Montag, 15. August 2011

Dichterwort

Zwei Beispiele:
1.
"Ein Freund, der zur Besatzungstruppe in Frankreich gehörte, erzählte, er wäre nach dem Zusammenbruch des Hitlerregimes nur deshalb nicht von den Partisanen erschossen worden, weil er sich in der marxistischen Ideologie auskannte.
Viel länger ist es her, dass die Syrakusaner nach der Niederlage des Nikias diejenigen griechischen Gefangenen entließen, die etwas aus dem Euripides zitieren konnten.
Ob heute jemand von uns vor Gericht freigesprochen werden könnte, weil er Goethes Urworte auswendig weiß?
Es gibt auch gegenwärtig Menschen, die Gedichte ernst nehmen. (...) Man geht von dem Unterschied zwischen passivem und aktivem Leser aus, in der Erkenntnis, dass ein Produkt, welches mit den ersten besten Reaktionen, den Antworten von der Stange rechnet, keine Kunst sei. Man fragt, was ein gutes von einem schlechten Gedicht scheide, ob ein Stoff an sich poetisch oder unpoetisch sein könne oder ob nur die Wirkung einer Darstellung darüber befinde. (...)
Man ist unzufrieden mit der Vereinfachung, das dichterische Wort sei emotionellen, das wissenschaftliche rationellen Charakters. ...
Wilhelm Lehmann: Poetische Grundlage (Beginn des Essays. In: W. L.: Kunst des Gedichts. Insel-Verlag 1961

2.
Kaum jemand wäre wohl noch zum Memorieren zu bringen; aufs Geistlose, Mechanische daran beriefe sich bereits der Geistloseste. Aber durch solche Prozesse wird dem Geist etwas von der Nahrung entzogen, an der er sich erst bildet. Der Glaube an den Geist mag den theologischen ins Wesenlose säkularisiert haben, und wenn ihn die sogenannte junge Generation verschmäht, so zahlt sie ihm heim, was er seit je verübte. Aber wo er, seinerseits Ideologie, fehlt, dämmert eine schlimmere herauf.

Der Sozialcharakter, den man mit einem selber höchst anrüchigen Wort auf deutsch geistiger Mensch nennt, stirbt aus.

Der vermeintliche Realismus jedoch, der ihn beerbt, ist nicht näher zu den Sachen, sondern lediglich bereit, unter Verzicht auf toil and trouble, die geistige Existenz komfortabel einzurichten und zu schlucken, was in ihn hineingestopft wird.

Weil kaum mehr ein Junge sich träumt, einmal ein großer Dichter oder Komponist zu werden, darum gibt es wahrscheinlich, übertreibend gesagt, unter den Erwachsenen keine großen ökonomischen Theoretiker, am Ende keine wahrhafte politische Spontaneität mehr.

Bildung brauchte Schutz vorm Andrängen der Außenwelt, eine gewisse Schonung des Einzelsubjekts, vielleicht sogar die Lückenhaftigkeit der Vergesellschaftung. "Ich verstand die Sprache des Äthers, die Sprache der Menschen verstand ich nie", schrieb Hölderlin; ein Jüngling, der so dächte, würde hundertfünfzig Jahre später verlacht oder seines Autismus wegen wohlwollender psychiatrischer Betreuung überantwortet.

Wird aber der Unterschied zwischen der Sprache des Äthers, also der Idee einer wahren Sprache, der der Sache selbst, und der praktischen der Kommunikation nicht mehr gefühlt, so ist es um Bildung geschehen.
Theodor W. Adorno: Theorie der Halbbildung. In: Soziologische Schriften I

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