Donnerstag, 31. Mai 2012

Georg Herweghs 195. Geburtstag

Georg Herwegh, 31. Mai 1817 in Stuttgart -7. April 1875 in Lichtental, war ein sozialistisch-revolutionärer deutscher Dichter des Vormärz und Übersetzer.

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Georg Herwegh

Literatur und Volk

Le peuple, c'est ma muse.
Béranger

Im Anfange schuf Gott die Freiheit.
Und als er die Freiheit geschaffen hatte, schuf er den Frühling.
Und als er den Frühling geschaffen hatte, schuf er den Dichter.
Den Frühling hatte er der Erde geschenkt als das heiligste Symbol seines Erstgebornen. Das himmlische Auge des Lenzes sollte den Menschen liebend ermahnen, wie er treulos ihrer vergäße.
Und der Herr sprach zur Freiheit:
Du bist die nächste an meinem Throne und sollst teilhaben an meinem unsterblichen Teil; du sollst nicht vergehen, ehe denn ich selber vergehe. Aber du mußt wandeln hinfüro unter den Menschen und mußt wachen und schlafen, hungern und dürsten, lieben und hassen wie sie. Du wirst dein Brot betteln vor den Türen, und sie werden den Stein dir verweigern, da du dein Haupt hinlegest; sie werden Ketten und Banden, aber, so wahr ich der Herr bin, nimmermehr ein Grab für dich haben.
Du wirst fliehen müssen zu Löwen und Tigern, hinaus in den Sand der Wüste; du wirst bergen müssen dein Antlitz in der Nacht der Höhlen und Klüfte! sie werden am Abende fragen: wo ist sie hin, die Herrliche? Lasset uns retten die Jungfrau aus den Händen der Ungläubigen! Und mit dem Morgensterne werden sie dein nicht mehr gedenken.
Darum habe ich dir einen Bruder zugegeben, der Botschaft trage umher in der Welt; wenn du hungerst oder dürstest, wenn du gefangen bist und in Ketten schmachtest.
Und er rief dem Frühlinge:
Gehe hin, und löse die Bande der Wasser, daß sie jauchzen durch die Täler der Erde und donnernd schlagen an die tauben Ohren dieses Geschlechtes.
Spanne aus deine Fittiche und reinige mir mein Haus von den dunkeln Wolken des Winters, daß sie meine Sterne sehen und wandeln wie die Kinder des Himmels.
Bringe her deine Düfte von Ost und West, von Nord und Süd, und berausche ihr nüchternes Herz, daß sie sich erheben, zu erlösen mein Kind, das gefangen sitzt im Turme des Tyrannen!
Spreite deinen Teppich unter die Füße der Sterblichen, daß sie an der Blume lernen, wie man sein Haupt wiegt, frei in freier Luft.
Und der Herr wandte sich gegen den Aufgang:
Höre mich, du Kind der Sonne; höre mich, du Sohn der Wüste! Habe ich Bande angelegt deinen Rennern oder Bande den Wipfeln deiner Zedern? Tritt über die Schwelle deiner Hütte, und sitze in den Schatten dieser blühenden Palmen! Habe ich nicht ihrer jegliche gekrönt, und sind sie nicht allzumal Fürsten? So auch ihr – jeder von euch ist ein König, und keiner spreche zu seinem Bruder: Neige dich nieder vor mir in den Staub, daß ich meinen Fuß setze auf deinen Nacken, denn der Herr hat mich bestellet zum Herrschen über dich und deine Kinder und die Kinder deiner Kinder!
Und der Herr wandte sich gegen Mittag:
Höret mich an, ihr Bewohner der Gestade des Meeres! Verlaßt eure Höhlen des Grausens, und badet euch im warmen Strahl meiner verjüngten Sonne! Ich habe das Schilfrohr gepflanzet an eure Ufer und seine grünen Augen erschlossen, daß es ein Spiegel sei eurem Herzen und ein Zeichen sei euern Lippen! Wie rauscht es so frisch und fröhlich dahin! Birgt es sich auch vor mir in die Nacht der Einöden, und bin ich doch größer als der Größten einer von euern Drängern und Zwingherren!
Und es wandte sich der Herr weiter gegen Mitternacht:
Hervor aus deinen Hütten, du Sohn des Frostes! Mein Hauch hat zertaut den Schnee deiner Berge, und mein Speer hat zertrümmert den Harnisch des Eises! Im lauen Äther schwankt wieder der Birke zartes Laub und flüstert dir zu: Schaue mich an – auch du sollst teilhaben an der Herrlichkeit der Welt!
Da verhüllte Gott sein Haupt und kehrte sein Antlitz gegen Abend.
Söhne des Westens, Söhne Germaniens! Ich habe eure Erde vom Schlummer erweckt und den stillen Bächen ihre Sprache wiedergegeben. Ich habe Blumen keimen lassen am Strand eurer Flüsse, daß eure Jungfrauen herunterkommen mögen ins Tal und sich Kränze winden um die reinen Schläfen. Wo sind sie, die da singen und spielen und Reigen tanzen, daß ich das Land vom Tode befreit? Ha! wie sie donnern, die Wasser von euren Bergen, und wie es zaget, das Herz in eurer Brust!
Nicht also! Wenn blutig meine Sonne untergeht hinter den Säulen meines Himmels und ihr letztes Licht erblassend sich wiegt auf dem dunkeln Laube deiner Eichen, wenn die düstern Zweige ihr Totenlied rauschen dem sinkenden Tage, dann denket, daß ich es bin, der hinschreitet über die Gipfel eurer Haine und euch zuruft:
Ich bin der Herr; ihr sollt keinen andern Herrn haben außer mir:
Aber die Freiheit war umsonst geschaffen worden; umsonst hatte der Frühling seine Blumenaugen aufgeschlagen. Nur selten erhob sich noch ein junger Arm für die Erstgeborne des Himmels, nur selten schlug noch ein junges Herz für deren heiligstes Symbol. Wohl kehrte der Lenz wieder alle neun Monden, wohl lösten sich noch alljährlich die starren Wasser, wohl schüttelten noch im Abendrot die Eichen ihre schwarzen Häupter, wohl jauchzten noch in die sommerwarmen Lüfte die Palmen des Ostens – aber achl sie hatten ihren göttlichen Sinn verloren, und ihre Deutung hatte man vergessen.
An den brausenden Strömen hingen Gefangene ihre Harfen auf, und unter den duftenden Palmen wischten Sklaven sich den Schweiß von der heißgesengten Stirne. Aus den Hirtenstäben waren Zepter geworden, und keine Kränze von weichen Blumen schmückten mehr die Scheitel der Sterblichen, sondern sie trugen Kränze, geschmiedet von den bösen Geistern der Tiefen, und man nannte dieselbigen Kronen.
Freiheit und Frühling waren unverstanden auf Erden da erbarmte sich der Herr seines Volkes und sandte ihm Sänger und Dichter, es zu trösten und aus der Natur ihm zu lesen den Willen des Allmächtigen. Bis die Freiheit wieder in die Welt käme, sollte die Poesie ihre Stelle vertreten. Während der Übermut der Gewaltigen selbst nach den Sternen des Himmels die verbrecherischen Hände ausstreckte, nagte der Mann der Hütte an der harten Rinde seines Brotes.
Tränen waren sein Salz, und sein Honig sollte die Poesie sein.
Ich habe nur Menschen geschaffen, rief der Herr, und das Geschlecht des Niedrigsten ist so alt wie das des Höchsten! Wenn mein Bauer müde heimkehrt am Abend zum häuslichen Herde, so soll er ein Lied haben und wissen, daß auch er von fürstlichem Stamme; wenn ihm das Joch zu schwer wird auf seinem Halse, so soll er einen Sang vernehmen, der ihn fortreißt in die Männerschlacht und ihm den Dolch zwingt in die freie Hand. Und er erweckte sofort eine Nachtigall auf den sieben Inseln, und die Nachtigall hieß Homer. Da aber die Nachtigallen am schönsten singen, wenn sie blind sind, so war auch der erste Dichter des Volkes blind.
Nicht mehr im blumigen Grase, auf dem Purpur der Könige knieten die Dichter, nicht mehr von den Lilien des Feldes, von den Lilien in den Wappenschildern der Großen sangen sie; es gab nur noch eine Poesie des Palastes, keine Poesie der Hütte mehr. Auch die Armut und das Elend wollte seinen Dichter und seinen – Rächer haben, und der Herr erweckte eine neue Nachtigall, jene »Nachtigall mit der Adlersklaue«, und taufte sie Béranger. Die Nachtigallen aber kennen nur den Klang ihres Liedes, und so kennt auch der zweite Dichter des Volkes keinen andern.
Mein Märchen ist aus; ich will es morgen deuten. Von einer dritten Nachtigall habe ich noch nichts erfahren.
Wir leben zugleich in einer doppelten Atmosphäre, in einer sinnlichen und in einer übersinnlichen. Der Umfang, die Ausdehnung beider sind dieselben, und ihre Grenze ist die Grenze des Alls. Die übersinnliche entspricht der sinnlichen bis ins einzelne; sie ist überall vorhanden, aber an den verschiedenen Orten in verschiedenen Gestalten. Sie hat ihren blauen Himmel und ihren trüben Dunst, sie ist gewitterschwül und frostig, niederdrückend und luftig, sie hat ihre Meteore wie die sinnliche. Noch war kein Land der Welt so unglücklich, daß ihm dieses übersinnliche Fluidum gemangelt hätte, in dem die Geister leben und atmen. Wie jede menschliche Brust die irdische Luft einsaugt, so ist auch jedermann eingeladen, die himmlische, geistige einzuatmen. Vor großen Verkehr der Geister ist niemand ausgeschlossen, und der Geringste wie der Höchste nimmt Anteil an demselben der eine unmittelbareren, der andere mittelbareren.
So wurde denn auch die Literatur, das Gedankenarchiv der bevorzugten Geister, von jeher als das Eigentum des Volkes betrachtet, als das ewige Kapital, von dem die ganze Mit- und Nachwelt zehren dürfe. Nicht für diese, nicht f, jene Klasse, für alles, was denken konnte, war von Anbeginn gedacht und gesungen worden. Dichter waren die frühesten Erzieher des Menschengeschlechts, nach ihnen kam die Philosophen. Nur die letztern bedurften Mittelspersonen und Unterhändler: die Dichter wandten sich geradezu die Nation und wurden verstanden.
Dieses allgemeine Verständnis nahm im Laufe der Zeit immer mehr ab; es wurde eingeschränkter, in je reicheren Gestaltungen der Weltgeist auf Erden sich offenbarte. Wo einst ein Sänger und Dichter von Millionen begriffen wurde, da werden jetzt oft zehn Dichter nicht von tausend Menschen begriffen. Deren, die schreiben, sind beinahe mehr als der die lesen. Es gibt in der modernen Welt mehr einzelne über die Masse sich erhebende Talente, dafür aber bei weit weniger durchschnittliche Bildung.
Je vielseitiger und tiefer unsere Literatur geworden desto mehr wurde sie dem Volk im eigentlichen Sinne, den unteren Kreisen der Nation, entfremdet.
Bei den Alten war die Poesie eine ewige Hymne auf Freiheit, bei uns ist sie ein Ersatz für dieselbe, ein Trost ihren Verlust. Der Jubel hat nur eine, allen verständliche Sprache, das Elend braucht tausenderlei Ausdrücke und Wen- dungen. Die Alten hatten ein ganzes, gesundes Herz, haben lauter gebrochene Herzen. Das Christentum hat auf die Freimachung des innern Menschen angewiesen, damit einst unsere Befreiung nach außen mehr Erfüllung und Gehalt habe. Der ungläubige Heide ließ sich keinen Schein für die Zukunft ausstellen, sondern wollte immer und in jedem Augenblicke jedem andern gegenüber der freie Mann sein. Freiheit war die Parole der alten Völker, Freiheit das Panier, unter dem sich alle versammelten; Freiheit und Nationalität waren Worte, die jedes griechische Herz, die jeder griechische Kopf begriff. Das Raffinement unserer Gefühle war den Alten unbekannt; bei ihnen gab es für alle immer eine Freude, einen Schmerz, eine Leidenschaft; bei uns hat jeder seine absonderlichen Privatschmerzen und Privatleidenschaften. Jeder ist sich selbst der Nächste geworden, und er singt nur, was ihm behagt, was ihn quält, und fragt nicht darnach, ob er damit auch eine Saite am Herzen seines Volkes berühre.
Ob wir mit so tiefsinniger Versenkung in uns selbst gewonnen oder verloren, wer will entscheiden? Glücklicher, glaube ich, sind wir nicht geworden.
Zu diesem Mangel an einem großartigen nationalen Interesse, zu diesem innern Unterschiede antiken und modernen Lebens, der Dichter und Volk so streng auseinanderhält, kommt noch ein äußerer Grund, welcher den unmittelbaren Einfluß der Literatur auf die Nation erschwert.
Bekanntlich wurde erst zur Zeit Herodots der Gebrauch des Wortes »Dichter« allgemeiner. Bis dahin hatte man nur von Sängern gewußt und damit ausgedrückt, daß die Poesie eigentlich gehört, nicht gelesen werden solle. Während bei unserer schlechten Bühnenverfassung selbst die besten Werke dramatischer Kunst nur zu Hause im stillen Kabinette gelesen werden, war bei den Griechen dies nicht einmal mit den epischen Dichtern der Fall. Auch Herodot trug seine Geschichte dem versammelten Volke vor.
Man hat schon gesagt, die Unpopularität der heutigen Dichter sei ein Beweis für deren größere Tiefe und Schönheit. Allein gibt es ein wundervoll tieferes Buch als die Bibel? Singt die Nachtigall der sieben Inseln, Homer, nicht so schön, als nur je blinde Nachtigallen gesungen haben? Und Béranger, die »Nachtigall mit der Adlersklaue« wer übertrifft sie am unsterblichsten Humor?
Wir wollen sie nicht zurückwünschen, die alten Zeiten; wir wollen nicht verkennen, welch ungeheurer Fortschritt auch in den scheinbaren Gebrechen der unsrigen sich offenbart; wissen wir doch, daß die Befreiung des innern Menschen uns einst die äußere Freiheit um so sicherer garantiert. Aber jener bärtige Grenadier, den ich in einem deutschen Theater sprach hatte nicht so unrecht, wenn er sagte, der Spektakel aber tauge nichts, so viele Kronen bringen sie doch nie zusammen, als er in Dresden beieinander gesehen. Gewiß ein leiser unbewußter Vorwurf gegen unsere Geistesaristokratie. Die Poesie der Hütte, die eben in Béranger einen so beredter Anwalt gefunden, wird von unsern deutschen Dichtern völlig vernachlässigt. Es ist viel Großes, Herrliches geschrieben worden in unserm Jahrhundert, eine Menge bedeutender sozialer Fragen wurde in der jüngsten Zeit in poetischer Weise von den tüchtigsten Geistern erledigt, man kann sich nur freuen über die schaffenslustige Regsamkeit in der neuester literarischen Epoche – aber man betrachte einmal der Reihe nach die Stoffe, welche die verschiedenen Dichter sich zur Behandlung gewählt haben, wird das Verständnis derselben sich über die Mittelklasse der Nation hinaus erstrecken? Wieviel setzen nicht die schönen Romane, Blasedow und Münchhausen, voraus! Immer das Beste ist in einer Art abgefasst, daß nur der Literat zur vollkommenen Erkenntnis desselben durchdringen kann. Von Uhland ist allerdings manche! volkstümlich geworden – was wollen aber selbst zwölf Auflagen bedeuten, wenn man bedenkt, daß keine stärker war als tausend Exemplare?
Dichter, die jeder Stufe der Bildung zugänglich sind, besitzen wir zurzeit noch keine. – Ich bin nicht so einfältig zu verlangen, daß der »Musenalmanach« z. B. in Zukunft so eingerichtet sein sollte, daß sein Verständnis gar keine Bildung erforderte ich halte einzig für wünschenswert, daß die guter Schriftsteller zuweilen auch in einer Weise schreiben, die nicht einer jahrelangen Vermittlung bedarf, bis die Quintessenz des geistigen Gehaltes unter das Volk kömmt. Das Volk der Hütte hat so gut seine Poesie als der Faulenzer im Palaste, so gut seine geheimen Schmerzen und Freuden als die Leute, welche sich zu den Gebildeten zählen. Da wird immer von Heranbildung der Nation gesprochen – wie ist aber eine solche möglich, wenn unsere großen Geister es verschmähen, sich zu ihr herabzulassen, und ihre Puppen immer aus der vornehmen Sphäre entlehnen. Das Volk hat für echte Poesie immer einen glücklichen Sinn; man versuche nur, ihm direkt gegenüberzutreten, sich direkt an die Massen zu wenden, im Volksliede, im nationalen Drama. Es ist freilich auch der strengste Richtet und wird sich nie von abgestandenen Ideen betören lassen, an welche die Menschheit den Glauben verloren hat.

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 Anmerkung:

Der Satz "Dichter, die jeder Stufe der Bildung zugänglich sind, besitzen wir zurzeit noch keine. – Ich bin nicht so einfältig zu verlangen, daß der »Musenalmanach« z. B. in Zukunft so eingerichtet sein sollte, daß sein Verständnis gar keine Bildung erforderte ich halte einzig für wünschenswert, daß die guter Schriftsteller zuweilen auch in einer Weise schreiben, die nicht einer jahrelangen Vermittlung bedarf, bis die Quintessenz des geistigen Gehaltes unter das Volk kömmt." liest sich wie ein Programm einer Literaturpolitik. Nicht zufällig deckt sie sich mit Bemühungen der Kommunisten bzw. des sozalistischen Realismus. 

Sie zeigt ein generelles Problem auf. Wenn Ungebildete erreicht werden sollen, funktioniert das nur auf Kosten der Bildung, der kruden Simplifizierung als Popularisierung. Das ist heute geltende Übung. Haben die Massen dabei etwas gerlernt? Hat sich ihr Bildungsniveau, ihr Bewusstseinsstand erhöht? Kaum. Anstatt die Un- oder Halbbildung zum Ziel und Maßstab zu machen, sollten Bemühungen unternommen werden, die Bildung zu heben.

Um die Drastigkeit solcher Überlegungen sich vor Augen zu führen nehme man das Beispiel der Naturwissenschaften: hier gilt nicht Ethnie, Gender oder Religion, nicht Gesinnung oder Sympathie. Hier taugen auch keine überholten Theorien oder falsche im Vergleich zu den "richtigen", denen, die nach dem jüngsten Stand sich als "stimmig" erweisen. Ihre Rückweisung ist nur durch neue Theorien, die "besser" sind, möglich. Sonst durch nichts. Der Wettstreit findet innerhalb des gesetzten Rahmens statt und immer nach dem letzten Stand des "state of art". 

In den Kulturen und im Bildungsbereich meint man "sozial" zu sein, wenn man den Ungebildeten entgegenkommt. Aber Unbildung ist kein naturbedingter Zustand, sondern ein veränderbarer. Die Veränderung wird durch falsches Entgegenkommen nicht geleistet. Das heißt andererseits nicht, dass man nicht populär vermitteln oder kommunizieren soll. Aber jede Vereinfachung oder Popularisierung muss ihre Grenzen kennen und darf nicht täuschen. Sonst lügt sie. Und schadet. 






Georg Herwegh
Bundeslied für den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein
1863


You are many, they are few.
(Eurer sind viele, ihrer sind wenige.)


Bet und arbeit! ruft die Welt,
Bete kurz! denn Zeit ist Geld.
An die Türe pocht die Not -
Bete kurz! denn Zeit ist Brot.

Und du ackerst, und du säst,
Und du nietest, und du nähst,
Und du, hämmerst, und du spinnst -
Sag, o Volk, was du gewinnst!

Wirkst am Webstuhl Tag und Nacht,
Schürfst im Erz- und Kohlenschacht,
Füllst des Überflusses Horn,
Füllst es hoch mit Wein und Korn -

Doch wo ist dein Mahl bereit?
Doch wo ist dein Feierkleid?
Doch wo ist dein warmer Herd?
Doch wo ist dein scharfes Schwert?

Alles ist dein Werk! o sprich,
Alles, aber nichts für dich!
Und von allem nur allein,
Die du schmiedst, die Kette, dein?

Kette, die den Leib umstrickt,
Die dem Geist die Flügel knickt,
Die am Fuß des Kindes schon
Klirrt - o Volk. das ist dein Lohn.

Was ihr hebt ans Sonnenlicht,
Schätze sind es für den Wicht,
Was ihr webt, es ist der Fluch
Für euch selbst - ins bunte Tuch.

Was ihr baut, kein schützend Dach
Hat's für euch und kein Gemach;
Was ihr kleidet und beschuht,
Tritt auf euch voll Übermut.

Menschenbienen, die Natur,
Gab sie euch den Honig nur?
Seht die Drohnen um euch her!
Habt ihr keinen Stachel mehr?

Mann der Arbeit, aufgewacht!
Und erkenne deine Macht!
Alle Räder stehen still,
Wenn dein starker Arm es will.

Deiner Dränger Schar erblaßt,
Wenn du, müde deiner Last,
In die Ecke lehnst den Pflug,
Wenn du rufst: Es ist genug!

Brecht das Doppeljoch entzwei!
Brecht die Not der Sklaverei!
Brecht die Sklaverei der Not!
Brot ist Freiheit, Freiheit Brot!






Die Zukunftsparole: "Wir haben lang genug geliebt, und wollen endlich hassen!" Lange vor den Hass-Minuten des Großen Bruders, abervlangt von den Untertanen in Ozeanien in Orwells "1984", lange for den hate-speech-Attacken und der realen Hasspolitik ein Hassaufruf als Befreiungsschlag:

Georg Herwegh, 1841

Das Lied vom Hasse


Wohlauf, wohlauf, über Berg und Fluß
Dem Morgenrot entgegen,
Dem treuen Weib den letzten Kuß,
Und dann zum treuen Degen!
Bis unsre Hand in Asche stiebt,
Soll sie vom Schwert nicht lassen;
Wir haben lang genug geliebt,
Und wollen endlich hassen!

Die Liebe kann uns helfen nicht,
Die Liebe nicht erretten;
Halt du, o Haß, dein jüngst Gericht,
Brich du, o Haß, die Ketten!
Und wo es noch Tyrannen gibt,
Die laßt uns keck erfassen;
Wir haben lang genug geliebt,
Und wollen endlich hassen!

Wer noch ein Herz besitzt, dem soll's
Im Hasse nur sich rühren;
Allüberall ist dürres Holz,
Um unsre Glut zu schüren.
Die ihr der Freiheit noch verbliebt,
Singt durch die deutschen Straßen:
»Ihr habet lang genug geliebt,
O lernet endlich hassen!«

Bekämpfet sie ohn' Unterlaß,
Die Tyrannei auf Erden,
Und heiliger wird unser Haß ,
Als unsre Liebe, werden.
Bis unsre Hand in Asche stiebt,
Soll sie vom Schwert nicht lassen;
Wir haben lang genug geliebt,
Und wollen endlich hassen!



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Der Hass hat sich eingesetellt und gewütet. Hat er geholfen? Wem und wie? 










Karl Kraus
Die Fackel

NR. 472/473     25. OKTOBER 1917     XIX. JAHR

Die deutsche Schuldfrage

                        Nichts ist schwerer zu erraten:
                        Haben deutsche Diplomaten
                        erst das Volk durch ihre Taten
                        auf dem Hassesherd gebraten?
                        Oder – wer zerteilt die Wolke –
                        schulden sie den Haß dem Volke?


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