trefflichen Ausdruck für dergleichen: wir nennen es Spiegelfechterei. Das gute englische Wort Humbug sagt aber vielleicht dasselbe.«

»Ich kenne die Sitten Deutschlands wenig, Sir, bei uns in England wählt man für den Fall, man hätte jemand Unhöflichkeiten zu sagen, einen neutralen Ort, das Bureau eines Rechtsanwalts, seltener den Klub, niemals die Behausung dessen, den zu beleidigen man vorhat.«

»Ferne liegt es mir, Sie für einen Charlatan erklären zu wollen, Mr. Curle, ich bitte Sie, dies zu glauben. Nach den ersten Minuten unserer Unterhaltung erblicke ich in Ihnen vielmehr einen Mann, der seine Bestimmung unter den Menschen nicht zu finden vermocht hat und sich, begünstigt durch einen außerordentlichen Zufall, mit plötzlichem Entschluß eine wenn auch beschwerliche, so doch unbedingt lohnende Pose angeeignet hat, die es ihm ermöglicht, nun endlich Einer zu sein, Einen vorzustellen. Wenn dieser Eine auch ganz und gar und deutlich und ausgesprochen ein Anderer ist als er selbst!«

Herr Curle sah mich eine Zeitlang nachdenklich an und sprach darauf: »In dieser Lage befindet sich vielleicht jeder Gestorbene? Ein rechtschaffener Toter ist ja gewiß ein schauderhafter Poseur, aber nicht dies ist's, was ich meine.«

Ich nickte: »Ich verstehe Sie vollkommen, Mr. Curle. Jawohl, an eine Art von Totsein habe ich dabei selber gedacht.«

»Wollen Sie die Liebenswürdigkeit haben, mir diese Art ein wenig zu verdeutlichen, Sir?«

»Gewiß, ich will's versuchen. Ich meine: wie viele von denen, die in Wahrheit leben, erleben den Augenblick ihres physischen Todes? Wie viele solcher Götterlieblinge gibt's unter denen, die wirklich gelebt haben? Der Tod, den ich meine, tritt den lebenden, das heißt den tätigen Menschen in dem Augenblicke an, in dem er zu sich spricht: ich muß meine Taktik ändern. Es ist der Augenblick, in dem der Sieger reaktionär wird und sich bemüht, den Nachstrebenden die Möglichkeiten, die ihm selber zum Sieg verholfen haben, abzuschneiden, und es ist der Augenblick, in dem der Untergekriegte sich mit seinem Schicksal versöhnt und die Spuren seines Kampfes vernichtet, sozusagen die Namen der Götter, die auf seinem Wege standen, an die er geglaubt, an denen er gezweifelt hat, aus seinem Herzen stößt, zerbläst wie, wie schlechte Gase ... Es ist aber auch der Augenblick, in dem Einer die totale Selbstvernichtung begehen wird, weil in ihm der Glaube lebt: Drüben erst werde er sein menschenwürdiges Los finden. Tod ist's auf alle Fälle ... so ungefähr dachte ich mir's. Nur scheint es schwer zu sein, mit Anstand und ohne Aufhebens stille zu liegen; wie oft, wenn mir die Ohren gellen, sage ich vor mich hin: schreit doch nicht so, was schreit Ihr denn, wir wissen ja, daß Ihr nur die Stimme überschreien wollt, die in Euch spricht: tot, tot, tot!«

»Nachdem Sie mir auf diese Weise die Art meiner Selbstvernichtung verdeutlicht haben, möchten Sie mir nun nicht sagen, wann in Wildes Leben jener Augenblick eingetreten ist?«

»Der Spötter und Weltmann Wilde wird wohl, als er im Gefängnis seine hohe und reine Zuchthausballade entstehen fühlte, in die Nähe des Augenblicks geraten sein. Vielleicht hat er ihn früher schon gestreift, zur Zeit, da er jene Abhandlung über den Sozialismus und die Menschenseele niedergeschrieben hat – er hat den Augenblick, in dem sein Leben sich hätte verklären können, wohl in einer Distanz empfunden –, gestreift vielleicht, er wurde nicht berührt von ihm, und er ist als ein Lebender gestorben, vermute ich. Denn ich kann mir den Augenblick jenes Todes, von dem wir sprechen, nicht anders vorstellen als einen Blitz, der ein Leben jählings in ein Vorher und ein Nachher auseinander spaltet, auf dem Feld stehen Bäume, schwarz, aufrecht, ohne Laub ... nein, das ist's nicht, was ich sagen will, ich drücke mich schlecht aus, verzeihen Sie ...«

»Nehmen Sie an, Sir, die Legende wäre Wahrheit und Wildes Körper erfüllte noch heute die vorgeschriebenen Bedingungen der Existenz im Fleische. In diesem Falle würde sich die Umkehr ganz gegen Ihre Annahme in Wilde vollzogen haben, und der Augenblick seines angeblichen Todes und Beerdigtwerdens gäbe für Sie und mich das Signal ab dafür, daß der Verschwundene seine Umkehr in die Tat umgesetzt hat. Ist es nicht so? Sie haben indes sicherlich gehört, daß Wilde kurz vor seinem Tode katholisch geworden ist. Diese Prozedur war wohl nichts weiter als das Bemühen eines schlauen Komödianten, seinen gut vorbereiteten Abgang von der Bühne möglichst wirkungsvoll einzuleiten?«

»Nein, ich glaube in Wildes Katholizismus den Beweis dafür zu haben, daß er weiterzuleben gedachte. Ich kenne einige Künstler in England und weiß, wie sie unter ihrem Protestantismus seufzen. Vielleicht wollte Wilde nur sein Erdenleben in einer erhobenen, frei gesteigerten Form weiterführen, sich als Phantasiemensch nicht mehr mit den Wahrheiten des kleinen Einmaleins herumschlagen und wurde katholisch aus dem Grunde, aus dem ein aufgeklärter katholischer Priester, den ich in Rom kannte, es ein für allemal ablehnte, über das Dogma der unbefleckten Empfängnis, der Unfehlbarkeit und so weiter zu debattieren – aus Bequemlichkeit, sagte er, in Wahrheit, weil die Flügel an seinen Schultern schon anfingen, etwas lahm zu werden.«

»Vielleicht ist Wilde katholisch geworden, ganz einfach um seinen Selbstmord, den die Kirche ja verbietet, zu verheimlichen.«

»Oh, Selbstmord, Mr. Curle?!«

»Nun, ebensowenig es sich mit Sicherheit feststellen läßt, ob einer richtig begraben wurde oder nicht, ebensowenig genau kann man nachweisen, ob einer des geruhsamen oder des schlimmen Todes gestorben ist, wenn's der Verstorbene nur einigermaßen geschickt angefaßt hat. Wilde hatte alle Ursache, seinen Selbstmord zu vertuschen; er hat ihn als die schmachvollste Art der Kapitulation des Einzelnen vor der Gesellschaft verworfen!«

Ich sah Herrn Curle an; vielleicht wurde ich jetzt erst seiner ganz verblüffenden Ähnlichkeit mit Wilde gewahr.

»Wie, glauben Sie, Mr. Curle, hätte Wilde denn weitergelebt, wäre er hinter dem Rücken der Menschen von den Toten auferstanden?«

Herr Curle sah mich mit lustigem Zwinkern an, führte eine italienische Handbewegung aus und sprach: »Schwer zu sagen, Sir! Es gibt nur einen Präzedenzfall, und den haben die Theologen verpfuscht. Auf jeden Fall ist das Ableben ein Erlebnis solch schwerwiegender Art, daß es dem, der's aushält, gestattet sein muß, sich auf die ihm eigenste Weise aus der Affäre zu ziehen. Ich denke, ein höflicher und geistvoller Mann wird nach seinem Tode nicht ruhen, ehe er eine Dankesschuld von sich gewälzt hat, die er bei Lebzeiten nicht abtragen konnte. Ich meine: Wilde wird vor allem beim Lord Queensbery vorgesprochen haben, der seinen Prozeß, die späteren Ereignisse und somit auch Wildes Erlösung von der Mitwelt in die Wege geleitet hat. Es ist aber gar nicht unmöglich, daß er den zu Reading hingerichteten Reiter in der Kgl. Leibgarde, C.T.W., dem die Zuchthausballade gewidmet ist, aufgesucht hat ...«

»Man hat Wilde kurz nach seinem Tode in Amerika gesehn!«

»Sir – das halte ich für durchaus unwahrscheinlich. Wer Oskars Briefe aus Amerika und die Abneigung, die er gegen die Staaten hegte, kennt, wird es einem Manne von Geist nicht zumuten, daß er sich gerade dort versteckt, um alle Zweifel an seinem irdischen Tode verstummen zu machen. Man hat ihn, soviel ich weiß, in Avignon, in Turin, in Rom, in Tanger gesehen, all dies beweist natürlich nicht das geringste.«

»Nein, in der Tat, nicht das geringste. Denn ich habe ihn ja heute im Palazzo Pitti gesehen und sogar besucht.«

»Teilen Sie das einer Ihrer deutschen Zeitungen mit, und man wird Sie für einen nicht ernst zu nehmenden Menschen erklären, wahrscheinlich für einen Narren, den man binden sollte.«

»Ich kann's auch einer französischen Zeitung mitteilen!«

»Man wird den Verstorbenen für einen sacré farceur erklären und sich weiter nicht aufregen!«

»Teilte ich's einer englischen Zeitung mit – –«

»Es würden nur ein paar Tische in Bloomsbury und Pimlico, deren Beruf das Sichdrehen ist, in Bewegung geraten und sonst niemand.«

»Übrigens unterschätzen Sie die mögliche Wirkung auf die Gemüter in Deutschland. Man ist dort sehr hinter solchen Sensationen her! Theater, eine Schar, würde Wildes Schauspiele wieder aufs Repertoire setzen!«

»Bitte, mein Herr, sprechen Sie mir um Gottes willen nur nicht von Wildes Theaterstücken!«

»Wilde ist nämlich nach seinem Tode in Deutschland populär geworden.«

Herr Curle, mit allen Zeichen tiefsten Abscheus: »Er hatte also nicht nur recht, sich beizeiten davonzumachen, er hat auch guten Grund, nicht körperlich aufzuerstehen. Die Popularität – ha! – ich will nicht sagen: die Popularität in Deutschland, ich will im allgemeinen sagen: die Popularität! Sir, ich will Ihnen etwas Heiliges aus einem Narrenleben verraten: Die Tragik in Wildes Leben ist nicht in den gewiß furchtbaren Begebenheiten während seines Prozesses und in den nachfolgenden zu suchen, das Tragische in Wildes Leben hat sich während seiner Glanzzeit begeben. Er hat zu viele weltliche Vorteile, zu viel Eitelkeitsnutzen aus seinen Fähigkeiten gezogen; als er dies einsah, kam das Grauenhafte über ihn: er fing die Welt, in der er lebte, er fing sich und vor allem seine Werke um ihrer Wirkung willen zu verachten an. Er beschloß, diese Welt, die ihm sein eitles Bild entgegenwarf, wie einen Spiegel mit einem Schlag des Spazierstockes zu zertrümmern; er beschloß, ins Fegefeuer hinabzusteigen, um später geläutert die Werke aus den Träumen seiner Jugend schaffen zu können – aber o weh! Er stieg verbrannt aus dem Feuer und nicht geläutert, starrte in den Spiegel und entsetzte sich, als er sein Bild darin nicht mehr erblickte. Die Sucht, zu glänzen, Mittelpunkt und ein Erreger des Neides zu sein, saß zu tief drin im Blut seiner Pulse; um sein Selbstbewußtsein bis zu dem Grade zu erhitzen, bei dem seine Dichterkraft zu quellen, zu brausen anfing, benötigte er bitter den flitternden Beifall und das lächelnde Staunen um sich herum. So wurde Wilde ein Schönsprecher, Witzbold und Anekdotenborn der Estaminets und der Kaffeehäuser, vor Leuten, die sich mit dem Gesicht gegen die Wand setzten, um nicht von sich sagen zu hören: ei, sieh da, ich hab den ja neulich mit Wilde gesehn! Und die Werke, die hellen Werke alle blieben ungeschrieben. Da sagte sich eines Tages dieser gewitzigte Geist: So billig hält Gott eben die Buße nicht feil – das ist es. Für Jene, die ihre Person zu weit in den Vordergrund gedrängt haben, bis an den Platz, wo nur das Werk, aber nicht sein Schöpfer stehen darf, für sie gibt's nur eine Sühne, nur ein Zurücktreten: Den Tod, das radikale Verschwinden.«

»Und dennoch – Howard Curle?«

Herr Curle lachte leise in sich hinein, und ziemlich lange. Endlich sprach er: »Wie war das doch, was Sie am Anfang unseres Gesprächs von dem Mann sagten, der seine Bestimmung ... wie war das doch?«

»Ich meinte den, der seinen Platz im Leben nicht zu finden vermocht hat und eine Pose auf sich nimmt, um endlich als Einer dazustehen, ungefähr ...«

»Ich wollte sagen, das ist nicht übel gedacht, wenn auch etwas schwunglos ausgedrückt. Was würden Sie zu einem sagen, der sich die amüsante und lohnende, immerhin etwas unbehagliche Aufgabe gestellt hätte: Den Menschen eine Lehre zu erteilen, indem er sie mystifiziert, weil er weiß, daß das Geheimnisvolle eine ungleich stärkere Suggestion ausübt, als die bestgefügten Worte es je könnten?« Mr. Curle warf sich in die Brust und sprach: »Ja, jawohl, beim Jupiter, Ausdauer, Verschlagenheit gehören schon dazu, um eine derartige Gegenwart aufrechtzuerhalten. Und noch etwas, gewiß, noch etwas mehr ...«

»Sie wollen doch nicht sagen, Sir, daß Sie von Gründen der Menschenliebe, von erzieherischen Gründen sich bestimmen ließen, als ein posthumer Oskar Wilde herumzugehen?«

»Wir vergeuden den wunderhellen Junitag, mein Herr, wir vergeuden ihn. Lassen Sie mich nur kurz sein: die Methode des Lebens, die ich Ihnen da expliziert habe, ist eine Methode, die sich ein ganz phantasiearmer Kopf zurechtgelegt hat und gewiß nicht des Mannes würdig, der von sich sagt:

»he who lives more lives than one,
more deaths than one must die.«

Dies müssen Sie als untrüglichen Beweis dafür gelten lassen, daß ich der Mann bin, dessen Namen Sie auf dem Schild vor meiner Tür gelesen haben, und niemand anders. Nur werden Sie jetzt vielleicht etwas besser von mir denken als vor einer Viertelstunde, und das also wäre gewonnen. Denn ich habe Ihnen klargemacht, wie hier einer seine Pose nicht eigentlich um seines eigenen Nimbus willen auf sich genommen hat, sondern um diesen Nimbus einem Andern zu verleihen, der nicht mehr fähig ist, ihn sich selber zu erwerben. Dies ist übrigens der einzige mir bekannt gewordene Fall, in dem aus einem Dandy ein Heiliger geworden ist. Eine Figur, die der arme Oskar hätte verewigen sollen!«

»Sie werden mir aber zugeben, daß Sie gefallen sind, ins Unheilige, sehr Menschliche, Unterdandyhafte, soeben: da Sie mir gestanden, nicht Wilde zu sein. Wenn es die höchste, unverbrüchliche Pflicht des Dandy ist, in seiner Rolle zu bleiben, so steigert sich diese Pflicht mit ihm ins Heilige empor. Ich brauche jetzt bloß hinzugehen und einem Freunde, der im Hotel auf mich wartet, mitzuteilen, daß ich dem Wilde aus Avignon, Tunis und Turin persönlich begegnet bin und daß es niemand anders ist als ein Herr Howard Curle, begabt mit einer erstaunlichen Ähnlichkeit mit Wilde, und der es im übrigen selber willig zugibt, Herr Howard Curle zu sein – – die Legende ist weggeblasen, und Sie sind der letzte und infamste, entlarvte Snob und ein Spott der Welt!«

»Sie haben unrecht. Sagen Sie es getrost, beweisen Sie es unwiderleglich, daß ich Howard Curle bin und nicht der Andere – die Menschen werden erst recht an die Legende glauben.« Er hatte sich erhoben und geleitete mich zur Tür.

Ich: »Es ist furchtbar, was Sie da von den Menschen sagen!«

Herr Curle: »Man muß gestorben sein, um das von den Menschen zu wissen.«

Ich: »Und wer das von den Menschen weiß, kann gar nichts Klügeres tun als sterben.«

Herr Curle: »In der Tat, Sir, in der Tat. Guten Tag.«