Sonntag, 1. Juli 2012

Georg Christoph Lichtenbergs 270. Geburtstag

Georg Christoph Lichtenberg (1. Juli 1742 - 24. Februar 1799) war Mathematiker und der erste deutsche Professor für Experimentalphysik. Als deutscher Schriftsteller begründete er den deutschsprachigen Aphorismus im Zeitalter der Aufklärung.

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Lichtenberg-Gesellschaft

Georg Christoph Lichtenberg

Rede der Ziffer 8 am Jüngsten Tage des 1798sten Jahres, im Grossen Rat der Ziffern gehalten

(Die Nulle, wie gewöhnlich, im Präsidentenstuhl)

Anfang; die Rednerin spricht viel von sich; wird ausgelacht; ereifert sich; Lobrede auf die Nulle; Dezimalsystem; Touloner Flotte; Berg Sinai; die Nulle wird rot; erster Tag des XIX. Jahrhunderts; Beschluß; Ende.
  Durchlauchtigste Nulle,
     Großgütigste Präsidentin und Stellvertreterin Unser Aller,
        Allerseits, nach angestammter Ungleichheit, höchst zu
           verehrende Mitschwestern,
              9, 7, 6, 5, 4, 3, 2, 1.
Morgen wird der Tag sein, an welchem ich in unserem geheimen chronologischen Ausschuß die Bank der Einer auf zehn Jahre verlassen und morgen über ein Jahr (tiefer Seufzer) der, an dem ich die der Hunderte wieder besteigen werde, auf der ich nun seit ultimo Decembris 899 nicht gesessen habe. Ihr werdet mir also verstatten, teuerste Mitschwestern, daß ich, ehe ich meine Stelle im geheimen Ausschuß der Schwester Neune übertrage, ein paar Worte zu euch rede, wozu mir einige Vorfälle während meines Sitzes auf dieser Bank Veranlassung gegeben haben und worüber es in dem Jahre, das morgen seines Anfang nimmt, vielleicht noch oft zur Sprache kommen möchte.

Ich finde zwar in den Annalen des chronologischen Ausschusses kein Beispiel, daß je von irgendeiner Schwester bei ähnlichen Gelegenheiten öffentlich im großen Rat wäre gesprochen worden. Ja, ich erinnere mich noch sehr wohl, ob es gleich tausend Jahre her sind, daß ich sogar am ersten Jänner 800, an dem Tage, da ich die Ehre hatte, zum erstenmal in centgräflicher Glorie im Ausschuß zu sitzen, nicht zu euch geredet habe. Aber, geliebte Mitschwestern, tempora mutantur. Die 8, die das neunte Jahrhundert beherrschte, ist nicht mehr die, die das neunzehnte beherrschen wird; in tausend Jahren läßt sich wohl was lernen. Oh, ich habe es hundertmal bereuet, daß ich am letzten Dezember 1789, als ich mich von der Bank der Zehner zurückzog, nicht manches über den Fall der alten Bastille und der alten Philosophie, der sich unter meinem praesidio ereignete und mir schwer auf dem Herzen lag, gleich damals deklariert habe. Gottlob aber, es kann mir, als der sichern Erbin des Vorsitzes der Hunderte im nächsten Jahrhunderte nicht an Gelegenheit fehlen, nachzuholen, was ich versäumet habe, nämlich zu erweisen, daß Bastillen und Philosophien geboren werden und sterben und wieder geboren werden und wieder sterben, so wie mutatis mutandis ihre Erbauer und ihre Erfinder. (Hier Geräusch.) Oh! ich verstehe euch wohl. Ihr scheint es nicht zum besten zu nehmen, daß ich, als bloße Mitschwester, und weder die höchste noch die geringste unter euch, es zuerst wage, Schlüsse zu machen und von Rechenschaft zu sprechen. Schlimm genug für euch. (Gemurmel.)

Doch damit ihr seht, daß ich meinen Wert kenne und meinen Stammbaum studiert habe, so müßt ihr allerdings wissen: Ich bin unter euch allen erstens die vollkommenste gerade Zahl (große Stille); bin zweitens unter euch allen der einzige wahre Würfel (spöttisches Lächeln von der Präsidentin und der Eins); bestehe drittens aus zwei gleichen Quadraten (die Präsidentin lächelt fort); bin viertens, was das sonderbarste ist, zugleich der Würfel der Zahl, deren doppeltes Quadrat ich bin; und diese Zahl ist fünftens die ewige unverwerfliche Schiedsrichterin über alles Gerade und Ungerade im unermeßlichen Reiche der Zahlen von vorn und hinten in alle Ewigkeit. (Spöttisches »Amen!« von einigen; tiefe Verbeugung der Schwester Zwei.) Daher mich auch, ohne Ruhm zu melden (heimliches Gickeln), die gütige Natur nach ihrer anbetungswürdigen, ewigen Weisheit im Range der arithmetischen Größe zwischen dich, Quadrat aller guten Dinge, hochverehrliche Neune, und dich, hochwürdige apokalyptische Sieben, von Ewigkeit her gestellt hat. Ja, wenn ich alles zusammennehme, so fühle ich mich kühn genug, geradeheraus zu sagen, daß keine unter euch allen, in Rücksicht auf Naturgabe, sich mit mir messen kann als unsere erhabenste Präsidentin, die Nulle. (Lautes Gelächter. »Sehr naiv«, riefen einige; »sehr wahr«, andere; und eine hatte sogar die Verwegenheit, »ancora« zu rufen. Dieses brachte die Rednerin sichtbarlich auf, und sie fuhr mit einiger Heftigkeit fort:) Pfui, schämt euch! Ist das eine Aufführung für ganze Zahlen? Oder befinde ich mich vielleicht unter einer Rotte nichtswerter Dezimalbrüche, wovon man unendliche Reihen wegwirft und am Ende den ganzen mächtigen Verlust mit einem paar Pünktchen oder einem et cetera ersetzt? (Große Stille, weil man wohl fühlen mochte, daß man mehr die Präsidentin als die Achte beleidigt hatte.)

Und sagt mir, was ist denn Lächerliches darin, daß ich mich neben der Nulle wichtig dünke? Kennt ihr wohl die wahrscheinliche Grenze des menschlichen Lebens? Was für Ziffern hat denn die allgütige Natur ausersehen, dies Grenzen zu bestimmen? Habt ihr wohl von einem Buche gehört, worin es heißt: »Wenn's hoch kommt, so sind's achtzig?« Und wie schreibt man diese Achtzig? Wie? – Oh! es sollte mir ein leichtes sein, auch mit drei Worten zu Jakobinern zu machen. Ich tue es aber nicht und werde bloß zeigen, daß euer Mangel an Respekt gegen unsere Präsidentin sich allein auf eure Ignoranz gründete. Erlaube mir also, erhabene Nulle, Präsidentin unseres Rats, Kreis, Kugel, Bild der Ewigkeit, Schöpferin und Erbin des Chaos oder wie du sonst genannt sein willst, daß ich, ehe ich zum Hauptvortrage meiner Angelegenheiten komme, ein paar Augenblicke, einigen dieser Elenden zuliebe, bei deinem Verdienst verweile. Sagt, Spötterinnen war es nicht die Nulle, die die Jahre zählte, ehe noch Zeit und Zahl waren, und dann wieder zählen wird, wenn diese nicht mehr sein werden? Fand nicht Shakespeare, der große Allfühler, selbst das Zeichen der Nulle so wichtig und ehrwürdig, daß er sogar die Welt damit bezeichnete und die Schaubühne, die seine Privatwelt war?  Wäre er ein Deutscher gewesen, so würde er sicherlich jetzt sein Vaterland dankbar ebenfalls damit bezeichnen. War Sie es nicht, die den großen Gedanken faßte, die 1 zur 10, 100, 1000, etc. zu erheben und dann, durch eine leichte Schwenkung, wiederum zu 0,1; 0, 01;0, 001 etc. zu erniedrigen, wie man eine Hand umwendet? Wahrlich, das Größeste, was je in der Welt, im Felde sowohl als auf dem Papier, durch Schwenkung ausgerichtet worden ist, und überdies so schwanger an Betrachtungen über Größe und Hinfälligkeit menschlicher Dinge, deren Wert oft bloß von Schwenkungen einiger Nullen abhängt, daß, teuerste Mitschwestern (so nenne ich euch schwesterlich wieder, da ich Zeichen der Rührung bei euch bemerke), daß, sage ich, die Zeit meines Aufenthaltes auf dieser Bank, ja, daß die ganze Zeit, die ich hier gesessen habe, zu kurz sein würde, alles dieses zur Geburt zu bringen.

So wurde die Nulle endlich Schöpferin des großen Dezimalsystems und der großen Zehnfingrigkeit, die, wenn nicht Admiral Nelson, der bekanntlich nur fünf Finger hat, den Lauf der Taten hemmt, sich mit ihren zehn Fingern alles unterwerfen wird. Denn ihr müßt wissen, daß die große Nation, die ihre Freiheit mit 581 Schlachten, wovon 580 auf der Erde und eine über den Wolken vorgefallen ist, erkauft hat, die Ebnerin der mächtigsten Thronen, die Durchstecherin der Landenge von Suez, die Abgleicherin durch Ungleichheit und die Käuferin des mit Geld Unerkäuflichen – daß, sage ich, diese Nation dieses Dezimalsystem mit der ihr eignen Kraft und Barschaft an Taten unterstützt und mit dem Feldgeschrei: »Friede dem Einmaleins und Krieg allen Tafeln, Sonnenuhren und Zifferblättern der ganzen Welt«, von Westen nach Osten zieht. Oh! wie habe ich während meines Präsidiums auf der Einerbank oft gelächelt, wenn man von Bonapartes geheimen Absichten sprach und die hauptsächlichste darunter vergaß, nämlich: den Berg Sinai zu erobern, eine Druckerei auf demselben anzulegen und so das Dezimalsystem über die ganze rechnende Welt zu verbreiten. Der Gedanke hat in der Tat etwas Großes .

Denn erstlich ist das der Berg, auf welchem bekanntlich das erste Dezimalsystem auf steinernen Tafeln gedruckt worden, das daher, gottlob! auch so ziemlich Eingang gefunden hat; zweitens beweist es eine gewisse Erkenntlichkeit der großen Nation, die allerdings jenem Berge eine Art von Satisfaktion schuldig war, da bei ihr, zugleich mit der Einführung der neuen Dezimalmaße, manche Hauptartikel jenes alten Systems gleichsam aboliert worden waren. Wie ich höre, so wird mit den neuen Sinustafeln der Anfang gemacht werden und in der großen Universalorographie der Berg künftig seinen Namen von dieser Stiftung erhalten, wiewohl man der Schwachen wegen ihn einige Zeit bloß mit Mons sin bezeichnen wird, jedes Herz lesen kann, wie es will: Sinai oder Sinuum. Doch ich fühle, ich verliere mich in der Erzählung deiner Taten und deines Wertes, große erhabene Nulle, sinnliches Bild des unabbildlichen Nichts. Wo würde ich ein Ende finden in dir, dem unerschöpflichen Thema von Tausenden? Ich ermüde. Doch erlaube mir, nur noch einige Minuten deinen bürgerlichen Verhältnissen in tiefster Verehrung zu weihen. Warst du es nicht, Citoyenne, die seit jeher deutsche Verdienst, wenn alles fehlte, aus deinem unerschöpflichen Vorrate belohntest, den hungrigen Dichter bald mit deinem runden Ambrosiazwieback labtest, bald in die leere Tasche des Lottospielers und des tief spekulierenden Kaufmanns, weiß, klar und rund, tröstend hinabperltest? Warst du es nicht, die allein den Armen nicht verließ und bar übrigblieb, wenn Alexander, Tamerlan, der Kosake Pugatschow und der Zigeuner Gallant, oder sonst noch älteres oder neueres Gesindel, alles, Häuser, Schiebladen und Börsen, à jour gefaßt, zurückließen? (Die Präsidentin verhüllt sich und glüht schamrot durch den Schleier durch wie der volle Mond bei einer Totalverfinsterung. Die Rednerin bemerkt es und geht zu einem neuen Gegenstand mit einer tiefen Verbeugung über.)

Teuerste Mitschwestern, ich komme nun (indem sie sich die Augen wischt), da ein großer Teil der Zeit, die ich zu reden hatte, verstrichen ist, nach Rednerart geschwind zur Hauptsache. Ob ich ebenso geschwind darüber hingehen werde, hängt von der Zeit ab. Ihr wißt, ich rede in der Gespensterstunde. Schlägt die Glocke zwölf – weg bin ich. Ich habe sowohl aus dem Reichs- als Allgemeinen literarischen Anzeiger und noch aus einigen andern Anzeigern, und darunter sogar einigen englischen, mit Verwunderung ersehen, daß man in der Christenwelt über die Grenzlinie des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts eine Art Streit führt, der mit dem über die Rheingrenze einige Ähnlichkeit hat, nur mit dem Unterschiede, daß die eine Partei ganz auf dem rechten, die andere ganz auf dem linken Ufer besteht. An eine Mittellinie ist noch nicht gedacht worden. Das hätte auch noch gefehlt! Ich will mich erklären. Ihr wißt, morgen über ein Jahr besteige ich die Bank der Hunderte, und unsere Präsidentin ist, trotz so vieler diplomatischen Geschäfte, die sie in der Welt jetzt zu dirigieren hat, entschlossen, das Präsidium auf der Bank der Zehner und nebenher der Einer als Filial zu übernehmen, das ist, wir werden 1800 schreiben. Morgen über zwei Jahre tritt sie die niedrigere Stelle von beiden der Eins, die mit so vielen Ruhme die Allerhöchste seit 800 Jahren begleitet hat, zum Filial ab, und wir werden 1801 haben. Die Frage ist nun, wann und an welchem Tage sollen Personen, die viel auf Geburtstagsschmäuse halten, den Geburtstag des neunzehnten Jahrhunderts feiern? An dem Tage, an welchem ich auf die Bank der Hunderte trete, oder (nachdem ich diese ein Jahr besessen habe) an dem Tage, da die Eins das Geschäft der Einer übernimmt? Kürzer: am 1. Jänner 1800 oder 1801? Ihr seht deutlich, daß mich dieser Streit notwendig sehr interessieren muß. Mein ganzes erstes Regierungsjahr mit Hunderterrang steht auf dem Spiel und ist gerade die Strombreite, um welche gestritten wird. Keine Kleinigkeit für den, der zu Herzen nimmt, daß es hier auf die Frage ankommt, ob jenes, mein erstes Jahr, den jämmerlichen Nachtrab eines alten Jahrhunderts machen oder die Anführerin eines neuen sein soll, das mit verjüngter Glorie seinen Einzug in die staunende Welt nehmen wird. Bedenkt, Mitschwestern, die Anführerin des neunzehnten, als des Jahrhunderts, das vermutlich die Zahl der Planeten verdoppeln und die der Trabanten und der Metalle vervierfachen wird, des Jahrhunderts, worin vermutlich die Luftschlachten der Völker sich zu den Land- und Seeschlachten wie 580 zu 1 verhalten werden, so daß die Zeitungsschreiber von Paris bis Hamburg sie mit hundertfüßigen Teleskopen aus dem Kontor selbst bevisieren, bephantasieren und als Augenzeugen beschreiben können, und worin man die hoch vorübersausenden Helden und ihre Sänger wie Raubvögel und Lerchen aus der Luft schießen wird. Oh! und des Jahrhunderts, das gewiß die Ehre haben wird, die Früchte einer neuen Wissenschaft, ich meine der mit großem Geld- und Blutaufwand eröffneten neufränkischen Experimentalpolitik, entweder einzuernten oder, als hienieden unreifbar, zum Dünger für etwas minder Utopisches wieder unterzupflügen. Das Herz blutet mir, wenn ich bedenke, daß wahrscheinlich mein Antrittsjahr 1800 noch an das vergangene wird abgeliefert werden müssen. Hierüber muß ich mich erklären (sieht nach der Uhr und fängt an, geschwinder zu reden).

Ihr wißt allerseits, daß im 6. Jahrhundert zu Rom ein kaum vier Fuß hoher Abt lebte, der, wo ich nicht irre, aus Skythien stammte. Er hieß Dionysius, und wegen seines geringfügigen Körpers: der Kleine (Exiguus). Dieser kleine Mann hatte zuerst den großen Einfall, unsere Jahre nach der Geburt Christi zu zählen, das ist, unsere jetzige Zeitrechnung zu stiften. Soviel ich weiß, ist sein Geist nie gemessen worden; allein das weiß man mit vieler Zuverlässigkeit, daß er sich im Jahr der Geburt Christi wohl geirrt haben möge, praeter propter um etwa vier Jahre. Doch darauf kommt hier nichts an. Genug, seine Zeitrechnung, wahr oder falsch, gleichviel, fand Beifall, und dieser mächtige Epochenstamm wuchs auf christlichem Boden ungestört fort, trotz der vielen kleine Schmarotzerepochen, die sich an denselben hier und da angesetzt haben und noch immer ansetzen. Allein, jammerschade ist, daß noch sogar gestritten wird, wie eigentlich der kleine Dionysius gerechnet habe, ob er, weil Christus nicht auf den ersten Jänner geboren worden ist, sondern vorher und die eigentliche Inkarnation noch weiter in das Jahr der Geburt zurückfiel, das Jahr der Geburt und der Inkarnation selbst das erste Jahr genannt habe oder das Jahr nach diesem Geburts- und Inkarnationsjahre. Diese Schwierigkeit ist so groß (denn Kleinigkeiten aus reine zu bringen hat oft große Schwierigkeiten), daß ein zweiter Dionysius, der tausend Jahre nach jenem kam, kein winziger vier Fuß hoher Abbé, sondern ein derber Sechsfüßer von einem französischen Jesuiten namens Dionysius Petavius, der, ob er gleich im 16. Jahrhundert zu Orleans und Paris sichtbar herumwandelte, im Geist größtenteils in den alten Zeiten spükte, sie so groß fand, daß er anfangs nicht recht mit sich selbst eins darüber werden konnte, sich einmal sogar selbst widersprach, doch aber am Ende bewies, wir zählten, wenn wir dionysisch zählen wollten, jetzt wirklich falsch und müßten eigentlich bisher schon 1799 gezählt haben, da wir 1798 zählten. Doch diese nur im Vorbeigehen und zum Beweis einer Unsicherheit in diesen Rechnungen, die wenigstens dazu dienen kann, eine andere zu entschuldigen.

Ihr werdet, teuerste Mitschwestern, allerseits gesehen haben, daß die Zweideutigkeit, von der ich soeben geredet habe, den Grenzstreit der Jahrhunderte gar nichts angeht. Genug, wir zählen Jahre, ob scharf dionysisch oder nicht, das ist nun gleichviel. Es wäre lächerlich, zumal ohne eine Armee von dreihunderttausend Mann, sich jetzt noch einem so alten christlichen Gebrauche durch solche Finessen zu widersetzen und die Ordnung der Dinge zu stören. Es hieße außerdem ja, als wenn unsere Erfindungskraft so erschöpft wäre, daß wir gar nichts weiter erfinden könnten als neue Meilen, neue Thermometerskalen und neue Schmarotzerepochen. (Hier etwas Gemurmel von Mons Sin: und Uhrzifferblättern. Die Rednerin hört es, fährt aber ruhig fort.) Mit einem Wort, wir zählen Jahre nach Tausenden, nach Hunderten usw. Sobald wir aber dieses tun, so müssen wir auch offenbar, um die Hundert vollzumachen, die Hundert selbst nicht fehlen lassen. Wo nach Hunderten gezählt wird, macht die Hundert selbst den Beschluß. So wäre also das Jahr, das nun in wenigen Minuten zu Ende gehen wird, das 798ste nach Christi Geburt gewesen, folglich fehlen noch zwei, um das Hundert vollzumachen, und der Geburtstagsschmaus des neunzehnten Jahrhunderts muß gefeiert werden: am 1. Jänner 1801. Also das erste Jahr, worin ich auf der Bank der Hunderte erscheine, ist wirklich (man bemerkt ein Zittern in der Stimme) der Nachtrab das vergangenen Jahrhunderts, und ich muß mich damit trösten, daß ich, in rangmäßiger Verbindung mit der Schwester Eins, die Ehre habe, das 18. Jahrhundert endlich einmal mit voller Zahl zu besiegeln, welches bisher immer mit einer 17 und Dezimalbrüchen des Säkulums geschehen ist. Da ich dieses mir von der Vernunft übergebene Siegel ein ganzes Jahr noch als Bürgerin des 18. Jahrhunderts führen werde, so hoffe ich, auch damit selbst die bruta, die bisher nicht begreifen konnten, warum das 18. Jahrhundert mit einer 17 bezeichnet wurde, zu überzeugen, daß wir bisher im 18. Jahrhundert gelebt haben. Der Gerechte erbarmt sich auch seines Rindviehes. Ihr erkennt nunmehr, teuerste Mitschwestern, hieraus meine Unparteilichkeit. Ja (sich ermunternd), mit Freuden lege ich die schimmernde Krone, die mir bei meiner Erhöhung gereicht wurde, in das Grab des hingestorbenen Jahrhunderts. – Indessen sollte es mich nichts weniger als betrüben, wenn die Geburtstagsschmauser auch den ersten Tag meiner Erscheinung (1. Jan. 1800), an welchem sich Millionen Hände zu einem neuen Zuge gewöhnen müssen und sich mit kalligraphischem Wonnegefühl gewiß, wiewohl nicht ohne unzählige Schnitzer, endlich gewöhnen werden, auch ein wenig feierten. Denn so würden ja (sie lächelt in sich selbst hinein), was die Welt immer liegt, der Schmaustage, statt eines, zwei (frohes, jovialisches Lächeln von allen Seiten). Ja, wo ich nicht sehr irre, so ist gerade jener neue Datumszug wohl hauptsächlich Ursache, warum über die Frage gestritten wird, und ebendeswegen schon eines kleinen Präliminärschmauses, vor dem großen Definitivschmause, wert.

Indessen aber, teuerste Mitschwestern, so sehr ich auch alte, ehrwürdige Gebräuche respektiere und überzeugt bin, daß sich unser christliches Jahrhundert erst mit dem 1. Jänner 1801 anfange, so kann ich euch doch unmöglich verhehlen, daß es auch Gründe gibt, die entgegengesetzte Meinung zu verteidigen, wiewohl ich sehr gern zugebe, daß diese Gründe eben nicht gerade die sein mögen, womit sie von ihren gewöhnlichen Anhängern verteidigt wird.

Es ist nämlich gewiß: 1. daß unsere gegenwärtige, wahr oder fälschlich so genannte dionysische Epoche sich von der Beschneidung Christi und weder von seinem Geburtstage, dem 25. Dezember, noch von dem Inkarnationstage desselben anhebt. einem Tage, der hierbei so wichtig gehalten wurde, daß die Engländer bis 1752 sogar ihr Jahr von demselben zu zählen anfingen, und noch bis jetzt spielt dieser Tag (der 25. März, Lady-day, Mariaverkündigung) unter ihnen bei Mietkontrakten u. dgl. seine Rolle. Also fällt weder der Geburts- noch der Inkarnationstag an den Anfang unserer jetzt rezipierten Epoche, sondern beide Tage, auf die doch alles ankommt, fallen in das Jahr vorher, und folglich zählen wir, im strengsten Verstande, nicht Jahre nach dem Geburts- und Inkarnationstage, sondern nach dem Geburts- und Inkarnationsjahr Christi; 2. ist wohl ganz außer allem Zweifel, daß wir nicht vergangene, sondern laufende Jahre zählen. Unser gewöhnlicher Ausdruck anno 1, anno 1000, anno 1798 zeugt, so wie der lateinische Ausdruck anno post Christum natum primo, millesimo etc., daß man im bürgerlichen Leben nicht vergangene Jahre zählet, sondern laufende. Man datiert Briefe nach dem laufenden Jahre so wie nach dem laufenden Monatstage. Bezeichnet aber jener Ausdruck bloß Jahre nach dem Geburts- und Inkarnationsjahre, wie soll man denn dieses Geburts- und Inkarnationsjahr selbst bezeichnen? Doch wohl nicht mit dem Namens des ersten Jahres vor der Geburt und Inkarnation? Dieses wäre ja ebenso widersinnig, als es das erste nach derselben zu nennen. Es bleibt also nichts übrig, als – da unsere Jahrrechnung mit einem ersten Jänner anfängt, vor welchem die Geburt und Inkarnation Christi liegt und liegen muß – das ganze Jahr der Begebenheit selbst mit 0 zu bezeichnen und dessen Anfangspunkt um ein ganzes Jahr hinter den der christlich-bürgerlichen Epoche zurückzusetzen, aber nicht ein ganzes Jahr hinter das Datum der Begebenheiten selbst, auf die es eigentlich hier ankommt, sondern nicht einmal ein ganzes Vierteljahr hinter den Tag der Inkarnation. Sobald man aber ein Jahr Christi 0 hat, das ist ein Jahr, das man weder das erste Jahr vor dessen Geburt noch das erste nach derselben nennen kann, so ist es wenigstens niemand zu verdenken, am allerwenigsten aber jemandem, der etwa mehr mit dem Absoluten der Meßkunst als mit dem Konventionellen bürgerlicher Beschlüsse bekannt wäre, wenn er für recht und billig hielte, unsere Jahre von jenem Nullpunkte an zu zählen, also nicht laufende, sondern verstrichene Jahre, geradeso wie der Astronom ohnehin schon seine Zeichen des Tierkreises bei den Längen der Planeten und seine Monatstage zählt und wie wir selbst im gemeinen Leben unsere Stunden zählen. Denn drei Uhr fünfzig heißt ja auch nicht fünfzig Minuten der dritten Stunde, sondern der vierten, so wie 100 Rtlr. 6 Ggr. nicht 6 Ggr. des hundertsten Talers oder soviel als 99 Rtlr. 6 Ggr. bedeutet. Warum soll denn nun 1798, 1. Juli, geradesoviel sagen als sechs Monate des 1798sten Jahres und nicht 1798 Jahr und sechs Monate nach jenem 0, das nicht viel unrichtiger liegt als jener Anfangspunkt und wodurch obendrein so viele Gleichförmigkeit in die Sprache über Zeitrechnung überhaupt gebracht würde? Denn soviel ich sehe, würde dadurch die Ordnung der Tafeln nicht im mindesten gestört werden. Wenn man den Ort der Sonne für 1798, den 1. Juli 5 Uhr, berechnen will, so schreibt man aus den Tafeln den Ort für die Epoche von 1798, d. i. für den Anfang dieses Jahres nach bürgerlicher Rechnung, ab, addiert dazu die Veränderung von 6 Monaten und von 5 Stunden. Aber der Anfang des 1798sten Jahres, nach der gewöhnlichen Rechnung, ist ja mit dem Ende das 1798ste, von jener 0 an gerechnet, einerlei. Allein, so gerechnet, schreiben wir jetzt, da ich rede (sieht nach der Uhr), von jenem 0 an, 1798 Jahre, 11 Monate, 30 Tage, 23 Stunden, 56 Minuten, und heute über ein Jahr ginge mit dem 1799sten Jahr nach der gewöhnlichen Rechnung, das hundertste des Jahrhunderts, auf dies Weise gezählt, zu Ende. Noch merke ich an, daß es ja nicht sonderbarer wäre, wenn die Astronomen ihre Jahrhunderte anders zählten, als daß sie ihre Tage anders zählen wie sie wirklich tun, nämlich nicht laufende, sondern vergangene, und dies noch obendrein von einem anderen 0 ab als das im bürgerlichen Leben. Zum Beschluß erinnere ich noch einmal, daß ich nicht verbessern, nicht neuern, sondern bloß entschuldigen wollte. (Die Neune regt sich, um von der Bank Besitz zu nehmen.) Ich sehe, teuerste Schwester und Nachfolgerin, du eilst, meine Stelle einzunehmen. Ich weiche. Bedenke, du hast ein wichtiges Jahr vor dir. Sorge ja für Frieden und halte dich durchaus während deiner Regierung als das Quadrat aller guten Dinge und nicht (etwas in den Bart murmelnd) wie im kalten Winter. (Die Glocke schlägt 12, man hört etwas von: Viel Lärm um nichts; die 8 geht ab, und die 9 setzt sich auf die Bank. Gratulationen zum neuen Jahr von allen Seiten.)

Nachschrift des Herausgebers

Vorstehende Rede ist von unbekannter Hand mit der beigefügten Versicherung eingeschickt worden, daß einigen Freunden des hiesigen Taschenbuchs ein Dienst geschehe, wenn sie in diesen Jahrgang eingerückt würde. Man konnte der Erfüllung dieses Wunsches um so weniger entgegen sein, als man wirklich willens war, etwas Ähnliches im Jahrgang für 1800 zu sagen. Da indessen die Wendung, die der Verfasser genommen hat, die Einrückung im gegenwärtigen ganz gut entschuldigt, so mag der Aufsatz nun hier stehen. Auf den Nullpunkt der Epochen als schicklichen terminum a quo hätte der Verfasser wohl einen noch stärkern Akzent legen können. Wir zählen die geographischen Längen mit Recht von dem westlichen Ende der alten Welt, von der Insel Ferro, wie man sich ausdrückt. Aber da, wo der Nullpunkt dieses Maßstabes hinfällt, liegt weder das westliche Ende der alten Welt noch die Insel Ferro. Sondern jener Punkt ist eigentlich derjenige, von welchem ab gezählt das Pariser Observatorium eine Länge von zwanzig runden Graden erhält. Vielleicht nahm der Verfasse Anstoß an der Vergleichung des Festes der Beschneidung mit dem Pariser Observatorio. Allein, diese Bedenklichkeit wäre von geringer Bedeutung gewesen. Denn wirklich ist dem Herausgeber kaum ein Beispiel bekannt, worin das alte Paris so bescheiden gehandelt hätte als in dieser Längenzählung. Nunmehr aber freilich, da bei der neuen Teilung des Quadranten die Länge des Pariser Observatoriums = 22°, 222...... et sic in infinitum, werden müßte, so müssen wir die Entscheidung des Direktoriums erwarten, wo die alte Welt künftig aufhören soll.

Wie wir hören, soll die 7 gewillet sein, ebenfalls vor ihrem Abtritt von der Bank der Hunderte, Rechenschaft von ihrer Verwaltung abzulegen. Da diese große Aufklärerin, oder, wie sie in obiger Rede heißt, die apokalyptische, hundert merkwürdige Jahre darauf gesessen hat, so kann ein solcher compte rendu allerdings sehr interessant werden. Da wir nun Hoffnung haben, das Original so früh als möglich zum Gebrauch für unser Taschenbuch zu erhalten, so machen wir dieses, um Kollisionen zu vermeiden, hierdurch vorläufig bekannt. Wir werden indessen nur dasjenige aus dem weitläufigen Werke ausziehen, was für unser Taschenbuch, nach seiner bisherigen Einrichtung gehört und wie es sein geringer Umfang verstattet. Daher denn einige der wichtigsten Rubriken, wie wir hören, als: wie die Karte von Europa zu illuminieren sei, vom neuesten Völkerrecht, über die neueste Bedeutung von meum und tuum oder das politische Ich und Nicht-Ich usw., den Herren Verlegern gewiß nicht werden verweigert werden, wenn sie sich an die benannte apokalyptische 7 selbst wenden wollen.


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