Samstag, 30. April 2011

Distanz


Die Entfremdung erweist sich an den Menschen gerade daran, daß die Distanzen fortfallen.
Das direkte Wort, das ohne Weiterungen, ohne Zögern, ohne Reflexion dem andern die Sache ins Gesicht sagt, hat bereits Form und Klang des Kommandos ...
Adorno (Minima Moralia)

Intimität vollzieht sich in allernächsten Nahbereich. Man kommt sich nahe, sehr nahe, so nahe wie möglich. Distanzlosigkeit. Wohlig, erfüllend, wenn gewünscht, gewollt. Das schlimme Gegenteil, wenn unerwünscht, ungewollt.

Die Umarmung wird zum Würgen, die Nähe zur Pein, wenn jemand es sich herausnimmt, gegen jemandes Willen die Distanz zu verletzen, zu nahe zu kommen. Bedrängnis, Verletzung, Folter.

Die Vergewaltigung und Folter stellen den negativen Extremfall der Distanzaufhebung, des Unwürdigen dar. Die oder der andere werden „objektiviert“, verdinglicht, über die oder den der andere verfügt. Der andere wird der Macht des anderen direkt und konkret ausgesetzt. Er muss leiden, vielleicht sogar sterben. Es steht nicht mehr in seiner Macht. Das drückt auch die Würdelosigkeit aus, die Verletzung des Humanen: Der andere ist so unfrei, dass ihn kein Freiraum mehr schützt, keine Schutzdistanz ihn vor dem direkten Zugriff bewahrt. Er ist nicht nur der Kommandosprache oder den unflätigen Flüchen ausgesetzt, sondern der brachialen Gewalt, der verletzenden, tötenden Zugriffe (Abgriffe, Eingriffe). Man vergreift sich an ihm, man „behandelt“ ihn, das Ding.

Würde bedingt Distanz. Diese Distanz darf nur im freien Einvernehmen aufgehoben werden. Sonst ist sie Gewalt und Terror.

Sonntag, 24. April 2011

Atomisiertes Chaos

"Wie sieht nun der Philosoph die Cultur in unserer Zeit an?" "Fast ist es ihm, als ob er die Symptome einer völligen Ausrottung und Entwurzelung der Cultur wahrnähme, wenn er an die allgemeine Hast und zunehmende Fallgeschwindigkeit, an das Aufhören aller Beschaulichkeit und Simplicität denkt."
"Niemals war die Welt mehr Welt, nie ärmer an Liebe und Güte."
"Alles dient der kommenden Barbarei, die jetzige Kunst und Wissenschaft mit einbegriffen."
"Dass die Einzelnen sich so gebärden, als ob sie von allen diesen Besorgnissen nichts wüssten, macht uns nicht irre: ihre Unruhe zeigt es, wie gut sie davon wissen; sie denken mit einer Hast und Ausschliesslichkeit an sich, wie noch nie Menschen an sich gedacht haben, sie bauen und pflanzen für ihren Tag, und die Jagd nach Glück wird nie grösser sein als wenn es zwischen heute und morgen erhascht werden muss: weil übermorgen vielleicht überhaupt alle Jagdzeit zu Ende ist. Wir leben die Periode der Atome, des atomistischen Chaos."
Nietzsche: Schopenhauer als Erzieher

Kulturfilosofie, als sie noch nicht so genannt wurde. Die Entwurzelung als Ursache der nervösen Hast, der unbändigen Gier, des geifernden Eifers im Profit- und Machtstreben. Parallel zur Entwurzelung gilt das Ende der Beschaulichkeit und das der Simplizität als Negativum, als Krankheitsherd. Das heißt, die hohe Beschleunigung, die keine Reflexion, kein Überdenken und Zurücktreten, Beschauen mehr erlaubt, ist einerseits Motor für den bornierten Vorwärtsblick der Getriebenen, andererseits die gestiegene Komplexität, weil sie das Einfache, das Überschaubare nicht mehr bietet. Die ist aber nötig, weil der Mensch das hoch Komplexe nicht durchschauen kann, weil er sonst hilflos im Abstrakten sich verliert. Da er aber nicht tatenlos verbleiben kann, deutet er das Komplexe simpel, schafft sich eine irrige Simplizität, die aber gefährlicher ist als die offensichtliche, die nur vorderhand, stellvertretend als Vereinfachung geholfen hätte zu bedenken, sich klar zu werden, zu orientieren.

Dieses Missverhältnis, diese falsche Orientierung führt bedingterweise in falsche Unruhe, eben die Nervosität der Moderne, wie sie den atomisierten Nichtpersönlichkeiten, den Massenmenschen eigen ist, die keine Sammlung, keine Konzentration, kein Persönliches als Wesentliches mehr erlaubt und zur unbedachten, gedankenverlorenen Betriebsamkeit führt.

Nietzsche sieht die Gefahr des Verderbens, weil es sich um einen falschen, fehlgeleiteten Egoismus handelt, die Hast dem sinnlosen Rennen des Hamsters im Laufrad gleicht. In Bewegung, aber nicht  fortkommend.

(So müsste man auch den Terminus "Fortschritt" vielleicht besser mit "Laufschritt" oder "Weiterschritt" übersetzen.)

Donnerstag, 21. April 2011

Ahistorische Gegenwartsliteratur?

In der NZZ vom 21.04.11 bespricht Martin Zingg Richard Kämmerlings' Buch "Das kurze Glück der Gegenwart" und stellt fest:

"Ausgangs- und Angelpunkt seiner sehr persönlichen Ausführungen ist der Zweifel am Gegenwartsbezug der jüngeren deutschsprachigen – und vornehmlich: deutschen – Literatur. Wissen will er etwa, wie, wenn überhaupt, in den jüngsten Romanen und Erzählungen ein Thema wie die Wirtschaft oder gar die Finanzkrise vorkommt. Was erfährt man in deutschen Romanen der Gegenwart über den gegenwärtigen deutschen Kriegseinsatz in Afghanistan? Welche Familienmuster prägen die Romane, und gibt es darin auch etwas zu erfahren beispielsweise über Patchwork-Familien, die doch, statistisch gesehen, immer auffälliger werden?"

Am Schluß des Artikels heisst es: "Der augenfälligste Gegenwartsbezug so vieler Neuerscheinungen ist ja der zugleich schmerzlichste, auch am wenigsten wahrgenommene: Die Tatsache nämlich, dass sie oft sehr schnell nach ihrer Veröffentlichung wieder verschwunden sind. Aus den Buchhandlungen, aus der Diskussion, schliesslich aus literarischen Zusammenhängen schlechthin."

Das scheint mir gut als Ergänzung zum Zitat von Siegfried Lenz aus 1970 zu passen, das hier im Blog erwähnt wurde.

Mittwoch, 20. April 2011

Siegfried Lenz 85

Siegfried Lenz – "Ich war verliebt in Schund"
Schriftsteller Siegfried Lenz im Gespräch mit Ulrich Wickert über seine Anfänge bei der "Welt", Willy Brandt und das hohe Alter.

Zitat:

Die Literatur ist sich heute mehr denn je zum Problem geworden.  Durchtränkt von der Überzeugung, daß sie überholt, unzeitgemäß, wirkungslos sei, und von einer Skepsis unterwandert, die in der Erscheinung des Schriftstellers nur ein gesellschaftspolitisches Fossil sieht, überreden uns heute gerade Scvhriftsteller, die Literatur abzuschaffen. (...)
Ich glaube, die Befürchtung, Literatur könne zu nichts mehr nutze sein, rührt vornehmlich daher, daß wir im Zeitalter der exakten Wissenschaften mit Informationen und Kenntnissen versorgt werden, die zu liefern wir die Literatur für einfach nicht in der Lage halten. (...)
Um mit ihrer Zeit übereinzustimmen, um für Zeitgenossen geschrieben zu sein, sollte Literatur nicht nur die Probleme der jeweiligen Epoche darstellen, sondern unbedingt auch die Ergebnisse der Wissenschaft berücksichtigen. 
Siegfried Lenz: Wettlauf der Ungleichen. Literatur im wissenschaftlichen Zeitalter (1970) 





 

Biographie Luise Rinsers ist erschienen

Zum 100. Geburtstag Luise Rinsers am 30. April 2011 ist ihre Biographie erscheinen: José Sánchez de Murillo, Luise Rinser. Ein Leben in Widersprüchen. S. Fischer, Frankfurt a.M., 464 S., € 22,95
Info auch in der Seite der Luise-Rinser-Stiftung

Luise Rinser fälschte ihre Lebensgeschichte

Eine Biografie, die zum 100. Geburtstag der Erfolgsautorin erscheint, enthüllt: Sie hatte sich gut mit dem NS-Regime arrangiert.
 

Dienstag, 19. April 2011

Cioran und sein wüstes Wüten

Zum 100. Geburtstag des aus Rumänien gebürtigen französischen Autors E. M. Cioran ist auf deutsch eine Sammlung von Aufsätzen aus den Dreißigerjahren erschienen, die die helle, perverse Begeisterung für Hitler und die Nazidiktatur belegen, die die verwirrte, verworrene, blutrünstige Sicht des Eiferers und Menschenhassers dokumentieren.

E. M. Cioran: Über Deutschland. Aufsätze aus den Jahren 1931-1937. Herausgegeben, aus dem Rumänischen übersetzt und mit einer Nachbemerkung versehen von Ferdinand Leopold. Suhrkamp, Frankfurt/M. 2011

Dieses Buch wird in der nächsten Ausgabe # 6, "nackt", rezensiert werden.



"Wohin fliehen? Es gibt keinen Ort mehr, wo man berufsmäßig die Welt verabscheuen könnte."
E. M. Cioran

Sonntag, 17. April 2011

Pest & Vergessen & Warten

Aber einerseits war die Stadt geschlossen und der Hafen verboten und damit das Baden unmöglich, und andererseits befanden sie sich in einem ganz besonderen Geisteszustand, in dem sie genau spürten, dass sich etwas verändert hatte, obwohl sie sich im innersten Herzen die überraschenden Ereignisse, die sie trafen, noch nicht eingestanden. Viele hofften indessen, die Seuche werde aufhören und sie und die ihren verschonen. Infolgedessen fühlten sie sich noch zu nichts verpflichtet. Die Pest war für sie bloß ein unangenehmer Besuch, der eines Tages auch wieder fortgehen musste wie er gekommen war. Sie waren erschreckt, aber nicht verzweifelt, und der Zeitpunkt war noch nicht erreicht, da sie in der Pest ihre eigentliche Lebensform erblicken und ihr bisheriges Dasein vergessen würden. Kurz, sie warteten.
Albert Camus: Die Pest

Japan: Fukushima:

Die Sperrzone wurde etwas ausgeweitet. Die ehemaligen Einwohner dürfen nicht mehr dorthin zurückkehren. Sie hausen immer noch in dürftigen Behelfsunterkünften. Während im Norden Japans die Lage äußerst trist ist, prekär, versucht Tokyo die Normalität wiederherzustellen. Im Süden des Landes lebt man ungestört, wie immer.

Die Fernsehsender bemühen sich, das Vergessen leichter zu machen, die Ablenkungen funktionierender. Langsam gewinnt die Täuschung wieder Oberhand.

Samstag, 16. April 2011

Die Wirklichkeit und die Literatur

Zitat aus dem 1965 erschienenen Buch "Flötenspieler und Phantome - Eine Reise durch das Tauwetter" von György Sebestyén:

Die Wirklichkeit, oder ihr Reflex im Gehirn, ist nahezu unformulierbar. Das Klappern der Schreibmaschine erinnert an das Hämmern eines Maschinengewehrs, das den Kreis des Beschreibbaren gegen den Ansturm des Unbeschreibbaren verteidigt.

Donnerstag, 14. April 2011

Clyt

Liebe Leute,
hiermit verweise ich auf meine Internetseite CLYT, in welcher ich diverse Kulturbeiträge biete. Vielleicht ist das Eine oder Andere (eine oder andere) interessant.
Tschüss!

Mittwoch, 13. April 2011

Gamification

Es geht um die Aufmerksamkeit. Immer und überall. Besonders im Geschäft. Kunden sollen länger gebunden, gehalten werden. Sie sollen verweilen, Aufmerksamkeit zuwenden. Um zu kaufen oder für die Verweildauer zu zahlen. Techniken der Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitspsychologie werden geschicit genutzt: Menschen spielen gerne, wollen sich "interaktiv" einbringen, auch wenn der Rahmen vorgegeben und der Anlaß nichtig ist. Aber das Gefühl, Neugierde gefahrlos befriedigen zu können bzw. kuzrweilig "spielen" zu können, ködert. Bald werden politische Entscheidungen im Rahmen der forcierten E-Politik ähnlich animiert und umworben werden. - Und wird das die aktive Teilnahme und Teilhabe steigern?  


Nationalismus & Literatur

Bei den Buchmessen in Frankfurt oder Leipzig werden sogenannte Gastländer eingeladen und besonders im Programm berücksichtigt. Würde man hier die moralische Rigidität anlegen, wie im Falle der Kritik der deutschen Ausstellung "Die Kultur der Aufklärung" in Peking, wären kaum Gastländer zu finden und zu präsentieren. Gelten für die Literatur andere Maßstäbe (China, Serbien ...) ?


Lesen, eine veraltete Kulturtechnik?

Leseförderung sei wichtig, heisst es vielerorts. Was wird unternommen? Gruppenlesen, Büchereien als Gemeindesozialwohlfühlanstalten, Vorlesekurse mit Zertifikaten (was haben früher nur die nichtzertifizierten Eltern oder Großeltern gemacht?). Gruppenlesen, Lesespiele, Lesespaß.
In den Förderklassen werde, heisst es, persönlich auf das Kind eingegangen, ganz individuell, aber in Gemeinschaft. Nur, wenn die häusliche, familiäre Umgebung des Kindes bildungsferne oder lesefeindlich ist, werden die Förderbemühungen noch gesteigert werden müssen.

Engagierte Literatur

Aversionen gegen engagierte Literatur erstarkt mit deren (vermeintlicher) Renaissance.

So schreibt Andreas Rosenfelder in der Welt vom 12.04.2011 "Diese Pfeife raucht noch":

"Eigentlich war der Ausstieg aus der engagierten Literatur ja längst beschlossene Sache. Nach der Wiedervereinigung hatte man in Deutschland die meisten Moralkraftwerke vom Netz genommen. Die Technologie galt als hoffnungslos veraltet, da waren sich die einschlägigen Gutachter einig, und die Folgeschäden für die geistige Umwelt wollte niemand mehr verantworten. "  *)

Der Vergleich zur Umweltbelastung spricht Bände! Die Verbindung von Moral & Engagement mit gefährlichen Reaktoren, die bei Unfällen strahlenverseuchen, färbt Engagement als höchst gefährlich ein. Dieses Gefahrengut muss entsorgt werden.

"Schnell einigten sich die Experten darauf, das Textmaterial im berüchtigten Endlager in der schwäbischen Kleinstadt Marbach zu entsorgen, wo es seine mahnenden Botschaften wohl noch in Hunderten von Jahren abstrahlen wird, abgeschirmt nur durch Stahltüren und einen Sarkophag aus Beton."

Archive, Forschungsstätten oder Museen als moderne Sarkophage für einige Experten...

"In jüngster Zeit allerdings mehren sich die Anzeichen für einen Ausstieg aus dem Ausstieg. Nach den Umbrüchen in der arabischen Welt und den Katastrophen in Japan stieg die weltweite Nachfrage nach engagierter Literatur sprunghaft an, besonders in Deutschland, wo sogar militante Gegner von einst keine Alternative zu dieser Form der literarischen Energiegewinnung mehr sehen. Selbst die zwischenzeitlich ins Abseits gedrängte Lobbyvereinigung PEN sitzt wieder mit am runden Tisch."

Wiederum schafft der Autor den satirischen Überschlag, wie man ihn in der Anstalt so schätzt! Na, was wird da auf uns zukommen?

*) Bitte beachten: Zitate sind durch Anführungszeichen markiert.

Literaturhaus Zürich

Das Programm im April & Mai des Literaturhauses Zürich

Dienstag, 12. April 2011

Guido Ceronetti

* 24.8.1927, publizierte 1987 "Pensieri del Te", auf deutsch 1993 unter dem Titel "Teegedanken" bei Suhrkamp erschienen. Köstlichkeiten für den Geist!

Ein Absatz sie hier zitiert:

"Amerika zerstört das Leben, erhält uns die Freiheit. Rußland zerstört das Leben und nimmt uns die Freiheit. China spielt mit der Freiheit, die es getötet hat; da ihm das Leben nichts bedeutet, wird es vielleicht etwas davon übriglassen. Japan zerstört das Leben mit dem Übereifer des Klassenprimus. Europa hält sich an die Freiheit, da sie die legale Zerstörung des Lebens ermöglicht. Der islamische Orient ist der Arm, mit sehr wenig Geist, jeglicher Art von Zerstörung. Afrika zerstört und läßt sich zerstören, weil es denkt, das sei die beste Art, frei zu sein. In Atlantis liegt die Rettung."

Montag, 11. April 2011

Wörtlich: falsche Klischees

In einer Pressemeldung stand: "Falsche Klischees über die Realität Suchtkranker". Aha. Wenn ein Klischee falsch ist, wie sieht das korrekte aus? Wäre ein echtes Klischee das authentische Bild über den Gegenstand?
Ein Klischee kann aber, nach anerkannter Definition, nie die eigentliche, authentische Referenz weisen, sonst wäre es kein Klischee, denn ein Klischee ist ein Zeichen (eine Zeichenformation), die des (ursprünglichen) semantischen Gehalts verlustig ging. Die versuchte Unterscheidung zwischen echtem und falschem Klischee ist selbst falsch und untauglich. Es ist nicht nur ein simpler Pleonasmus, sondern ein Wertmissverständnis.

Wörtlich: erinnerungsverseucht

In einer Grünen Zeitung stieß ich auf das Wert "erinnerungsverseucht" und stockte. Wie? Erinnerung wird, besonders von Fortschrittlichen, LInken und Grünen bzw. Gutmenschen, als höchst Positives, Notwendiges gesehen (Niemals vergessen!). Skeptiker oder Zweifler, die anmerken, Erinnerung sei kein Selbstwert, und Vergessen sei kein zu vermeidender Luxus, sondern notwendig für den gesunden Humanhaushalt, werden oft und leicht ideologisch verdächtigt.
Dass nun jemand mit Erinnerung(en) verseucht sein kann bedeutet, dass Erinnerung zu einer Seuche wurde, an der die Person leidet. Wie sieht diese Erinnerungsseuche aus? Hängt sie von der Qualität oder Quantität der Erinnerung oder beidem ab? Nach welchen Kriterien wird gemessen und beurteilt: Person X ist erinnerungsverseucht?
Das Gegenteil wäre die nicht erinnerungsverseuchte Person. Wäre das jene Person, die von keinen Erinnerungen geplagt wird, also nur Erinnerungen erinnert, die angenehm sind? Das Konzept der Seuche bedingt das Gegenüber: das Reine, Saubere, Nichtinfizierte. Sind Erinnerungsverseuchte krank? Müßten sie wie Aussätzige in Quarantäne gesteckt werden? Welche Heilmittel und -prozeduren gibt es? Vielleicht die üblichen: brav den Vorgaben folgen und nur jene Erinnerungen pflegen, die approbiert sind? Steckt dahinter die Gleichheitsideologie? Normal sein, nur nicht abweichen, sich sauber und rein halten (ähnlich haben doch schon Rassisten argumentiert, im Namen des Kampfes gegen die Verseuchungen...).

Wörtlich: zurückschlagen

Zurückschlagen wird als Verteidigung, als Wehr (Abwehr, Notwehr) verstanden. Das Zurückschlagen bedingt ein Schlagen, dem erwidert wird.
Dieses Schlagen ist negativ, anders als die Schlagzeile, das Schlagwort oder der Schlager. Ein Schlagersänger, auch wenn er übel singt, ist kein Schläger, und würden Schlagwort und Schlagzeilen schlagen, wäre das vielleicht ein Fortschritt. Dem ist aber nicht so.
Ein Werbeslogan in Österreich lautete "Die Au schlägt zurück". Das war vor dem furchtbaren Erdbeben in Japan im März 2011. Da hätte man vielleicht von einer Natur reden können, die zurückschlägt, wiewohl diese Konzepte eine untaugliche Personifizierung der Natur als intendierender Kraft bedeuten. Die Natur hat keine Intentionen, kennt keine Werte und Moral, ist nie böse, ungerecht, gut oder schlecht.
Die metaphorische Zuschreibung, die Natur "schlage zurück" ist primitiv, wenn auch verständlich, wenn man mit solchen Eruptionen konfrontiert wird.
Noch extrtemer pervertiert sich das Sprachverständnis, wenn die Stärke der Natur eigentlich positiv hervorgehoben werden soll und das dann im Satz "Die Au schlägt zurück" ausgedrückt wird. Unwillkürlich assoziert der, der die Sprache kennt, Negatives. Aber die Au, um die Umweltschützer stritten, ist ein positives Konzept. Plötzlich verbinden es Werbefachleute mit einem Negativum. Wer soll da noch Freude an der Au haben, wenn sie zurückschlägt? Wen schlägt sie weshalb und wie? Weil sie wächst und gedeiht? Weil Werbefirmen Aufträge erhalten? Weil bestimmte Umweltorganisationen ihre Klientel damit bedienen und bei der Stange halten?
Ein Blitz schlägt ein, verbrennt, tötet vielleicht. Eine Lawine donnert zu Tal, begräbt unter sich, was im Weg steht. Bergrutsche, Muren, Hochwasser, Tsunami, Erdbeben. Alles Ereignisse, die als negativ gewaltsame, wie eine Gewalttat erlebt oder gesehen werden können. Aber eine Au? – Eine perverse Verdrehung von Ängsten. Kontraproduktiv. (Das kommt davon, wenn man Werbefritzen das Denken und Handeln überlässt.)

Wörtlich: sparen oder einsparen

Sparen ist positiv konnotiert, obwohl die Wirtschaft es nicht gerne sieht, wenn zu lange zu viel gespart wird. Manche kennen noch das Sprichwort "Spare in der Zeit, dann hast du in der Not." Man spart, wenn man mehr hat, als man zur puren Existenzerhaltung braucht. Sparen bedingt Mehrwert. Jemand, der nichts hat, kann nicht sparen.
Heute ist es üblich vom Einsparen zu reden. Einsparungen sind in aller Munde. Sogar Konsum und Geldausgebeben wird als Einsparen angepriesen: Kaufen Sie zwei, drei Produkte (obwohl Sie nur eines brauchen), dann sparen Sie X Cents oder Euros!
Ein anderes Einsparen meint Kostenreduktion oder Verzicht. Firmen sparen sich X Arbeiter und Angestellte, indem sie die Belegschaft reduzieren. Die "Freigestellten" hat man eingespart. Man verkauft den Wählern ein drastisches Sparprogramm mit unliebsamen Einsparungen. Die positive Konnotation von "Sparen" überträgt sich auf das Sparprogramm, das durch seine Einsparungen für viele negative Auswirkungen hat. Aber niemand spricht vom Einsparpaket, sondern nur vom Sparpaket. Diese Paketpolitik lässt sich besser darstellen und verkaufen. Die Wähler kaufen, einsparend, Sparpakete, obwohl es nichts zu sparen gibt, sondern nur abzubauen, einzusparen.
Semantische Politik.

Karl Kraus' Sensorium

Bei George Steiner las ich folgendes Zitat:
"Es kommt in Europa bald eine Zeit, wo man aus menschlicher Haut Handschuhe machen wird."
Karl Kraus, 1909

Kennt wer die Quelle und könnte sie hier angeben?

Ich kenne nur aus "Pro domo et mundo": "Der Fortschritt macht Portemonnaies aus Menschenhaut."

Else Lasker-Schülers Hölle - Dichtung & Wahrheit

„Im Frühjahr 1939 musste die 70-jährige Else Lasker-Schüler die Schweiz verlassen, bis zu ihrem Tod 1945 war Jerusalem die letzte Exilstation. Das Leben dort, «unter dem auserwählten Volke», erscheint in ihren Briefen als eine einzige «Hölle». Kaltherzig, engstirnig, brutal seien die Menschen um sie herum. (…) Was immer an Lasker-Schülers Anschuldigungen erdichtet sein mag, poetisch sind sie in jedem Fall.“
(Manfred Koch in seiner Rezension in der NZZ vom 6.11.2010 „Jerusalem auf dem Augenlid“)

Der Hinweis auf die poetische Qualität gegenüber der hohen Wahrscheinlichkeit der Erdichtung ihrer Höllenqualen, zeigt den Unterscheid zwischen Poesie und Realität: Der als leicht oder, je nach Standpunkt, als verrückt Erscheinenden wird die Erdichtung als Dichtung im Poetischen nicht nur abgenommen, sondern gepriesen. Die Aussagen über ihre Höllenqualen, über die kaltherzige, böse, engstirnige, brutale Umgebung in Palästina, dem Land, das später zu Israel werden sollte, wird als Erdichtung im negativen Sinne, als Täuschung, als Irrtum, als irrelevant hingestellt. Da hat sich die alte Verwirrte was vorgemacht, hat an Störungen gelitten, vermochte sich nicht anzupassen, erlag einer verzerrten Wahrnehmung. War halt krank. Stimmt doch, nicht?

Das Lob des Poetischen mit der nüchternen Relativierung jener Aussagen in den Briefen, die unpassend scheinen, die unangenehm sind, die das traute Bild stören, desavouiert aber das Ganze. Hier wird jemand und etwas zurechtgebogen. Der gebeugte Blick als Resultat einer beschworenen, eingeforderten Deutungshoheit. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. 

"... poetisch sind sie in jedem Fall"! Kunst ist frei, hat größeren Freiraum. Wenn man schon die Kritik negiert, lobt man wenigstens das Poetische. Echte Kultur. 


Können wir ohne Interpretation kommunizieren?

In einem Artikel vom 12.11.10 in der NZZ schrieb Marta Kijowska zm Tod des polnischen Komponisten henryk M. Górecki:

"Nach so viel Rummel im Westen meldeten sich polnische Musikkritiker zu Wort, um die Frage nach Góreckis Inspirationsquellen zu beantworten. Sie nannten meistens drei: Natur, Folklore und Religion. Seine Musik, schrieb einer, sei gewiss keine Reaktion auf die Katastrophen dieser Welt. Überhaupt solle man ihr einfach ohne jeglichen Interpretationszwang vertrauen, sich von der Kraft ihrer Strukturen, ihrer Klangfülle und ihren Farben durchdringen lassen. Dem würde Henryk Górecki selbst wohl sehr schnell zustimmen. "Bevor ich sterbe", sagte er vor drei Jahren, "möchte ich erfahren, was die Musik ist. Denn in letzter Zeit lebe von dem Satz des Philosophen Leszek Kolakowski, sie sei ein Gast aus der anderen Welt.""

"Ohne jeglichen Interpretationszwang vertrauen" - Heißt das, immer noch interpretieren, aber ohne Zwang? Oder soll es heißen, sich etwas aussetzen ohne jede Interpretation? Es einfach es sein lassen, wie das Ding an sich, es nehmen, ohne jedes Denken und Deuten, einfach so. - Aber ginge das überhaupt? Alle Sinnesreize, alle Zeichen, die wir perzepieren, werden im Rezeptionsakt sofort und unwillkürlich "bewertet", also "gedeutet". Dieser Vorgang kann "Interpretation" genannt werden. Wir können nicht interpretationslos kommunizieren, weil wir keine dafür programmierten Maschinen sind.

Unbewusstes Wahrnehmen, also unter der Wahrnehmungsschwelle, könnte, da in seiner interpretationsmöglichen Bedeutung nicht erkannt, interpretationsloses Wahrnehmen genannt werden. Alles Wahrnehmen über der Wahrnehmungsschwelle kann nicht interpretationslos sein, weil jeder Kommunikationsakt Interpretation bedingt. Würden wir Zeichen als Reize interpretationslos wahrnehmen können, wären sie keine Kommunikationsteile. Das Ding an sich, dieses Etwas, das einem wirklich Objektivem entspräche, ist für uns nicht wahrnehmbar bzw. kommunizierbar, genauso wenig wie das Ganze oder Absolute. Nichts ist, wie es ist. Alles scheint, alles wird mit Sinn beladen, eingebettet in das Gerüst und die Inhalte des Wissens (inklusive der akkumulierten Erfahrungen). Könnte das "wie es ist" als solches wahrgenommen werden, müsste nicht nur, sondern dürfte es nicht mehr interpretiert werden, weil es dann nicht mehr wäre, was es eigentlich ist. Die Gewissheit, das Ganze, erübrigte bzw. verböte Interpretation. Der Wunsch nach interpretationsloser, interpretationsfreier Kommunikation ist ein Missverständnis unserer Kommunikationsmöglichkeiten, des Denkens und der Sprache.

Wann sollten oder könnten wir von Interpretationszwang sprechen? Wenn es einen Kanon gibt, kollektive Deutungsmuster? Aber ist da nicht die Sprache selbst schon ein Zwang? Welche Freiheit gewinnt jener, der die Sprache "meistert", "beherrscht", in ihr sich sicher bewegt, trotz ihrer Vorgabe? (Nietzsche: Jedes Wort ein Vorurteil!) Ist EIGENES Denken möglich, da wir doch ein kollektives Symbolsystem, die Sprache, nutzen? Wie entscheide ich, was ICH denke? Was ist übernommen, nachgedacht, nachgesprochen? Was ist der Kollektivanteil?

Kann ein Text nur als Text gelesen werden? Was heisst das, "nur als Text"? Wenn jemand einen Text liest, den er nicht versteht, obwohl er in seiner Sprache verfasst ist, ersieht er ihn zumindest als für ihn unverständlich. Wenn er ein einer ihm fremden Sprache geschrieben ist, erkennt er, dass es sich höchstwahrscheinlich um einen sprachlichen Text handelt, aber ihn einer Sprache, die er nicht kennt. Er kann keine Aussage dazu treffen. Aber in solchen Fällen handelt es sich nicht um "Lesen" oder "Lektüre", sondern Konfrontation mit einem Text, der eben entweder unlesbar bleibt bzw. gelesen, aber nicht verstanden werden kann. Dieser Text wird gerade deshalb also nicht "nur" gelesen, weil Lesen nicht nur das bedeutungslose Entziffern meint, sondern das sinnhafte Erfassen des Textes.

Musik als bloße Musik hören. Hier liegt der Fall ähnlich. Hört jemand ihm völlig fremde Musik, kann es sogar sein, dass er nur Geräusche hört, die er nicht als Musik deutet. Entspricht der Klanginhalt irgendwie den Hörgewohnheiten, mag er meinen, er höre Musik. Umgekehrt ist mancher in der Lage dort "Musik" zu hören, wo andere nur Geräusche vernehmen. Oder er hört Falschtöne, die anderen entgehen bzw., im Gegenteil, hört gar keine, obwohl welche zu hören gewesen wären, hätte er ein "geschultes" Ohr. Musik, wenn sie nicht in Liedform oder als Musikdrama "Botschaften" transportiert, vermittelt keine deutbaren Aussagen. Was wir musikalische Interpretation nennen, ist eher metaphorisch gemeint. Es betrifft das Deuten, Hineinlegen bzw. Heraushören, was aufgrund der Gefühlslage, der Hörgewohnheiten, der musikalischen Kenntnisse etc. gedeutet wird. Diese Interpretation muss bedingterweise vager und unverbindlicher sein, als die Textinterpretation, bei der ein Sinn festgemacht werden kann. Ist vom Text eine solches Textverständnis gar nicht angestrebt oder wird es verhindert (Nonsens), erfolgt die Deutung über die Form bzw. die Formen (Satzstruktur, Wort- und Klanggebilde, Rhythmus etc.). Aber auch der Nonsense, das Sinnlose, wird interpretiert.

Zur Bildung

Karl Kraus zur Bildung:

"Dass Bildung der Inbegriff dessen sei, was man vergessen hat, ist eine gute Erkenntnis. Darüber hinaus ist Bildung eine Krankheit und eine Last für die Umgebung des Gebildeten."

Sprache

2 Zitate zur Sprache von Karl Kraus:

"Das beste Deutsch hat zwischen zwei Fremdwörtern Raum."

"In keiner Sprache kann man sich so schwer verständigen wie in der Sprache."

Lit als Twit

Medien bestimmen als Form oft Inhalte. Das Telefon wirkte auf das Sprechen und Gesprächsverhalten ein, die Telegrafie erzeugte einen eigenen Telegrammstil. E-mails prägten das Schreibverhalten ebenso, wie später Twitter, das mit dem extrem begrenzten Platz zum Kurzschreib zwingt.

Die Reduktion kommt den meisten gelegen. Alles Wichtige lässt sich kurz sagen. Basta. Es ist wie mit der AKÜSPA, der Abkürzungssprache, die schon die Nazis pflegten: keine weitere Ausführung, Fokussieren auf das Nötigste. Kurz und bündig. Das haben die modernen Kommunikationsformen übernommen und ausgebaut, verfeinert. Die starke Stereotypisierung, die unabdingbare Klischierung, ist äußerst ökonomisch: spart Energie, Zeit und Platz. Steigert die Gesschwindigkeit.

Es ist auch eine Art Demokratisierung: Endlich können auch jene zu Wort kommen, die wenig oder nichts zu sagen haben, dies aber in ihrer Kurzsprech erfolgreich tun. Hohe Geschwindigkeit im Verbund mit Simplizität erobert die Welt.

Alles Ausgefeilte, Komplexe, Dichte und dergleichen ist Ballast, ist umständlich und unnötig. Bald wird es TWITLIT geben, Literatur in Kürzestform für Kurzdenker und Kurzleser, den Einfachmenschen. Das wird noch simpler sein, als die eindimensionale Welt des eindimensionalen Menschen (Herbert Marcuse) gewesen ist.

Dank der Beschleunigung rast der Fortschritt.

Rechte Trauer

"Wer trauert, hat recht", so der Titel des Beitrags von Andrea Köhler in der NZZ vom 19.3.11, mit dem Untertitel "Memoiren über den Tod eines geliebten Menschen haben in den USA Konjunktur."
Memoiren über den Tod? Bislang handelten Memoiren über das Leben und Sterben. Aber (nur) über den Tod? Was meint die Autorin? Welche Memoiren über den Tod könnten geschrieben werden?

Dann heisst es "Man ist abgeschieden von der Welt, der Wahrheit jedoch umso näher". Wie das? Jene, die nicht abgeschieden sind, die "voll" im Leben stehen, sind der Wahrheit ferne oder ferner? Welche Ideologie wirkt da ein, dass Wahrheit der Abgeschiedenheit bedürfe? Weshalb überhaupt das Konzept eines geistigen Ortes der Wahrheit? Ist Wahrheit nicht eine Bedingung und  Funktion? Hier soll sie eine Essenzialität sein, die in der Abgeschiedenheit existiert. (Darum verkrochen sich Eremiten und Asketen seit je in Höhlen und Wüsten, ganz einsam, ganz abgeschieden, um bei der Wahrheit zu sein. O je!)

Ohne Absicht Lügner

Im STANDARD vom 5.3.2011 war in der Kulturseite zu lesen: "Wir sind ohne Absicht enorme Lügner" - Interview mit dem Dramatiker Dennis Kelly, dessen Stück "Waisen" im Schauspielhaus Wien aufgeführt wurde.

Lüge bedarf der Intention, also der Absicht. Unabsichtliches Lügen gibt es nicht, ist ein Begriffswiderspruch. Eine unabsichtliche Falschaussage ist ein Irrtum. Der metaphorische Gebrauch verführt das Denken zur Nebulosität, zur Ungenauigkeit, zur Verwischung. Ganz entgegen dem Engagement des Autors.

Sonntag, 10. April 2011

verrückt - Ausgabe 5/2011 von Driesch

Die neue Ausgabe # 5 ist Ende März 2011 erschienen. Themenschwerpunkt: "verrückt".
Prosa, Lyrik und Essays auf deutsch und englisch sowie Beiträge auf  Xhosa, russisch, chinesisch, polnisch, slowakisch, spanisch, estnisch und niederländisch samt deutschen Übersetzungen. Illustriert mit Cartoons, Zeichnung und Fotografien.

Ein brandheisses Thema unserer turbulenten Zeiten! Norm & Abweichung - Ordnung & Chaos. Wer bestimmt und kontrolliert, wer entspricht und wer nicht? Ist Verrücktheit ein Abenteuer, frei gewählt oder ist es ein Leiden, schwer zu ertragen? Wie verrückt ist die sogenannte Normalität des Alltags? Wie unterscheidet sich diese verrückte Normalität von der definierten Abnormität?