Sonntag, 24. April 2011

Atomisiertes Chaos

"Wie sieht nun der Philosoph die Cultur in unserer Zeit an?" "Fast ist es ihm, als ob er die Symptome einer völligen Ausrottung und Entwurzelung der Cultur wahrnähme, wenn er an die allgemeine Hast und zunehmende Fallgeschwindigkeit, an das Aufhören aller Beschaulichkeit und Simplicität denkt."
"Niemals war die Welt mehr Welt, nie ärmer an Liebe und Güte."
"Alles dient der kommenden Barbarei, die jetzige Kunst und Wissenschaft mit einbegriffen."
"Dass die Einzelnen sich so gebärden, als ob sie von allen diesen Besorgnissen nichts wüssten, macht uns nicht irre: ihre Unruhe zeigt es, wie gut sie davon wissen; sie denken mit einer Hast und Ausschliesslichkeit an sich, wie noch nie Menschen an sich gedacht haben, sie bauen und pflanzen für ihren Tag, und die Jagd nach Glück wird nie grösser sein als wenn es zwischen heute und morgen erhascht werden muss: weil übermorgen vielleicht überhaupt alle Jagdzeit zu Ende ist. Wir leben die Periode der Atome, des atomistischen Chaos."
Nietzsche: Schopenhauer als Erzieher

Kulturfilosofie, als sie noch nicht so genannt wurde. Die Entwurzelung als Ursache der nervösen Hast, der unbändigen Gier, des geifernden Eifers im Profit- und Machtstreben. Parallel zur Entwurzelung gilt das Ende der Beschaulichkeit und das der Simplizität als Negativum, als Krankheitsherd. Das heißt, die hohe Beschleunigung, die keine Reflexion, kein Überdenken und Zurücktreten, Beschauen mehr erlaubt, ist einerseits Motor für den bornierten Vorwärtsblick der Getriebenen, andererseits die gestiegene Komplexität, weil sie das Einfache, das Überschaubare nicht mehr bietet. Die ist aber nötig, weil der Mensch das hoch Komplexe nicht durchschauen kann, weil er sonst hilflos im Abstrakten sich verliert. Da er aber nicht tatenlos verbleiben kann, deutet er das Komplexe simpel, schafft sich eine irrige Simplizität, die aber gefährlicher ist als die offensichtliche, die nur vorderhand, stellvertretend als Vereinfachung geholfen hätte zu bedenken, sich klar zu werden, zu orientieren.

Dieses Missverhältnis, diese falsche Orientierung führt bedingterweise in falsche Unruhe, eben die Nervosität der Moderne, wie sie den atomisierten Nichtpersönlichkeiten, den Massenmenschen eigen ist, die keine Sammlung, keine Konzentration, kein Persönliches als Wesentliches mehr erlaubt und zur unbedachten, gedankenverlorenen Betriebsamkeit führt.

Nietzsche sieht die Gefahr des Verderbens, weil es sich um einen falschen, fehlgeleiteten Egoismus handelt, die Hast dem sinnlosen Rennen des Hamsters im Laufrad gleicht. In Bewegung, aber nicht  fortkommend.

(So müsste man auch den Terminus "Fortschritt" vielleicht besser mit "Laufschritt" oder "Weiterschritt" übersetzen.)

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