Sonntag, 30. Oktober 2011

Das Buch als Objekt


The medium ist he message. Diese zum geflügelten Wort geronnene Erkenntnis wird leicht zu simpel verstanden. Sie entspricht einem kruden, grobschlächtigen Denken. Ihre Einfachheit ist für viele attraktiv. Die Hülle, die Verpackung, das Äußere, die Aufmachung signalisieren aber auch für „Kenner“ oft das Eigentliche. Einige meinen sogar, sie sei derart mit dem Gehalt, dem Inhalt verbunden, dass die Qualität des Inhalts davon abhänge. Auch in der Literatur.

So auch Roland Reuß:

Warum ein Buch selber stehen können sollte

An der Gestaltung der Bücher bemisst sich auch die Wertschätzung der darin vermittelten Inhalte

Nicht erst mit der Digitalisierung hat die Verwahrlosung des Buchdrucks begonnen. In der Krise des Buchdrucks spiegelt sich vielmehr die Krise des autonomen, selbständigen Intellekts.


Reuß, dessen „Im Zeithof – Celan-Provokationen“ (Frankfurt 2001) von einigen Kritikern als im in der Celan-Philologie typischen Stil eines „Großmeister des hohen Tons der priesterlichen Unterweisung“ daherkommend (Ernst Osterkamp) kritisiert, zeigt dort wie hier eine Forderung des „Schriftgelehrten“, der hohe Literatur sakralisiert als entferntes Kostbares behandelt und gedeutet sehen will. Der „normale“ Leser ist der falsche, es bedarf der ausgebildeten Eingeweihten.

Im Einleitungsabsatz seines Beitrags zum stehenden Buch sagt er:

„Nicht allein Bücher haben ihre Schicksale, auch das Buch selbst. Seine Geschichte ist eine der Wertschätzung des von ihm transportierten und präsentierten Gehalts – und man kann an seiner äusseren Gestalt wie an einem Massstab ablesen, wie sich Gesellschaften zu «Geist» überhaupt verhalten: ihn ehren, ihn für nebensächlich halten, ihn verachten. Denn wie der Wind, um sichtbar werden zu können, Widerstand, Materialität, braucht, so benötigen die Ergebnisse des Nachdenkens, der schöpferischen Phantasie, einen Körper, um sich anderen dauerhaft mitzuteilen. Um nachhaltig wirken zu können, reicht die Materialität des Lauts nicht aus. Der Gedanke drängt zur Schrift, wird zum Text und versammelt sich zuletzt im Buch. Und in seiner Gestalt, der Qualität der Verarbeitung, der Güte der verwendeten Materialien, antwortet die Gesellschaft auf das, was sie ihm verdankt.“

Natürlich gibt es Qualitätsunterschiede in der Buchherstellung, Aufmachung und Gestaltung. Aber der konservative Schöngeist geht zu weit. Seine These wertet Inhalte ab, tut so, als ob einfache Buchausgaben das Werk schädigen, nicht „richtig“ oder adäquat rüberbringen. Er bemüht Roland Barthes und Adorno als Zeugen, weint der hohen Qualität nach und geißelt das Internet.

Die Problematik des Internet in der Textvermittlung soll nicht bestritten werden. Das Phänomen E-Book hat gewiss Auswirkungen auf die Buchgestaltung und Leseverhalten. Aber die Prämissen und Schlussfolgerungen von Reuß sind zu einseitig. Er koppelt die jetzige „schlampige“ Buchgestaltung mit „geistiger Zerstörung.

„An der Entwicklung der Buchgestalt, am schärfsten an der des wissenschaftlichen Buches, kann man ablesen, dass die meisten Schreibenden von dem, was sie schreiben, nur mehr eine sehr geringe Meinung haben. Sie haben keinen qualitativen Massstab mehr, auch kein Selbstbewusstsein, das sie gegenüber Verlagen und Herstellern ins Feld führen könnten, um ihren Produkten auch ein menschenwürdiges Äusseres zu sichern. Dass Individuen überhaupt etwas bewirken, gar Wahrheit in den Blick nehmen könnten, ist als Utopie abgetan und als Abgetanes akzeptiert worden – obschon man gar nicht weiss, was eine Forschung leisten sollte, die unter solchen Voraussetzungen antritt.“

Hängt Eigenheit, Individualität und Würde derart an der Aufmachung, der Gestalt? Immer redet Reuß vom Objekt, nie vom Inhalt. Als ob dieser der höchsten qualitativen Form bedürfe, um erkannt werden zu können. Aber Literatur ist nicht Bildnis oder skulpturaler Artefakt, ist nicht Musik, wo die Form mit dem Inhalt zusammenfällt, außer es geht um Lieder, die eine Botschaft transportieren.

Weiter Reuß: „Die im Internet zutage tretende besinnungslose Selbstvermarktung gerade auch der Forschenden ist polierte Stromlinienförmigkeit, de facto praktizierte Selbstverachtung. Man achtet sich selbst gerade noch wie ein beliebiges verderbliches Lebensmittel, preist sich an, bietet sich feil und nennt das mit dem Zauberwort «Profil». Dem folgen die Mainstream -Bücher. Auch das hat Adorno schon 1963 beschrieben: «Die Autonomie des Gebildes, an die der Schriftsteller all seine Energie wenden muss, wird von der physischen Gestalt des Gebildes desavouiert. Hat das Buch nicht mehr die Courage zu seiner eigenen Form, dann ist auch in ihm selbst die Kraft angegriffen, die jene Form zu rechtfertigen vermöchte.»“

Was ist die dem Buch „eigene Form“? Die althergebrachte prachtvolle, teure? Goethes Werke im Taschenbuch ein Verrat, eine Demontage, eine Abwertung?

„Ohne diese Materialisation keine selbstbewusste menschliche Individualität, die uns als Vorbild dienen könnte, ohne diese wiederum keine menschenwürdige Entwicklung. Der Schwarm ist dagegen ein Schmarrn, die staublose Datei im Netz ein Tiefpunkt gewonnenen Wissens: Geist, gezeichnet von Anorexie. Die Vorstellung von Erlösung reduziert auf die eines Laserdruckers.“

Reuß sieht nur in der hohen Qualität die Möglichkeit für Individualität, die uns menschenwürdig erscheinen kann. Aus ihm spricht die Verachtung des Gewöhnlichen, der Ware. Aber in der Tauschgesellschaft gibt es keine Artefakte, die als Nicht-Ware, als Eigenheit, in Verkehr treten. Seine Abneigung dagegen ist verständlich, aber untauglich, unrealistisch.

Die handgeschriebenen Bücher und ihre Kopien bedingten geringe Zugangsmöglichkeit, begrenzten extrem den Leserkreis, schufen ein Klima des Exklusiven: das Terrain für die Auserwählten. Das Regime der Esoterik. Ein Fest für Schriftgelehrte. Roland Reuß verkennt die Aufklärung und kaschiert seine Abneigung dagegen nur vage mit seinen Qualitätsanforderungen. Er vertraut auch nicht den Inhalten. Er sieht den regulären Leser als unfähig zur Lektüre. Weshalb es eben der speziellen Aufmachung bedürfe, die Höhe und Erhaben indiziert, auf dass man dem „Stoff“ ehrfürchtig begegne.

Pralines, Parfums, teure Schmuckstücke werden für gewöhnlich in teuersten Verpackungen angeboten. Aber auch Kitsch. Die Industrie hat rasch gelernt, wie leicht Minderes sich in prächtiger Hülle einschmuggeln lässt. Zu leicht überträgt der Konsument den Ersteindruck auf die eigentliche Ware, das eigentliche Ding. Reuß fordert das für die hohe Literatur. Aber mündige Leser lesen, und schließen nicht simpel von der Gestaltung auf den Inhalt.

Man mache einen Test. Zum Beispiel Goethes „Faust“. Legen Sie eine billige Reclam-Ausgabe auf den Tisch, daneben eine in Leinen gebundene, zusätzlich noch eine in Leder mit Goldschnitt und Goldprägung. Laden Sie Leser ein zu lesen. Wenn verstehend gelesen wurde, wird jener, der sich nur der einfachsten Heftausgabe bedienen musste, keinen minderen Eindruck von der Dichtung haben, als jener, der sich die Prachtausgabe vornehmen durfte. Umgekehrt könnte es sein, dass jene, die teuer aufgemachte Bücher kaufen, diese nicht verständig lesen. Der Einstieg erfolgt nicht über die Gestaltung. Die Barriere liegt nicht im minderwertigen Taschenbuch. Es geht um den Leseakt, um die Beherrschung der Kulturtechnik Lesen. (Dass sich die mit dem E-Book verändert, ist ein anderes Problem. Aber auch dort ist verständige Lektüre möglich!)

Würde die Annahme von Reuß gelten, wären wichtige Texte, die in billigsten Kopien kursierten (Samisdat), unerheblich. Aber die gewählte, bedingte Form beschädigte nicht ihren Inhalt. Im Gegenteil, sie hielt ihn am Leben, transportierte ihn. Die Alternative wäre nur Schweigen gewesen. Ähnlich mit dem Massenprodukt Buch in preisgünstigen Ausgaben. Soll darauf verzichtet werden, damit der hehre Gehalt nicht abgewertet werde? Reuß äußert ein Herrendenken, das überholt ist.


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